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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

835-837

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Larson, Kasper Bro

Titel/Untertitel:

Recognizing the Stranger. Recognition Scenes in the Gospel of John.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2008. XIII, 265 S. gr.8° = Biblical Interpretation Series, 93. Geb. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-16690-5.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Das Buch ist die Veröffentlichung der Dissertation des Autors Kasper Bro Larson an der theologischen Fakultät der Universität Aarhus. Sein Ziel ist es, die Erkennungsszenen des Johannesevangeliums in ihren antiken literarischen Kontext zu stellen. L. beansprucht dabei keine hermeneutische Universalität des literarischen Mittels der Anagnorisis für die Auslegung des Evangeliums, sondern beschränkt sich auf die Untersuchung der Anwendung dieses Mittels im Johannesevangelium und seiner Funktion für die Thematisierung zentraler epistemologischer Probleme, wie der Vermittlung der Gotteserkenntnis durch Jesus und des Verhältnisses der Glaubenden zu Jesus während seiner physischen An- und Abwesenheit.
Die Studie hat ihren Grund in der Beobachtung, dass die Bedeutung der literarischen Form der Anagnorisis für die Auslegung des Johannesevangeliums zu wenig beachtet worden ist, obwohl zentrale Fragen des Evangeliums, wie die Frage nach der Identität Jesu, epistemologische Probleme behandeln.
Einige Szenen im Johannesevangelium lassen sich eindeutig als Anagnorisis beschreiben, andere weisen Motive der Anagnorisis auf. Eine ausführliche Untersuchung dieses Motivs im Johannesevangelium ist somit ein fruchtbares Unterfangen. L. geht in drei Schritten vor. Zuerst zeigt er auf, dass eine beträchtliche Anzahl der Erzählungen im Evangelium Begegnungen anhand der narrativen Konventionen der Erkennungsszenen thematisieren. Dann untersucht er, in welcher Weise sich die Form der johanneischen Erkennungsszenen im Lauf des Evangeliums verändert. Und schließlich erörtert er die Funktion der Erkennungsszenen als grundlegendes Mittel für die Mitteilung der Hauptaussage des Evangeliums von Jesus, dem vom Himmel gekommenen Fremden. Im Gegensatz zu früheren Anwendungen des Anagnorisis-Motivs wird die Erkennungsszene nicht allgemein als ein Element der Interpretation von Überzeugungswandlungen benützt, sondern ganz speziell vor dem Hintergrund antiker literarischer Parallelen betrachtet. L. will keine kausalen Zusammenhänge erstellen, sondern sieht das Evangelium in einem literarischen Gesamtmilieu, innerhalb dessen dieses Motiv in verschiedener Weise Anwendung gefunden hat.
Entsprechend beschreibt das erste Kapitel den historischen und theoretischen Hintergrund der Anagnorisis ausgehend von der Poetik des Aristoteles in Anwendung auf die Handlung des Johannesevangeliums als der Frage nach der Identität Jesu. L. bleibt jedoch nicht bei der historischen Beschreibung der Form, sondern entwickelt eine grundsätzliche, semiotische Theorie der Anagno­risis zur Beschreibung der antiken Texte. Diese besteht aus den Motiven: zweierlei Erscheinung des Erkannten (Verkleidung und Erkennungsmerkmal), dreierlei Arten der Enthüllung des Merkmals: ausdrückliche Mitteilung, Zeigen und ›Flüstern‹ (»telling, showing, and whispering«, 22) und der Unterscheidung des Vorgangs des Erkennens zum einen als Identifikation und zum anderen als soziale Anerkennung. Anagnorisis in dieser Hinsicht ist nicht jedes Wiedererkennen in der Literatur, sondern eine genau definierte Kleinform antiker Erzählung.
