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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1155–1168

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ingolf U. Dalferth

Titel/Untertitel:

Selbstaufopferung

Vom Akt der Gewalt zur Passion der Liebe

I. Die Ambivalenz der Selbstaufopferung


1. Die dreifache Paradoxie des Opfers


»Könnte man sich eine Religion ohne Opfer ... vorstellen?«1, fragt Derrida in Foi et Savoir und beantwortet diese Frage in gewohnter Manier paradox. Weil Religion in ihrer Doppelheit und Zweideutigkeit beides wolle: »absolute [...] Achtung vor dem Leben« und »universale Opferbereitschaft«2, würde und müsse sie »das Opfer sowohl fordern als auch ausschließen«3. Um die Unantastbarkeit des Lebens zu wahren, sei das Leben anzutasten. Und um nicht (mehr) opfern zu müssen, müsse man opfern. Erst im »Opfer des Opfers« komme die Religion daher zu sich selbst.

Die damit umrissene Paradoxie lässt sich in drei Punkten konkretisieren. Auf der einen Seite ist das Opfer Derrida zufolge der »Preis, den man zahlen muß, um den absolut anderen nicht zu verletzen oder anzutasten«.4 Auf der anderen Seite ist der Vollzug von Gewalt »im Namen des Nicht-Gewalttätigen« ein Unding.5 Das ist die erste Paradoxie des Opfers: Man muss Gewalt im Namen des Nicht-Gewalttätigen ausüben, um dem nicht-gewalttätigen Anderen keine Gewalt zuzufügen.

Aber das ist noch nicht alles. Selbst wenn die Gewalt des Opfers unverzichtbar ist, um den absolut anderen nicht anzutasten, ist es inakzeptabel, diese Gewalt anderem Leben anzutun. »Die absolute Achtung befiehlt« daher »zunächst die Selbstaufopferung, das Op­fer des Wertvollsten und Wichtigsten«, des eigenen Lebens. Nur wer sich selbst opfert, opfert wirklich. »Die Selbstaufopferung op­fert demnach das Eigenste im Dienst des Eigensten.« Das ist die zweite Paradoxie des Opfers: Man muss sich selbst Gewalt antun, um dem anderen keine Gewalt zuzufügen.

Aber noch ein dritter Punkt folgt. Wer sich selbst opfert, hat ein für allemal geopfert. Sein Opfer wird – für ihn! – zum »Opfer des Op­fers«. Das ist, wenn überhaupt, das einzig »reine« Opfer – und zu­gleich die Aufdeckung seiner fundamentalen Zweideutigkeit: Das zu fordern, was strikt ausgeschlossen ist, ist Aufforderung zur Selbstvernichtung, um die absolute Nichtantastbarkeit des anderen zu wahren. Wer sich nicht opfert, tut dem anderen Gewalt an, und wer sich selbst opfert, vermeidet die Gewalt gegen den anderen, indem er sich selbst Gewalt antut. Das ist die dritte Paradoxie des Opfers: Indem man sich selbst opfert, ist das Opfer aufgehoben. Der andere muss von mir keine Gewalt mehr befürchten, deren Vermeidung zum Opfer Anlass gäbe. Das Selbstopfer beendet den Anlass und die Notwendigkeit des Opfers: Es ist das Ende des Opfers.

Derrida konzentriert das Opfer also auf das Selbstopfer und er­weist dieses als paradox. Sein Argument verläuft in drei Schritten 1.von der angeblichen Notwendigkeit des Opfers zur Vermeidung von Gewalt gegenüber dem Anderen über 2. die Unumgänglichkeit des Selbstopfers und zugleich die Unmöglichkeit der Gewaltvermeidung gegen sich selbst zur 3. Aufhebung des Opfers im Selbstopfer, das den Anlass der Opfernotwendigkeit durch Herbeiführung der Opferunnötigkeit beseitigt, indem durch Gewalt gegen sich selbst die Gewalt gegen andere ausgeschlossen wird.

Grundzug dieser Argumentation ist die Verortung der Opferthematik im Gewaltparadigma: Stets geht es zur Vermeidung von Ge­walt gegenüber dem Anderen um Gewalt gegen andere (Opfer) oder gegen sich selbst (Selbstaufopferung). Dass Opfer auch etwas anderes als Gewaltakte sein könnten, kommt nicht in den Blick. Das ist der grundsätzliche Mangel dieser Analyse: Sie reduziert das Opfer auf den Akt gewaltsamer Tötung, der im symbolischen Universum des Opfers die geringste Valenz hat und nicht im Zentrum steht. Die Symbolhandlung des Sühnopfers etwa vollzieht sich als Konsekration (der Identifikation des Opfernden mit dem Opfertier, durch die dieses zum Symbol für den Opfernden wird) und als Inkorporation in das Heilige (in der »durch die Blut­hingabe des Opfertiers eine Lebenshingabe des Opferherrn zeichenhaft vollzogen« wird6), während die Tötung des Opfertiers nur die untergeordnete Rolle der Beschaffung von Lebensblut zum Vollzug der Inkorporation spielt.7 Nicht die Tötung, sondern die Identitätsübertragung in der Konsekration und die Hingabe an das Heilige in der Inkorporation sind die religiös entscheidenden Mo­mente dieses Opfers.

