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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

991-993

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ansorg, Leonore, Gehrke, Bernd, Klein, Thomas, u. Danuta Kneipp [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989).

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2009. 394 S. gr.8° = Zeithistorische Studien, 40. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-412-14306-0.

Rezensent:

Ehrhart Neubert

Den Texten des Sammelbandes liegt eine Tagung des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam im Jahre 2005 zugrunde. Das zentrale Anliegen der Herausgeber, Leonore Ansorg, Bernd Gehrke, Thomas Klein und Danuta Kneipp, ist der Versuch, Wege zu einer gesellschaftsgeschichtlichen Oppositionsforschung aufzuzeigen. In der »Einheit von Struktur-, Prozess- und Akteursanalyse« soll die »Opposition als Teil der Gesellschaft« und damit auch der »Oppositionsbildungsprozess« (34) als sozial bedingt erkennbar werden. Auch sollen die sich gegenseitig bedingenden Faktoren und Entwicklungsprozesse von Repression und Opposition in einer aufeinander bezogenen sozialen Kommunikation herausgearbeitet werden.
Der Anspruch, damit einen neuen Zugang zur Oppositionsgeschichte zu eröffnen, ist allerdings hochgegriffen. Tatsächlich gibt es neben ereignisgeschichtlichen Darstellungen eine Fülle von Ar­beiten, die selbstverständlich den gesellschaftlichen Bezug oppo­-sitioneller Aktivitäten im Blick haben. Das gilt besonders für die vorliegenden Darstellungen von Handlungsmöglichkeiten Oppositioneller, die stets die in verschiedenen Zeiten unterschiedlich vorhandenen Spielräume aufspürten, nutzten und zu erweitern suchten.
Umfassend ist die theoretische Grundlage nur in der Einleitung dargestellt. Die einzelnen Beiträge passen nicht immer in das angestrebte analytische Korsett. Das liegt auch daran, dass das Buch Freud und Leid so mancher Sammelbände teilt. Manches kennt man schon aus anderen Veröffentlichungen der Autoren, und einige Bereiche, die zum Thema gehörten, fehlen. So wird der wich-­tigs­te unabhängige soziokulturelle Raum in der DDR-Gesellschaft, die Kirchen, bis auf wenige Einlassungen nicht unter gesellschaftsgeschichtlichen Aspekten untersucht. Die Opposition der 1980er Jahre, deren Genese, Inhalte und Strukturen, die Motive und Haltungen der Akteure sowie deren Strategien und Konflikte sind im Sinne des Ansatzes der Herausgeber ein anschauliches Beispiel für die Wechselwirkung zwischen repressiver Religions- und Kirchenpolitik der SED einerseits und religiöser und institutioneller Selbstbehauptung andererseits.
Viele der Einzelbeiträge sind ein Gewinn. Aufschlussreich sind die regionalgeschichtlichen Studien zu Suhl (Peter Wurschi), Gera (Reiner Merker) und Jena (Henning Pietsch). Die Darstellungen von Aspekten des politischen Strafrechtes in der DDR (Anette Weinke, Johannes Raschka, Leonore Ansorg) und der Funktion des Arbeitsrechtes als Repressionsinstrument (Danuta Kneipp) lesen sich gut als Hintergrundkommentare zur aktuellen Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. In den Aufsätzen, die den Kampf des MfS gegen die Opposition beschreiben (Walter Süß, Ulrich Huemer, Tomás Vilímek, Thomas Klein), ist dessen Kontrollverlust gegen­-über seinen Gegnern anschaulich ablesbar. Immer wird deutlich, dass gesellschaftspolitische Eingriffe und auch das politische Strafrecht auf die Verhinderung eines gesellschaftlichen Eigenlebens zielten.
Bernd Gehrke ist in seiner Übersichtsdarstellung der Opposition nach dem Mauerbau 1961 darum bemüht, das kritische marxistische Milieu anhand einer seit den 1960er Jahren konspirativ arbeitenden Untergrundbibliothek besonders herauszustellen. Möglicherweise überschätzt er diesen Einfluss. In den 1980er Jahren war zwar in weiten Teilen der Opposition die Idee eines demokratischen oder demokratisierten Sozialismus verbreitet. Aber dieser Idee wurde mit protestantischer Sozialethik Leben eingehaucht. Die marxistische Theorie als kritisches Elixier zur Aufweichung des realen Sozialismus war nach dem Tode des großen Dissidenten Robert Havemann weitgehend erloschen. Nur noch wenige, so auch Gehrke selbst, gehörten zu den Protagonisten dieser Richtung. Geschult in marxistischen Formationstheorien teilt er die DDR in drei Phasen ein, den terroristischen »Hochstalinismus« unter Ulbricht, den »aufgeklärten Stalinismus« und schließlich eine Phase einer »Re-Differenzierung« unter Honecker. Deren Wirkung auf die Genese von Opposition ist zwar plausibel dargestellt, aber die Begrifflichkeit nur schwer erträglich. Was ist wohl ein »aufgeklärter Stalinismus«, ein weißer Rabe oder ein schwarzer Schimmel? Den originären Begriff Sozialismus schont Gehrke.
Zwei Aufsätze offenbaren das grundsätzliche Dilemma beim Sprechen über die DDR-Gesellschaft. Renate Hürtgen zeigt, wie seit dem 17. Juni 1953 in den Betrieben die Bereitschaft zu Protesten und Streiks erlosch. Hatte es 1960 noch 166 Arbeitsniederlegungen gegeben, waren es 1988 noch zwei. Die Arbeiterschaft als soziale Gruppe war atomisiert. Warum aber die Arbeiter, sie werden der »Mehrheitsgesellschaft« zugeordnet, 1989 plötzlich millionenfach auf die Straße gingen und auch streikten, wird nicht erörtert.
Der Artikel von Sven Korzilius über die »Asozialen« schildert eindrücklich, wie die SED aus sozial Schwachen ein politisch verfolgtes »Lumpenproletariat« konstruierte. Das Tragische an diesem Phänomen ist, dass die sog. Asozialen auch von der Bevölkerung ausgegrenzt wurden und sich damit die Repression noch verstärkte. Das regt dazu an, den Bodensatz von Einstellungen, Mentalitäten und kulturellen Alltagsmustern in der Bevölkerung zu sehen, der von der SED nicht erreicht oder verändert, aber immer wieder auch instrumentalisiert wurde. Die SED versuchte immer wieder, Elemente der undemokratischen deutschen politischen Kultur, wie antipolnische Ressentiments, ebenso zu nutzen, wie sie die Tugenden aller Untertanen, Ordnung, Sauberkeit und Disziplin, propagierte.
Aus dem Rahmen fällt der Aufsatz von Christof Geisel »Siegreiche Revolutionäre oder Opfer der Wiedervereinigung?«. Er be­schwert sich aus westdeutscher Sicht darüber, dass die meisten DDR-Oppositionellen seit 1989 ihre ehemaligen Positionen als Kritiker der Industriegesellschaft und als Befürworter eines reformierten und demokratisierten Sozialismus aufgegeben hätten. Sie hätten sich konservativ bekehren lassen. Wenn aber, so ist im Sinne des Ansatzes dieses Buches zu fragen, Opposition immer im gesellschaftlichen und politischen Kontexten zu sehen ist, könnte man diese Bekehrung auch als eine folgerichtige Evolution im Kontext der selbst erkämpften Freiheit verstehen.