Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1004-1005

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Leiner, Martin, u. Michael Trowitzsch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Karl Barths Theo­logie als europäisches Ereignis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 436 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-525-56964-1.

Rezensent:

Rudolf Smend

Vier Jahrzehnte nach Karl Barths Tod ist die Sichtung seines Erbes in vollem Gang, und man geht gewiss nicht fehl, wenn man ihr noch weitere Jahrzehnte voraussagt. Eine Hauptrolle spielen dabei in unserer kommunikationsfreudigen Zeit, wenigstens nach au­ßen, die Tagungen. Eine offenkundig besonders reichhaltige und anregende, »workshop« genannt und von der European Science Foundation finanziert, behandelte vom 25. bis 27. Mai 2006 in Jena »Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis«. Die meisten dort gehaltenen Vorträge enthält der Band. Er gliedert sich in drei Teile: A. Grundlegendes, B. Länderstudien, C. Konstellationen.
»Grundlegend« ist zunächst eine feinsinnige Beobachtung von fünf »Momenten der Eigenart der Theologie Barths« aus M. Trowitzschs Feder. Es handelt sich um »Deutlichkeit, Aufgeschlos­senheit, Erwartung, Konfrontation, Höhe«. Der erste eigentliche Aufsatz, »Barth in Übersetzung« von H.-A. Drewes, figuriert im In­haltsverzeichnis unter A, im Text unter B; A passt besser, denn was hier zugleich prinzipiell und materialreich zu Barths Sprache, zur Barthübersetzung und -rezeption und zur Übersetzung in die Sprache der praktischen Erkenntnisse gesagt wird, ist in der Tat »grundlegend« und verdient aufmerksame Lektüre. Als Einzelheit sei der Eindruck notiert, dass die »Kirchliche Dogmatik« in der englischen Übersetzung leichter zugänglich ist als im deutschen Original, und die daran geknüpfte Vermutung, darin liege » eine, natürlich nicht die, Erklärung dafür, dass Barth heute in den angelsächsischen Ländern anscheinend im ganzen intensiver und vielleicht auch engagierter studiert und erforscht wird als in deutscher Sprache« (27).
Die »Länderstudien« betreffen neun Bereiche: Belgien, Frankreich und Französische Schweiz (B. Bourgine, D. Schneider), Dänemark (H. V. Mikkelsen), DDR (M. Gockel, M. Leiner), Italien (C. Danani), Niederlande (S. Hennecke, G. Neven), Norwegen (K. Hafstad), Rumänien (A. Ferencz, V. Cristescu), Tschechien (I. Štefan), Ungarn (S. Fazakas). Eine empfindliche Lücke, auch angesichts der oben mitgeteilten Vermutung von H.-A. Drewes, bedeutet das Fehlen Großbritanniens; mit Hilfe von A.-K. Finkes Buch »Karl Barth in Großbritannien« (Göttingen 1995) hätte sich unschwer eine prägnante Darstellung geben lassen, die das Gesamtbild wesentlich ergänzt und abgerundet hätte. Aber ein wirkliches Gesamtbild wäre auch damit nicht entstanden, und vielleicht war es bei dem Unternehmen überhaupt nicht intendiert. Eine einigermaßen geordnete Übersicht über Barths Beziehung zu dem jeweiligen Land geben, verschieden ausführlich und verschieden akzentuiert, Schneider, Gockel/Leiner, Hennecke, Hafstad, Ferencz (für die Zeit nach 1945), Štefan und Fazakas (zentriert um 1948). Auf die Rezeptionsprobleme der Barthschen Hermeneutik in ihrem Bereich konzentrieren sich Bourgine und Danani, auf eine bestimmte Persönlichkeit (Noordmans) Neven, auf deren zwei (Løgstrup und Prenter) Mikkelsen; die Abhandlung von Cristescu über Barths Stellung zur Christologie ist vermutlich wegen der Nationalität des Autors unter »Rumänien« eingeordnet worden. Diese ganze Gruppe von Aufsätzen hätte auch im dritten Teil, »Konstellationen«, ihren Platz finden können, ebenso wie sich umgekehrt mehrere der »Konstellationen« in den »Länderstudien« hätten unterbringen lassen. Barths Bezugspersonen sind dort Buber ( H.-C. Askani), Przywara (C. Chalamet), Miskotte (M. Hailer), Kierkegaard (E. Harbsmeier), T. Rendtorff/F. Wagner/F. W. Graf (St. Holtmann) und die drei unter der Überschrift »lutherische Theologen in Deutschland« originell zusammengestellten Paare Ebeling/Peters, Rendtorff/Pannenberg, Joest/Iwand (E. Maurer). Ein vergleichsweise handfestes Thema ist »Karl Barth und die Politik« (M. Beintker), heute gehört offenbar unabdingbar die »Genderperspektive« (R. Heß) dazu, in luftige Höhen führen die Schlussbeiträge über »Barth und die Moderne« (A. M. Reijnen mit »Überlegungen aus der bildenden Kunst«) und »Barth und die Postmoderne« (Ph. Stoellger), nachdem bereits Maurers Aufsatz die Überschrift »Karl Barth als Theologe der Neuzeit« trug.
Den Veranstaltern und Herausgebern gebührt das Verdienst, vielerlei und meist Lesenswertes zusammengebracht zu haben, das man jetzt bequem zur Hand hat. Ergeben die multa auch ein multum? Das Vorwort erhofft einen »Bestimmtheitsgewinn« im Blick auf Barths Theologie, teilt darüber aber nichts Bestimmtes mit – was der Leser gut verstehen kann. Zwei Anmerkungen äußerlicher Art: 1. Ein Autorenverzeichnis, möglichst nicht allzu lakonisch, wäre gerade in diesem Fall zur Orientierung nützlich gewesen. 2. Der Band enthält ungewöhnlich viele Druckfehler.