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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

970-972

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Röcker, Fritz W.

Titel/Untertitel:

Belial und Katechon. Eine Untersuchung zu 2Thess 2,1–12 und 1Thess 4,13–5,11.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XVII, 604 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 262. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-149923-4.

Rezensent:

Paul Metzger

Unerschrocken trotzen die Exegeten den diversen Warnungen, die ihre Vorgänger ihnen mit auf den Weg geben, wenn sie sich mit der Interpretation von 2Thess 2,1–12 beschäftigen und dabei ergründen wollen, was es mit der Rede vom »Menschen der Gesetzlosigkeit« und »dem, der aufhält«, auf sich hat. Fritz W. Röcker, ehemaliger Dozent am Theologischen Seminar der Liebenzeller Mission und jetziger Kirchenrat der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, unternimmt mit seiner von P. Stuhlmacher angeregten, letztlich von R. Riesner betreuten und an der TU Dortmund eingereichten Dissertation den meines Wissens jüngsten Versuch, die Geheimnisse des 2Thess zu lüften und die beiden Protagonisten des zweiten Kapitels zu identifizieren.
Zunächst und mit der übrigen Untersuchung im Grunde unverbunden beschäftigt er sich mit dem »Menschen der Gesetzlosigkeit«. Nach einem knappen Forschungsüberblick folgt er – scheinbar unmotiviert – der These von W. Bousset, wonach Belial den Hintergrund des »Menschen der Gesetzlosigkeit« bilde. Dies will er mit den folgenden ca. 200 Seiten begründen, indem er die Belegstellen im Alten Testament, in den Texten von Qumran, den alttestamentlichen Pseudepigraphen und schließlich bei Paulus ausführlich in den Blick nimmt. Bevor R. also zur Untersuchung der Thessalonicherbriefe kommt, hat er im Grunde schon entschieden, dass Belial den traditionsgeschichtlichen Hintergrund des »Menschen der Gesetzlosigkeit« bildet. Was damit für die Interpretation von 2Thess 2 gewonnen ist, bleibt undeutlich.
Danach (223) kommt er zu den eigentlich zu untersuchenden Texten. Warum er überhaupt 1Thess 4,13–5,11 untersucht, wenn er die Protagonisten aus 2Thess 2 identifizieren will, wird dabei nicht ersichtlich. Bevor R. in die Details der Texte geht, präsentiert er relativ oberflächlich die Einleitungsfragen zu beiden Briefen und setzt damit implizit die Ergebnisse seiner Analysen voraus. Weil er beide Textpartien vor demselben Hintergrund befragen will (254), postuliert er für beide Briefe, dass deren Ort, Zeit und Adressaten identisch sind. Das bedeutet aber, dass ein Ergebnis der Untersuchung bereits vorweggenommen wird: nämlich, dass auch der 2Thess ein von Paulus nach Thessalonich geschriebener Brief ist. Diese Position liegt dann der gesamten Untersuchung zugrunde. Die Diskussion um die Authentie des 2Thess ist damit aber nicht ausreichend geführt.
R. untersucht dann die eschatologischen Passagen des 1Thess auf mögliche Bezüge zur Synoptischen Apokalypse, vor allem in ihrer matthäischen Ausprägung. Warum er das tut, beantwortet er im Nachhinein mit der These, dass sowohl 1Thess 4,13–5,11 als auch 2Thess 2,1–12 mit der Synoptischen Apokalypse zusammenhängen (255 f.). Um dies zu zeigen, legt er eine ausführliche Exegese der Verse vor und vergleicht die einzelnen Motive, die Paulus zur Beschreibung der Parusie benutzt, mit einzelnen Erzählzügen aus Mt 24. Dabei lassen es ihm einzelne Motive (z. B. die Posaune Gottes), die beide Texte aufweisen, geraten erscheinen, dass »Paulus und Mt eine gemeinsame Tradition zugrunde gelegen hat« (281). Wenn er damit eine Tradition meint, die über allgemein apokalyptisches Gedankengut hinausreicht, dann scheint er an eine Überlieferung zu denken, die auf Jesus selbst zurückgehen soll (322). Fraglich erscheint, ob apokalyptische Topoi diesen Schluss tragen können. – Ähnlich gründlich wie 1Thess wird dann auch der 2Thess auf seine Beziehungen zur matthäischen Apokalypse untersucht.