Nach dieser Grundlegung wendet sich Kapitel 2 dem Thema Anagnorisis und Ankommen in Joh 1–4 zu, insbesondere der Art, in der frühere christliche Traditionen mit Rücksicht auf die Konventionen der Erkennungsszenen umgearbeitet werden. Der Prolog wird hier als vorbereitendes ›Flüstern‹ charakterisiert, das dem Leser einen Erkenntnisvorsprung verschafft. L. stellt ihn kurz der Odyssee gegenüber. Die Begegnungen mit dem Täufer und den ersten Jüngern in Joh 1,19–51 werden als eine Serie von Erkennungsszenen beschrieben. Die Semeia werden im Zusammenhang der literarischen Form als Erkennungszeichen der göttlichen Herrlichkeit Jesu dargestellt. Die Begegnung Jesu mit der Samaritanerin wird im Gegensatz zu anderen Auslegungsansätzen nicht als Verlobungs-, sondern als Erkennungsszene gedeutet.
Das dritte Kapitel beschreibt Wiedererkennen im Zusammenhang von Konflikt (Joh 5–19), die Art in der die Form der Erkennungsszene die Entwicklung der Handlung des Evangeliums durch die Thematisierung der Zweideutigkeit der Erfahrung Jesu und des Scheiterns von Erkennen vorantreibt. So ist Joh 5,1–18 eine Parodie auf das Erkennen. Die ›Ich-bin-Worte‹ dienen hier als verbale Erkennungszeichen. Joh 9 mit dem Thema der Blindheit und des Sehens steht auch im Zusammenhang des wahren Erkennens. Schließlich stellt die Erzählung von der ›Stunde‹ Jesu eine Reihe von Erkennungsszenen dar, angefangen von der Enthüllung des Verräters (Joh 13,18–30) über die Verhaftung Jesu (Joh 18,1–12), die Verleugnung durch Petrus (Joh 18,15–18.25–27), den Prozess bei Pilatus (Joh 18,28–19,16a) bis zum Kreuz als der Anerkennung Jesu durch Gott.
Das vierte Kapitel untersucht Wiedererkennen und Abschied (Joh 20–21) und stellt eine Veränderung der Erkennungsszenen nach der Auferstehung fest. Es geht nicht mehr nur um die Thematisierung der Gegenwart, sondern gerade auch um die Thematisierung der Abwesenheit Jesu. Der Leser tritt zunehmend selbst in die Rolle des Erkennenden. Ein kurzes Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen.
Das Buch bietet einen frischen Ansatz im dichten Wald der Literatur zum Johannesevangelium. Die Vergleiche von johanneischen Erkennungsszenen mit antiker Literatur sind äußerst aufschlussreich, und die Bedeutung der Frage nach der Identität Jesu für das Evangelium kann gar nicht genug betont werden. Jedoch schwächt L. seinen eigenen Ansatz, indem er in der Definition der Form bewusst nicht antiken Konventionen folgt, sondern moderne Semiotik antiken Ansätzen gegenüber den Ton angeben lässt. Er setzt zwar mit Aristoteles an, der dann jedoch für die eigent­liche Definition der Form belanglos ist. Es ist zu fragen, ob die Beschreibung gerade im Blick auf die Annahme eines literarischen Gesamtmilieus eher einer antiken Definition folgen sollte als einer modernen. Die Tatsache, dass die aristotelische Definition nicht so fruchtbar für L.s Unterfangen ist wie seine eigene, könnte darauf hinweisen, dass die antike literarische Form der Anagnorisis nicht in dieser Weise auf das Johannesevangelium anwendbar ist, sondern nur in Form von L.s Konstrukt, das schon auf den Vergleich mit dem Evangelium hin erstellt ist. Dieses moderne Konstrukt jedoch ist für die Beschreibung und den Vergleich johanneischer Erkennungsszenen sehr treffend gewählt.
In der Durchführung der Untersuchung des Evangeliums konzentriert sich dann die Studie so ausschließlich auf ihre methodische Grundlegung, dass Literatur zur Johannesforschung, die sich nicht ausdrücklich mit Anagnorisis beschäftigt, größtenteils ignoriert wird. Das führt dazu, dass L. seine eigene Auslegung nicht hinterfragen muss und die Kapitel, die sich dem Johannesevangelium zuwenden, auf weiten Strecken einer Nacherzählung unter dem Aspekt der Anagnorisis gleichen. Umso deutlicher wird die eigene These des Buches, durch die L. ohne Zweifel die Forschung zum Johannesevangelium um einen lesenswerten Beitrag bereichert hat.