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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

881-884

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ueberweg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Völlig neu bearb. Ausgabe. Hrsg. v. H. Holzhey. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich. 2 Halbbde. Hrsg. v. J. Rohbeck u. H. Holzhey.

Verlag:

Basel: Schwabe 2008. Halbbd. 1: XXXVIII, 468 S.; Halbbd. 2: XIV, S. 469–1044. m. CD-ROM. gr.8°. Lw. EUR 170,00. ISBN 978-3-7965-2445-5.

Rezensent:

Detlef Döring

Vier Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Darstellung der Philosophie des 18. Jh.s innerhalb des »Ueberweg« (Bd. 1: Großbritannien und Nordamerika, Niederlande; hrsg. von H. Holzhey u. V. Mudroch, Basel 2004, vgl. ThLZ 131 [2006], 439–442) ist 2008 der zweite, Frankreich gewidmete Band publiziert worden. Angesichts der Beteiligung von immerhin 29 Autoren und angesichts der Komplexität der abzuhandelnden Materien erscheint diese Zeitspanne als durchaus akzeptabel. Auch der Frankreich-Band be-deutet in der Ausführlichkeit der Darstellung (wie schon der England-Band) einen wahren Quantensprung im Vergleich zur letzten Auflage des »Grundrisses« von 1924: statt knapp 40 Seiten jetzt gut 1000 Seiten. Aufbau und Gliederung des Doppelbandes entsprechen im Wesentlichen dem in der vorliegenden Zeitschrift bereits be­sprochenen England-Band. Im Mittelpunkt steht die Personengeschichte (Leben, Lehre, Wirkung der einzelnen Philosophen), aber diese ist eingebettet in größere thematische Zusammenhänge (z. B. Kulturgeschichte, Erkenntnis und Sprache, Kunst und Kritik, Ma­terialismus, Geschichtsphilosophie), in die jeweils zu Beginn der Großabschnitte eingeleitet wird.
Breiten Umfang beanspruchen die Mitteilungen zur Primär- und Sekundärliteratur. Charakteristisch für den »Ueberweg« ist insbesondere die Berücksichtigung von Themenfeldern, die in gängigen philosophiegeschichtlichen Handbüchern keine oder bes­­tenfalls marginale Beachtung finden. Das sind z. B. die Institutionen, an denen wissenschaftliche und damit auch philosophische Bildung vermittelt wurde. In Frankreich waren das die Kollegien und die von der Kirche beaufsichtigten Seminare. Die Universitäten spielten im intellektuellen Leben bekanntlich eine weitaus geringere Rolle als in Deutschland, aber ihr vollständiges Fehlen im vorliegenden Handbuch will doch nicht ganz einleuchten. Noch weniger verständlich ist die gänzliche Ausklammerung der Akademien, die in Frankreich doch eine erhebliche Rolle ausübten, es sei nur an die Praxis der regelmäßig gestellten Preisfragen er­innert.
Sehr zu begrüßen ist dagegen die wirklich breite Einbeziehung der Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften. Das 18. Jh. bildete für viele heute längst etablierte und selbstverständliche wissenschaftliche Disziplinen die Zeit ihrer Entstehung. In Anbetracht der großen Bedeutung, die der Heraufkunft der modernen Wissenschaften für die Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie zuzumessen ist, kann die (zumeist auch für den Laien lesbare) Darstellung ihrer Frühgeschichte im Rahmen des »Grundrisses« in ihrem Wert kaum überschätzt werden, und zwar gerade innerhalb des Frankreich-Bandes. Bei allem Gewicht, das England in der Wissenschaftsgeschichte des 18. Jh.s zukommt, ist Frankreich doch das Land, in dem der modernen Entwicklung in breiter Front die Bahn gebrochen wurde. Dafür stehen Namen wie Antoine-Lavoisier, Buffon, Maupertuis, Laplace, Quesnay, Lamarck, Bonnet, Condillac, um nur die bekanntesten zu nennen. Und selbst der aus England kommende Newtonismus, dessen Bedeutung für das 18. Jh. enorm war, hat doch erst über seine Rezeption in Frankreich (Voltaire!) europaweiten Einfluss gewinnen können. Die in Deutschland verbreitete Philosophie hat dagegen in Frankreich nur wenig Beachtung gefunden. Eine gewisse Ausnahme bildet die Leibniz-Wolffsche Philosophie, die da und dort einen Leser fand, so in dem allerdings in Berlin lebenden Samuel Formey und in der erst in neuerer Zeit breitere Aufmerksamkeit findenden Naturwissenschaftlerin Émilie du Châtelet (vgl. 352–360). Gängig war freilich Leibniz’ Lehre von der besten aller Welten (Leibnizischer Optimis­mus), die jedoch spätestens durch Voltaires »Candide« in ein fragwürdiges Licht geriet.