Fast beiläufig wehrt er dabei die verschiedenen Argumente ab, die gegen eine paulinische Verfasserschaft des Briefes sprechen. Dass z. B. Hapaxlegomena einem Brief besondere »Emotionalität« bzw. eine »große innere Beteiligung« (331) des Autors attestieren, übersieht den Anachronismus, dass kein Autor des Neuen Testaments wissen konnte, dass er Hapaxlegomena verwendet. Warum im Übrigen solche Vokabeln überhaupt eine besondere »Emotionalität« aufweisen sollen, bleibt ebenfalls fraglich. Trotzdem geht R. von der Annahme aus, dass der 2Thess ein Paulusbrief ist (345), und sieht wieder auffallende Parallelen zu Mt 24. So sollen etwa gemeinsame Begriffe wie »Versammlung« oder »Erschrecken« die Beweislast tragen (367), manchmal ist nicht einmal identisches Vokabular zu verzeichnen. Dann weicht R. aus und spricht nur noch davon, dass z. B. bei 2Thess 2,3 und Mt 24,5 »dasselbe gemeint ist« (411). Dass insgesamt eine inhaltliche Nähe ausgemacht werden kann, darf doch nicht verwundern, wenn verschiedene Texte apokalyptischer Prägung untersucht werden. Die These, dass »man wohl davon ausgehen [kann], dass der Verf. des 2Thess die Schilderungen aus Mt 24,5ff implizit bei den Thessalonichern als bekannt voraussetzt« (379), ist daher genauso wenig zu teilen wie die Behauptung, wonach »beim Verfasser des 2Thess die (vor)synoptische Tradition vorausgesetzt werden kann« (413).
Seine Grundannahmen führen R. dazu, zu vermuten, dass auf das Katechon »bereits bei der Gründung der Gemeinde durch Paulus hingewiesen worden war« (420). Um es aber zu identifizieren, kombiniert er im Wesentlichen Impulse aus (späteren) rabbinischen Texten mit Gedanken von O. Cullmann und A. Strobel und kommt so zu dem Ergebnis, dass das Katechon die fehlende Buße und die von Gott gesetzte Zeit der Parusie sei, während der Katechon »eine Person sein [muss], die von Gott den Auftrag hat, die Menschen zur Umkehr zu Gott zu rufen« (471). Um die Verbindung zwischen Gott und dem Prediger des Evangeliums zu stärken, verweist R. auf das Prinzip der »doppelten Kausalität« (I. L. Seeligmann). So lassen sich Gott und sein Verkünder quasi kombinieren und so letztlich Buße und Heilsplan (das Katechon) sowie Paulus und Gott (der Katechon) zusammen als Katechon identifizieren (473.488).
Sowohl der 1Thess als auch der 2Thess hängen nach R. also eng mit der Synoptischen Apokalypse zusammen, und 2Thess soll als »Fortführung der Ausführungen« (521) des 1Thess verstanden werden, wobei Paulus auf eine »vormt. Überlieferung« zurück­greife, der ihrerseits eine »mt. Vorform der Jesusüberlieferung zugrunde« (522) liege. Belial sei ein Mensch mit einem teuflischen Charakter (515) und als »Mensch der Gesetzlosigkeit« zu identifizieren (519).
Die Frage, wie ein einfacher Mensch der »Sohn des Verderbens« (2Thess 2,4) bzw. der »Gesetzlose« (2Thess 2,8) an sich sein kann, lässt R. leider genauso offen wie die, welchen Menschen Paulus konkret im Blick gehabt haben soll. Ähnlich unbefriedigend bleibt, wie man die unterschiedlichen eschatologischen Aussagen von 1Thess 5,1–11; 1Kor 15 und 2Thess 2 miteinander vereinbaren will. Falls der 2Thess nämlich kein echter Paulusbrief ist, kann Paulus auch nicht der Katechon sein. Das Ende müsste dann nämlich schon tatsächlich da sein.
Insgesamt ist erfreulich, dass immer wieder neue Versuche unternommen werden, eine offene Frage der neutestamentlichen Wissenschaft zu beantworten. Auch R.s Vorschlag zur Interpretation von 2Thess 2 bringt hier zwar keine letzte Klärung, doch es ist trotz allem Dissens erfreulich, dass R. die Warnung seiner exegetischen Vorgänger ignoriert und sich mit großen Fleiß und Aufwand daran macht, neue Impulse für die Exegese der Thessalonicherbriefe zu geben. Dass er die Diskussion mit seinen Vorgängern dabei oft in einem polemischen Ton (223.449) und zuweilen fast beleidigend führt (18.433), ist schlicht unnötig und fördert nicht die Lust am wissenschaftlichen Austausch.