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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1005-1006

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

MacDonald, Neil B., and Carl Trueman [Eds.]

Titel/Untertitel:

Calvin, Barth, and Reformed Theology.

Verlag:

Milton Keynes-Colorado Springs-Hyderabad: Paternoster 2008. XIII, 181 S. gr.8° = Paternoster Theological Monographs. Kart. £ 19,99. ISBN 978-1-84227-567-2.

Rezensent:

Matthias Gockel

War Karl Barth (1886–1968) ein reformierter Theologe? Die Frage scheint müßig, ist aber berechtigt. Als Student wurde Barth vor allem durch liberale lutherische Theologen geprägt. Während seines Vikariats in Genf predigte er zu Neujahr 1910: »Calvins Auffassung von der Autorität der Bibel wäre für uns eine Unwahrhaftigkeit« (E. Busch, Karl Barths Lebenslauf, 66). Als Honorarprofessor für Reformierte Theologie in Göttingen (1921–25) trug er mehrere polemische Kontroversen mit reformierten Theologen aus. Im Vorwort zu KD III/4 (1951) resümmiert er: »Daß die Neo-Calvinisten in den Niederlanden und anderwärts nicht zu meinen Gönnern gehören, habe ich nun auf allen Stufen meines … Weges zur Kenntnis nehmen müssen«. Wiederkehrende Streitpunkte waren Barths »modernistische« Sicht der Schrift und seine Neigung zum Universalismus (vgl. Cornelis van Til, The New Modernism. An Appraisal of the Theology of Barth and Brunner, 1946).
Ein orthodox Reformierter war Barth nicht, und dass er keine Repristination betreibt, darf als bewiesen gelten. Viele Beobachter sind sich gleichwohl einig, dass seine Theologie reformiert ist. Oder hat er mit der Revision der zentralen Lehrstücke von der Erwählung und der Versöhnung die reformierte Tradition hinter sich gelassen?
Wird dies bejaht, dann ergibt sich die Möglichkeit eines »fruchtbaren Dialogs« zwischen »traditionellen, an Calvin orientierten« Vertretern des »reformierten Glaubens« und denjenigen, die Barths »Rekonstruktion der reformierten Theologie« schätzen (XIII). Die sieben Aufsätze im o. g. Band befördern diesen Dialog und leisten damit einen originellen Beitrag zur Erweiterung des Horizonts heutiger evangelischer Theologie, auch im deutschsprachigen Be­reich.
Carl Trueman skizziert einleitend den historischen Rahmen. Der reformierte Protestantismus zeichnete sich früh durch kulturelle Vielfalt aus. Gleichzeitig blieb seine Theologie, trotz der Un­terschiede im Detail, bis zum Ende des 17. Jh.s geprägt durch »grundlegend augustinische Vorstellungen von Sünde, Gnade und Prädestination« (9). Barths Theologie pflege den intensiven Dialog mit reformierten Traditionen, habe aber mit ihren »umfassenden Rekonstruktionen« die »alten konfessionellen Bahnen« verlassen (26).
Trevor Hart widmet sich dem Abendmahl, Anthony Cross der Taufe. Beide favorisieren Calvins Position. Hart bemerkt, dass das Abendmahl für Calvin seine Bedeutung durch eine göttliche, der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit sich anpassende »Zeichensetzung« (32) erhält. Es gebe eine sakramentale Art der Gegenwart Christi in der Abendmahlshandlung (nicht nur »in und unter Brot und Wein«) und unserer Einheit mit ihm. Dagegen spricht Barth von der Gegenwart Christi in seiner Gemeinde, die keiner be­sonderen eucharistischen Vergegenwärtigung bedarf. Das Abendmahl ist eine »auf die Präsenz Jesu Christi in seinem Selbstopfer antwortende und seiner Zukunft entgegenblickende Danksagung« ( KD IV/4, IX) und gehört zur Ethik der Versöhnungslehre. Das gilt auch für die »Taufe mit dem Heiligen Geist« als Konstitution des christlichen Lebens, der die »Taufe mit Wasser« als antwortendes Zeugnis des Glaubens korrespondiert. Cross räumt ein, dass Barths Kritik der Kindertaufe konsequent ist, moniert aber, wie viele vor ihm, die »radikale Unterscheidung« (79) im Taufbegriff. Die Probleme lassen sich m. E. lösen, wenn man die Geisttaufe als Wiedergeburt deutet (im Sinne von Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 107).
Neil McDonald preist Barths narrative Versöhnungslehre. Ihr juridischer Rahmen entspreche den synoptischen Passionsberichten, in denen das von Jesus verkündigte eschatologische Gericht Gottes über Israel und die Welt zum Gericht Gottes (mittels der jüdischen und römischen Autoritäten) über Jesus werde. Jedoch ist Jesus Christus für Barth nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des göttlichen Gerichts. Myron Penner verteidigt Calvins Heilspartikularismus gegen Barths Erwählungsuniversalismus (Erwählung und Verwerfung in Christus, zugunsten aller Menschen). Er bedient sich ferner einer verbreiteten Fehldeutung des decretum horribile (Institutio III.23.7) auf die Verwerfung statt auf Gottes Anordnung von Adams Fall und dessen Folgen für die ganze Menschheit.
Stephen Holmes bietet eine präzise Sicht auf das Schriftverständnis Calvins und dessen christologische Prägung, in der beide Testamente »in terms of substance« (154) gleich sind. Die »Akkomodation« des Wortes Gottes an unseren begrenzten Verstand hat hermeneutische Konsequenzen: Divergente Aussagen der Schrift können abgewogen werden, Diskrepanzen zwischen biblischen und naturwissenschaftlichen Aussagen sind erklärbar als Folge göttlicher Zulassung. Gleichzeitig schenkt der Geist das Vertrauen, dass Gott uns in Christus sein wahres Wesen zeigt: »there is nothing of God that is not incarnate in Christ« (161). Craig Bartholomew beklagt die verbreitete akademische »Kluft« (171) zwischen Exegese und Theologie. Dagegen setzt er die Gemeinsamkeiten von Calvin und Barth, insbesondere ihre Interpretation der Bibel als Zeugnis der Offenbarung und »Gottes Anrede« (164), die nicht hinter oder über, sondern in den Worten des Textes zu finden sei.