Die Vorreiterrolle Frankreichs gilt jedoch nicht allein bei den Wissenschaften. Das ganze Zeitalter der Aufklärung wird in seinen intellektuellen Diskussionen immer wieder durch die Beiträge aus Frankreich bestimmt oder zumindest beeinflusst. Daraus erklärt sich die Tatsache, dass die nicht selten scharfen Debatten um den Charakter der Aufklärung, sei es als historisches Phänomen, sei es als überzeitliche Erscheinung, im Zusammenhang mit Frankreich geführt werden. Hier spielt nun die auf eine weite Tradition zu­rü­ck-greifende These von der besonderen Radikalität der französischen Aufklärung eine große Rolle. Der Mitherausgeber Johannes Rohbeck schließt sich in seiner »Einleitung« dieser Feststellung durchaus an, bestreitet aber die Setzung der französischen Aufklärung zur »einzigen Norm« bzw. zur »wahren Aufklärung« (XXX). Das wird jedoch nicht weiter erörtert, und Rohbeck erklärt die »Eigenart der französischen Aufklärung« dann in ihrer Wendung zur Anthropologie. Das dürfte jedoch für die Aufklärungsphilosophie insgesamt signifikant gewesen sein.
Ein Feld, auf dem sich radikales Denken in einem besonderen Maße entfaltete, war die Religionskritik. Scharfe Angriffe auf Religion und Kirche hat es auch in anderen Ländern gegeben, aber nirgends waren sie so verbreitet wie in Frankreich. Rohbeck führt dies auf die entschiedene Abgrenzung des französischen Katholizismus und der Monarchie der Bourbonen gegenüber dem Protestantismus und gegen religiöse Außenseiter überhaupt zurück. Das habe »einen entsprechenden Gegendruck erzeugt«, der sich letzt­endlich in der Französischen Revolution entlud. So wurden Lehren, wie eben z. B. die Physik Newtons, die atheistische Folgerungen nur implizit enthielten, in Frankreich radikalisiert.
Die Auseinandersetzungen um Christentum, Religion, Offenbarung, Kirche u. a. nehmen im vorliegenden Band demgemäß einen breiten Raum ein und verschaffen ihm damit das Interesse gerade auch des Kirchenhistorikers. Ich verweise im Folgenden nur auf einige unter diesem Gesichtspunkt besonders bemerkenswerte Abschnitte. Frankreich ist das Land der Verbreitung clandestiner Schriften schlechthin und dementsprechend ausgebaut ist die Forschung zu dieser Literaturgattung. Im »Ueberweg« vertritt mit Antony McKenna einer der besten Kenner der Materie dieses Thema. Mit Jean Meslier (1664–1729) tritt bereits im frühen 18. Jh. ein fast alle Register der radikalsten Religionskritik ziehender Autor in Erscheinung. Ähnlich wie bei Reimarus in Deutschland 50 Jahre später wusste freilich kein Zeitgenosse von den äußerst brisanten Ideen des unscheinbaren Pfarrers eines Dorfs in der Champagne. Erst lange nach seinem Tode wurden die brisanten Texte allmählich bekannt. Die in der radikalen Aufklärung gängige These von der Entstehung der Religion durch Priesterbetrug wird wirkungsmächtig erstmals durch Fontenelle verbreitet, der übrigens in Deutschland eine bemerkenswerte Rezeption fand (Gottsched als »deutscher Fontenelle«). Eine sich durch die Jahrhunderte hinziehende Debatte bildet die Frage, ob Voltaire ein Atheist war oder nicht. Die 50-seitigen Ausführungen zu dem wohl berühmtesten aller französischen Aufklärer (Verfasser ist Gerhardt Stenger) gehen auch immer wieder auf dieses