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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

994-996

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Gatz, Erwin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Katholizismus seit 1945. Bd. 6: Lateinamerika und Karibik. Hrsg. v. J. Meier u. V. Straßner.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. XXIII, 559 S. m. Ktn. u. Tab. gr.8°. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-506-74466-1.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Die beiden ersten Bände dieser Reihe wurden von Kurt Nowak in der ThLZ vorgestellt (124 [1999], 766, bzw. 126 [2001], 794), die Bände 3 bis 5 vom Verfasser auch dieser Rezension (131 [2006], 1169–1172). Die beiden Herausgeber des sechsten Bandes sind Johannes Meier, Lateinamerikaexperte und katholischer Theologe, sowie Veit Straßner, zur Zeit der Erstellung des Bandes Mitarbeiter am Lehrstuhl Meiers in Mainz.
Lateinamerika gilt als katholischer Kontinent und ist es doch nicht mehr, denn der Protestantismus ist, vor allem durch die Pfingstbewegung, erheblich angewachsen. Dies kommt in dem vorliegenden Band an mehreren Stellen zur Sprache, und zwar durchaus mit Sympathie für die darin steckende Dynamik und die individual- und sozialethischen Anteile der von den protestantischen Kirchen verkündeten Heilsbotschaft. Allerdings werden auch die negativen Facetten angesprochen: Vor allem in politischer Hinsicht sind manche Prediger doch auch Verkünder eines antiemanzipatorischen Weltbilds. Geradezu skurril ist andererseits, dass der weit verbreitete Vodou-Kult auf Haiti ein retardierendes Moment für die Ausbreitung des Protestantismus bildet, da protes­-tantische Kirchen ihn verwerfen und zu seiner Ausübung die katholische Taufe nötig ist (237). Der Erfolg der konfessionellen Konkurrenz ist darum auch für manchen der Autoren Anlass für eine Analyse der eigenen Versäumnisse und der Frage, warum der Katholizismus trotz der Befreiungstheologie volksmissionarisch ins Hintertreffen geraten sei. Andererseits leben in Lateinamerika und der Karibik 43 % aller Katholiken auf der Welt, ein Faktum, das erhebliche Auswirkungen auf die Weltkirche hatte, wie vor allem die Konflikte um die Befreiungstheologie zeigen.
Den Darstellungen zu den einzelnen Ländern vorgeschaltet sind zwei Kapitel, die »Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert« (Johannes Meier und Veit Straßner) und die »Theologiegeschichte Lateinamerikas seit 1945« (verfasst von dem chilenischen Theologen Sergio Silva). Hier wird auch die Epochengrenze 1945 kritisch reflektiert: Das Neue besteht darin, dass die katholische Kirche in den 1940er und 1950er Jahren »wachsendes Selbstbewusstsein und ihr eigenes, unverwechselbares, lateinamerikanisches Profil ausbildete« (2). Dementsprechend wird die Geschichte der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) angesprochen, ebenso die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sein Grundanliegen wurde in die »Option für die Armen« übersetzt, die in befreiungstheologischer Zuspitzung nicht unumstritten war und ist. Daraus ergeben sich Folgerungen für die Theologiegeschichte: Sie ist mehr als die Geschichte akademischer Theologie, sondern die Geschichte einer sich kontextualisierenden Theologie, zumeist also die der Befreiungstheologie, deren Entwicklung und deren Krisen in einem konzisen Überblick nachgegangen wird.
Auf die beiden Eingangskapitel folgen vier Teile zu den 21 be­schriebenen Ländern: »Mexiko und Zentralamerika«, »Die Karibik«, »Die Andenstaaten«, »Die Staaten des Cono Sur und Brasilien«. Die Autoren stammen zum großen Teil aus den Ländern, über die sie schreiben; über sie wird im Anhang Auskunft gegeben, und damit ist auch ein Manko der vorangegangenen Bände der Reihe behoben. Statistische Angaben zu den einzelnen Ländern sind angehängt, beigegebene Karten erleichtern die Orientierung. Die in den Eingangskapiteln gezogenen Linien finden sich in den einzelnen Teilen bzw. in den ihnen zugeordneten Länderkapiteln wieder. Schlüsselereignisse sind die lateinamerikanischen Bischofskonferenzen, deren erste 1955 in Rio de Janeiro stattfand. Von besonderer Bedeutung aber waren die Konferenzen von Medellín 1968 und Puebla 1979, bildeten sie doch die Motoren für die »Option für die Armen«. Überall nehmen auch die Konflikte um die Befreiungstheologie breiten Raum in der Kirche ein. Von übergreifendem Interesse und im Zusammenhang mit den Konflikten um die Befreiungstheologie stehend sind die Beziehungen nach Rom. Die Rolle der Orden gehört ebenfalls zu den Querschnittsthemen.
