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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1008-1009

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Friedrich, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Der Ungrund der Freiheit im Denken von Böhme, Schelling und Heidegger.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2009. VIII, 262 S. 8° = Schellingiana, 24. Kart. EUR 82,00. ISBN 978-3-7728-2496-8.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Die drei Kapitel von Friedrichs Studie zeichnen sich gleichsam durch ein Einkreisen der Thematik des »Ungrundes« bei Jakob Böhme, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Martin Heidegger aus und sind vielfach inhaltlich miteinander verbunden. Klare Abgrenzungen sind aufgrund des insgesamt eher essayistischen Stils nur schwer möglich. Für die Auslegung von Böhme und Heidegger dürfte F.s Studie anregend sein. Doch den Schwerpunkt bildet eindeutig die Beschäftigung mit der »Freiheitsschrift« Schellings. Über ein Personenregister sind die Bezüge sorgfältig erschlossen.
Schellings »Freiheitsschrift« aus dem Jahr 1809 steht seit ihrer wirkmächtigen Auslegung in Heideggers Vorlesungen von 1936 und 1941 in dem Ruf, der Höhepunkt des Deutschen Idealismus zu sein (1–34.90). Mit diesem Höhepunkt verbindet sich Heidegger zufolge das Scheitern der abendländischen Metaphysik und damit das »Wetterleuchten eines neuen Anfangs« (Heidegger). Insbesondere der von Böhme geprägte Begriff des »Ungrundes« ist in Schellings »Freiheitsschrift« wichtig, wie F. hervorhebt: Der Ungrund markiert als der letzte Einheitshorizont auch für den Gottesgedanken und dessen Selbstausdifferenzierung – im Sinn von Schellings innergöttlicher Unterscheidung von »Grund« und »Existenz« in der »Freiheitsschrift« – buchstäblich eine Grenze des Denkens: Das Denken kann sich nicht mehr in einem letzten Grund seiner selbst vergewissern. Das Denken verliert seinen Grund (5.28 ff.45–60). Das Denken ist auf das Andere seiner selbst verwiesen, das sich aber anders als bei Hegel nicht in Form einer negativen Selbstbeziehung als seine eigene Selbsterscheinung verstehen lässt. Insofern ist für F. die Hegel-Kritik Schellings berechtigt, dass Hegel prinzipiell nicht über Schellings eigene Identitätsphilosophie hinausgekommen ist (35–44.215–237). Das Denken ist nach Schellings »Freiheitsschrift« auf etwas verwiesen, das sich dem Willen des Denkens zur Selbstbegründung entzieht – und gerade so das Denken allererst ermöglicht. So wird der Ungrund als Freiheit, und zwar als eine sich selbst entbergende Kontingenz begreiflich (22 ff.79–125). In der Seins-Gelassenheit dieser Freiheit wird nach F. eine platonisch inspirierte Revision der traditionell christlichen »creatio ex nihilo« denkbar und die Selbstfixierung der neuzeitlichen Metaphysik im Sinn eines Sich-selbst-Wollens der neuzeitlichen Subjektivität relativiert (60–78.142–171.189 ff.209–214).
Aufgrund der letzteren Einsicht leuchtet F. auch Heideggers Diagnose der teilweisen Vorwegnahme seiner eigenen Einsichten bei Schelling ein. Nach F. zieht Heidegger insbesondere aus Schellings zeittheoretischen Überlegungen mehr Gewinn, als Heidegger zugibt. Schelling ist gleichsam weiter, als Heidegger vermutlich aus philosophiegeschichtlichem Eigeninteresse einzuräumen be­reit ist (14.92–102.185–208). Zentral ist für F. die Einsicht Schellings, dass Gott erst in seinem menschlichen »Gegenbild« (Schelling) so zu sich selbst kommt, dass seine ungründige Freiheit in die Wirklichkeit eintritt. Erst im Bild des Menschen wird der göttliche Blick seiner selbst inne, wie F. die Überlegungen Schellings in cusanischem Sprachgebrauch zusammenfasst. Insofern ist der Mensch der Lichtblick Gottes und die Stätte göttlicher Lichtung; noch Heid­eggers Wahrheitsbegriff als Unverborgenheit erinnert daran (113–208). In der menschlichen Bildlichkeit einschließlich deren Fähigkeit, sich ihrerseits wieder schöpferisch der Welt einzubilden, erfolgt die entscheidende »Evolution Gottes«, wie Schelling vor Charles Darwin sagen kann (95 f.180 ff.). In dieser Fluchtlinie meint F. auch, Schellings Spätphilosophie begreifen zu können – und grenzt sich folgerichtig gegen die Schelling-Deutung von Walter Schulz ab (32 ff.167 f.181 f.).
Angesichts von F.s Deutung sind m. E. drei Fragen naheliegend. Was ist erstens mit den zwischenzeitlich in der Schelling-Forschung aus der Mode geratenen Thesen von der Böhme-Abhängigkeit und der Heidegger-Verwandtschaft Schellings argumentativ gewonnen? Und ist zweitens der »Ungrund« als paradoxer Letztgrund plausibel? Denn ohne eine nachvollziehbare Entwicklung der Differenzen aus dem Ungrund wird dieser Bezugspunkt schwer verständlich. In Anlehnung an Walter Schulz formuliert: Sicher gibt es bei Schelling eine systemisch uneinholbare Freiheit. Doch sie ist gerade keine letztlich unvermittelt aufbrechende Unmittelbarkeit, sondern gleichsam der blinde Fleck letzter Selbstvermittlung, wenn die Theorie nicht vollständig Element ihrer selbst sein kann. Und bietet nicht drittens genau deswegen Schellings Spätphilosophie einen Neuansatz? Hier tritt an die Stelle des Ungrundes der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch: Sein durchsichtiger Selbstvollzug als Möglichkeit enthält die Wirklichkeit von Bestimmtheit. So steht das Absolute nicht unter einem freiheitstheoretisch problematischen Realisierungszwang – und grundsätzlich wird die prinzipientheoretische Reflexion nachvollziehbar relativiert. Modal abgestuft und hegelkritisch wird mit der prinzipiellen (!) Möglichkeit im Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ein letzter Einheitspunkt gesetzt, aus dem eine freie Entwicklung von schlechthin »etwas« denkbar wird.