Thema ein. Für Voltaire war das Christentum wohl nichts als Aberglaube, aber andererseits war er auch Gegner des Atheismus, dessen Entstehen er allerdings als Reaktion auf die Verbreitung abergläubischer Vorstellungen durch die Kirche verstand. Schlechthin ein Monument der Aufklärung bildet die »Encyclopédie«, die ein eigenes Kapitel beansprucht (42 S., verfasst von Rolf Geißler [†]). Diderot greift hier in seinen Ausführungen zur Philosophiegeschichte auf den deutschen lutherischen Philosophiehistoriker Jakob Brucker zurück, verleiht dessen Darlegungen jedoch eine kirchen- und religionskritische Spitze, ohne allerdings das Christentum direkt anzugreifen. Jedoch mussten die Enzyklopädisten mit Blick auf die Zensur gerade auf diesem Feld besondere Vorsicht wahren.
Ein Kernthema bildet die Religion natürlich bei der Behandlung des Kapitels »Materialismus und die Natur des Menschen« (469–614). Hier finden solche »Schreckensmänner« ihren Auftritt wie La Mettrie, Baron d’Holbach und der Marquis de Sade. Eine eindeutige Definition des »Materialismus« findet sich jedoch nicht. Es habe sich auch eher um ein »Schimpfwort« gehandelt, das die klerikalen Gegner benutzten (474). Dennoch besitze der Begriff seine Berechtigung, denn manche der mit ihm beschriebenen Tendenzen des 18. Jh.s hätten dem sozusagen echten Materialismus des folgenden Säkulums (u. a. bei Feuerbach und Marx) vorgearbeitet. Dazu gehörte die konsequente Bekämpfung der Kirche, die als Inbegriff der Tyrannei erscheint. Mit 100 Seiten erhält Rousseau den mit Abstand umfangreichsten Beitrag im Handbuch. Er ersetzt das Christentum durch eine (dann doch wieder vom Christentum beeinflusste) Zivilreligion, die ganz im Dienste des Staates steht (Heiligung des Staatsvertrages). Von hier führt der direkte Weg zum Kult des höchsten Wesens, wie er in der Spätphase der Französischen Revolution betrieben wurde.
Dass das 18. Jh. das Jahrhundert der Aufklärung war, lässt sich selbst an deren Gegnern erkennen, die sich über ihren Kampf wider den Geist des Säkulums definierten. Die Verteidigung der Religion und des Christentums im Speziellen bildete das Hauptpanier, unter dem diese Bewegung antrat. Allerdings belegt der Blick auf das Kapitel »Gegenaufklärerische Strömungen« (715–754), dass die hier agierenden Denker das Format der gegnerischen Philosophen nicht erreichen; nur den Spezialisten sind sie bekannt. Eine Jahrhundertgestalt ist natürlich der allerdings in der Frühzeit der Aufklärung wirkende Bischof Bossuet, der innerhalb des Abschnittes über die Geschichtsphilosophie abgehandelt wird. Dort steht er zugleich in der Tradition Augustins und ist Wegbereiter der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie. Ein letztes Großkapitel (knapp 80 S.) nimmt die Darlegung zur »Philosophie der Revolution« ein. Diese hat es nach der Ausführung der Autoren so nicht gegeben. Die Revolutionäre bedienten sich der Elemente der Aufklärungsphilosophie gleichsam als Versatzstücke, die der Legitimation des eigenen Handelns zu dienen hatten. In diesen Kontext gehört der eben erwähnte Kult des höchsten Wesens. Die Gegner der Revolution wiederum, allen voran de Maistre und de Bonald, sehen sich als Verteidiger der göttlichen Ordnung, die von frevelnder Hand angetastet wird.
Alles in allem ist auch diesem Band des »Ueberweg« zu attestieren, dass er auf lange Zeit ein zuverlässiges und ausführliches Kompendium zur Philosophie der Aufklärung darstellen wird. Liegen schließlich die jetzt noch fehlenden Bände zu Deutschland, Italien und der Iberischen Halbinsel in hoffentlich absehbarer Zeit einmal vor, verfügt die internationale Aufklärungsforschung über eine Orientierungshilfe von kaum zu überschätzender Bedeutung, deren sich auch die Kirchen- und Theologiegeschichte bedienen sollte.