Landestypische Entwicklungen sind natürlicherweise nicht zuletzt abhängig von der politischen Entwicklung, die jeweils in einem Überblick dargestellt wird, so dass eine zeitgeschichtliche Einordnung kirchengeschichtlicher Entwicklungen möglich ist. Ohne die Kenntnis dieser zumeist dramatischen Hintergründe ließe sich das Agieren der Orden, Priester, Laien und Kirchen insgesamt auch kaum verstehen. Zugleich sind Rückblicke ins 19. Jh., also in die Entstehungsgeschichte der lateinamerikanischen Na­tionalstaaten, unabdingbar, da aus dieser Zeit die Konfliktlage stammte, die, aus den kolonialen Mutterstaaten importiert, das Verhältnis von Staat und Kirche bis weit ins 20. Jh. hinein bestimmte: Die neuen Staaten übernahmen das Patronat der spanischen bzw. portugiesischen Könige und zugleich etablierte sich ein »liberaler«, militanter Antiklerikalismus. Bemerkenswert friedlich wa­ren demgegenüber die Verhältnisse in Costa Rica. Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche konnten oft erst in dem hier behandelten Zeitraum in beiderseitigem Interesse geregelt werden.
In unterschiedlicher Gewichtung zur Sprache kommen innerkirchliche Entwicklungen wie die des Schul- und Bildungswesens oder Frömmigkeitsformen. Aufschlussreich sind Informationen zur kirchlichen Statistik und Organisationsgeschichte. Auf die Laien wird – den theologischen Entwicklungen entsprechend – immer wieder besonders eingegangen. Die Frage der Inkulturation christlicher Inhalte und Frömmigkeitsformen wird an manchen Stellen aufgenommen. Insgesamt entsteht der Eindruck, als träten solche Themen oft hinter die Darstellung der politischen und sozialdiakonischen Rolle der Kirche zurück. Diese Gewichtung lässt sich andererseits aus der Sache selbst erklären: Auch Kirchengeschichtsschreibung ist kontextuell.
Dass die Kirchen in den unterschiedlichen Ländern unterschiedlich mit den Militärdiktaturen umgingen und innerhalb der Kirchen große Spannungen in dieser Frage aufbrachen, wird immer wieder deutlich: Die Bandbreite reichte von Anpassung bis Widerstand. Auch ohne eigene Initiative aber bekam die Kirche die Rolle des Mahners und Störenfrieds, ja die des politischen Gegners zugewiesen und hatte vom kleinbäuerlichen Mitglied bis zum Erzbischof Opfer staatsterroristischer Gewalt zu beklagen. Beispiele wie El Salvador oder Nicaragua treten, nun schon aus zeitgeschichtlicher Distanz, neu ins Bewusstsein. In den auf die Diktaturen folgenden Befriedungs- und Transitionsprozessen spielten die Kirchen ebenfalls eine unterschiedliche, zumeist aber eine wichtige Rolle, die ihre Position als zivilgesellschaftliche Akteure bestärkte. Der hohe Grad der Präsenz politischer und sozialer Fragen im kirchlichen Leben brachte weiterhin ein spannungsreiches inneres Leben der Kirchen in den einzelnen Ländern mit sich; die Einheit wurde eher von außen, von Rom aus, symbolisch dargestellt.
In der nun auf sechs Bände angewachsenen Reihe ist dieser Band von besonderem Engagement für Gegenwartsfragen geprägt. Ge­walt, Ungerechtigkeit, Korruption, Offiziere und Soldaten, die alles andere als Staatsbürger in Uniform sind, und das, was man bad governance nennt, sind ja immer noch in vielen Staaten an der Tagesordnung. Dass es auf evangelischer Seite kein Pendant zur Reihe gibt, macht sich allmählich schmerzlich bemerkbar.