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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

814-816

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gutmann-Grün, Meret

Titel/Untertitel:

Zion als Frau. Das Frauenbild Zions in der Poesie von al-Andalus auf dem Hintergrund des klassischen Piyyuts.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles, Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2008. 527 S. m. CD-ROM. gr.8° = Judaica et Christiana, 23. Geb. EUR 61,30. ISBN 978-3-03911-446-7.

Rezensent:

Maria Diemling

Poesie war die wichtigste Ausdrucksform der eleganten und weltgewandten höfischen Kultur des mittelalterlichen al-Andalus, die auch einigen hochgebildeten und geistreichen Juden und Christen offenstand. Eine ausgewählte jüdische Elite schuf eine bemerkenswerte Synthese zwischen der herrschenden arabischen Kultur und der jüdischen Tradition, in der sie ihre jüdische Identität bewahren und durch Akkulturation mit neuen Akzenten versehen konnte. Diese Kultur war ausdrücklich die Kultur einer männlichen Elite. Frauen kommen in ihr nicht als aktive Beitragende, sondern nur als Subjekte oder als Inspiration für poetische Metaphern vor.
Die motivgeschichtliche Arbeit von Meret Gutmann-Grün untersucht ausgewählte Aspekte des Frauenbildes in der hebräischen liturgischen Poesie, spezifisch die weibliche Zion-Metaphorik, die bereits in der Bibel für das Volk Israel verwendet wird. Das Buch basiert auf einer interdisziplinär angelegten Dissertation, die von Gabrielle Oberhänsli-Widmer (Abteilung Judaistik, Freiburg i. Br.) und Alfred Bodenheimer (Jüdische Studien, Basel und Heidelberg) betreut wurde. Die Arbeit gewann 2007 den Preis der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Sie ist eine sehr fokussierte und solide Studie eines beeindruckend breiten hebräischen Textkorpus, der von der Vfn. gekonnt ins Deutsche übersetzt wurde.
Die Vfn. distanziert sich ausdrücklich von feministischen Interpretationen, die »das Frauenbild aus der männlichen Bevormundung retten wollen«, und argumentiert, dass das eine Verletzung eines zentralen methodischen Prinzips sei: Man kann »nicht Metaphern aus dem Rahmen eines Textes herauslösen und den ›Raum des Textes‹ verlassen«, es sei methodisch unzulänglich, Metaphern, die als Bildspender für das Verhältnis zwischen Gott und Israel stünden, als Aussagen über das reale Frauenbild der Autoren zu lesen (25). Es ist schade, dass die Vfn. diesen Blickwinkel ausblendet, haben doch gerade auch die Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in den letzten Jahrzehnten viel von einer feminis­tischen Interpretation profitiert.
Im Zentrum der Arbeit stehen hebräische liturgische Gedichte, sog. Piyyutim, die zwischen dem 6. und 12. Jh. entstanden sind und in denen »Zion« nach Kriterien moderner Metapherntheorien analysiert wird. Erklärtes Ziel der Untersuchung ist festzustellen, »ob der Bildspender ›Frau‹, ›Mutter‹ und ›Braut‹ als Bild wirkt oder nur im Dienst eines Bildempfängers (z. B. des Themas der Erlösung) steht« (46). Zion als Frau personifiziert Jerusalem und die jüdische Gemeinschaft (Knesset Jisrael), und in ihr spiegelt sich das Selbstverständnis der Gemeinde oder des dichtenden Individuums wi­der. Das Exil in al-Andalus wirft theologische Probleme in der Interpretation des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk auf, die sich in der Art, wie sich das Frauenbild Zions im untersuchten Zeitrahmen ändert, verfolgen lassen. Die liturgische Dichtung Israels interpretiert, wie schon der Midrasch, biblische Themen auf kreative und den jeweiligen Bedürfnissen der Zeit entsprechende Weise. Außerdem ist sie stark vom Frauenbild in arabischen Liebesliedern beeinflusst und überträgt die Metaphorik von der begehrten und schönen Frau auf das intime Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk.
Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel unterteilt. Das 1. Kapitel untersucht »Frauenbilder Zions im klassischen Piyyut«, der als notwendiger Hintergrund für die folgende Darstellung diskutiert wird. Das 2. Kapitel widmet sich dem Schnittpunkt von liturgischer und höfischer Dichtung und analysiert die »Knesset Jisrael/Zion und die Figur der Geliebten, des Liebhabers und der Seele«, und das 3. Kapitel ist dem »neuen Frauenbild Zions im andalusischen Piyyut« gewidmet.
Die Vfn. beschränkt sich für ihre Untersuchung der Frauenbilder Zions im klassischen Piyyut auf die Aspekte »Braut«, »Geliebte« und »Mutter« und zeigt eine faszinierende Breite in der Anwendung dieser weiblichen Metaphern auf. Zion als ungeliebte und unfruchtbare Mutter charakterisiert das Exil, die Hoffnung auf Nachwuchs die Rückkehr ins Land. Die Knesset Jisrael als Braut basiert auf der rabbinischen Interpretation des Hoheliedes und wird im Piyyut zur Verlobten und Ehefrau.
Im 2. Kapitel demonstriert die Vfn., welche Motive der arabischen Dichtung die Darstellung von Zion im andalusischen Piyyut besonders beeinflusst haben. Dieselben Dichter, die liturgische Dichtung verfassten, schrieben auch höfische Poesie wie Lustlied, Panegyrik und Hochzeitslieder, deren literarische Formen und Motive im Piyyut übernommen wurden. Die Übernahme von Motiven aus der weltlichen Poesie und das neuerweckte Interesse am biblischen Hebräischen, das sich unter anderem in grammatikalischen Studien äußerte, führte auch zu einem neuen Zugang zur Bibel als Literatur und so auch zur Entdeckung der metaphorischen Sprache des Hoheliedes. Die Vfn. argumentiert, dass dabei die Grenzen zwischen säkularen und religiösen Bereichen verwischt würden. Bewunderung für erotische Schönheit und spiritueller Sinn seien kein Widerspruch, weil Schönheit »als ein Kennzeichen von Heiligem augenfällig« wird (143). Neu ist in dieser Periode, dass Zion auch die männliche Rolle des Freundes und Schützlings erhält, die aus der Panegyrik, dem Mittel der sozialen Kommunikation am Hof, stammt und Motive wie Liebe, Schutz, Liebesverrat, nostalgische Erinnerung und Hoffnung bearbeitet.
Im 3. Kapitel untersucht die Vfn., wie die Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel im andalusischen Piyyut neu interpretiert wird. Religiöse Dichtung wird nun zum Anlass genommen, um »über das Exil als eigentliches Thema zu reflektieren«. Das geht über die traditionelle Erklärung des Exils als Strafe für Sündhaftigkeit hinaus und behandelt die Frage, »wie man mit dem Exilzustand umgeht, ob die traditionelle Deutung des Exils genügend befriedigt und in welcher Hinsicht das Exil die Gottesbeziehung tangiert«. (283). Das breite Spektrum an Motiven der andalusischen Dichtung ermöglicht es, Emotionen wie Verzweiflung, Hoffnung, Sehnsucht, Vorwürfe zum Ausdruck zu bringen und auf die Exilsituation zu übertragen und der Knesset Jisrael auch Sprechrollen, etwa als werbende Geliebte, zu verschaffen. Dieser Ansatz führt zu neuen Deutungen des Exils: Es wird als Liebesleid, als unbegründetes Weggehen des Geliebten oder als Suche nach dem Geliebten dargestellt. Zion wird zu einer Figur, mit der sich auch das Individuum identifizieren kann und durch die es möglich ist, ein breites Spektrum an Emotionen zum Ausdruck zu bringen.
Der Arbeit ist ein Glossar angeschlossen, das die im Buch verwendeten Fachausdrücke ausführlich erläutert und eine übersichtliche Einführung in die Terminologie bietet. Das Ausgliedern dieser Erklärungen entlastet den Text des Buches, gleichzeitig wären einführende Erklärungen mit einer literarhistorischen Skizze am Beginn der jeweiligen Kapitel für mit dem spezifischen Fachgebiet weniger vertraute Leser und Leserinnen durchaus nützlich, nicht zuletzt, weil der Stil der Textanalyse etwas trocken ausgefallen ist.
Dem Buch liegt eine CD-ROM bei, auf der auf 346 Seiten die be­sprochenen 145 Texte teilweise mit dem hebräischen Original von Jarden mit einer von der Vfn. angefertigten deutschen Übersetzung und ausführlichen Anmerkungen abgedruckt sind. Der Korpus ist benutzerfreundlich als PDF-File angelegt, das es auch ermöglicht, die Texte nach bestimmten Begriffen zu durchsuchen. Dieser An­hang dient zugleich als willkommene Basis für weiterführende Forschung, da auch Gedichte weniger bekannter Autoren bzw. erst durch rezente Forschung entdeckte Texte inkludiert sind. Gerade die in vielen Fällen erstmalige Übersetzung dieser reizvollen Dichtung ins Deutsche verdient eine besondere Erwähnung, nicht zuletzt, weil die Übertragungen im Buch der Originalversion näher kommen als die poetischeren Übersetzungen auf der CD-Rom, also eine interessante Vergleichsmöglichkeit zwischen zwei Interpretationsansätzen bieten.
Die Vfn. hat eine bemerkenswerte, dichte und sorgfältig argumentierende Studie eines spannenden Aspekts jüdischer Liturgie vorgelegt. Nicht nur an mittelalterlicher hebräischer Poesie interessierte Leser und Leserinnen, sondern auch an jüdischer Theologie und insbesondere an der Verarbeitung der Exilserfahrung Interessierte werden sie mit Gewinn zur Hand nehmen.