Doch auch innerhalb der verkürzenden Sicht Derridas bleibt an entscheidender Stelle eine folgenreiche Ambivalenz bestehen: Op­fert die Selbstaufopferung »das Eigenste im Dienst des Eigensten«, oder opfert sie das Eigenste im Dienst des Anderen? Oder spielt diese Differenz hier keine Rolle, weil beides im Selbstopfer zur Vermeidung der Gewalt gegen den anderen zusammenfällt? Weil Derrida das im Dunkeln lässt, hat seine Argumentation an entscheidender Stelle eine offene Flanke: Sie ist blind gegenüber der Differenz zwischen egoistischer und altruistischer Selbstaufopferung, zwischen einem Selbstopfer, das der Wahrung des eigenen Wohls gilt, und einem Selbstopfer, dem es um das Wohl des anderen geht.

Beides kann als Ende des Opfers beschrieben werden, aber nur das zweite und nicht das erste lässt sich als Akt der Liebe begreifen. Damit aber deutet sich eine Sprengung der Einengung auf das Ge­waltparadigma an: Ist der altruistische Verlust des eigenen Le­bens um des anderen willen ein vermeidbarer Akt der Gewalt gegen sich selbst – also ein Akt der Gewalt, den man selbst gegen sich ausübt, aber nicht hätte ausüben müssen –, dann ist er eine Selbstaufopferung, aber kein Akt der Liebe. Ist er dagegen ein Akt der Liebe, dann ist auch der vermeidbare eigene Tod – also der Tod, dem man sich hätte entziehen können – kein Gewaltakt gegen sich selbst und damit auch keine Selbstaufopferung, sondern das Resultat der Passion uneigennütziger Liebe, die sich durch nichts, nicht einmal den drohenden eigenen Tod, davon abbringen lässt, aus Liebe zum an­deren für den anderen und nicht nur für sich selbst zu leben. Nicht die Unterscheidung von Opfer und Selbstaufopferung, sondern erst die zwischen egoistischer und altruistischer Selbstaufopferung öffnet den Blick dafür, den vermeidbaren Verlust des eigenen Le­bens um des anderen willen nicht im Paradigma der Gewalt, sondern in dem der Liebe zu verstehen.

2. Egoistische und altruistische Selbstaufopferung


Was das heißt, zeigt exemplarisch Schillers Theosophie des Julius,8 in der ebendiese Differenz als der entscheidende Punkt der Opferproblematik benannt wird. Allerdings beginnt Schillers Argumentation nicht beim Opfer, sondern bei der Wirklichkeit der Liebe. »Ich bekenne es freimütig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe«,9 betont Julius, das Alter Ego des jungen Schiller, seinem Freund Raphael gegenüber. »Aber die Liebe hat Wirkungen hervorgebracht, die ihrer Natur zu widersprechen scheinen. Es ist denkbar, da ich meine eigne Glückseligkeit durch ein Opfer vermehre, das ich fremder Glückseligkeit bringe – aber auch noch dann, wenn dieses Opfer mein Leben ist? ... Wie ist es möglich, dass wir den Tod für ein Mittel halten, die Summe unsrer Genüsse zu vermehren? Wie kann das Aufhören meines Daseins sich mit der Bereicherung meines Wesens vertragen?« 10 Was beim Opfer noch denkbar aussieht, er­scheint bei der Selbstaufopferung paradox: Der, für den es etwas Lebenssteigerndes bringen könnte und sollte, lebt nicht mehr.

Eine mögliche Antwort wäre der Verweis auf die Unsterblichkeit: »Die Voraussetzung von einer Unsterblichkeit hebt diesen Widerspruch« auf. Doch Julius sieht richtig, dass damit auch die Liebe aufgehoben würde: »Rücksicht auf eine belohnende Zukunft schließt die Liebe aus.«11 »Zwar ist es schon Veredlung einer menschlichen Seele, den gegenwärtigen Vorteil dem ewigen aufzuopfern – es ist die edelste Stufe des Egoismus – aber Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchst unähnliche Ge­schlechter, deren Grenzen nie ineinanderfließen. Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selbst; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer in die Achse des ewigen Ganzen. Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. ... Egoismus sät für die Dankbarkeit, Liebe für den Un­dank. Liebe verschenkt, Egoismus leiht – Einerlei vor dem Thron der richtenden Wahrheit, ob auf den Genuß des nächstfolgenden Augenblicks, oder die Aussicht einer Märtyrerkrone – einerlei, ob die Zinsen in diesem Leben oder im andern fallen!« 12

Auch ein durch die Hoffnung auf Unsterblichkeit genährter Ego­ismus ist das Gegenteil von Liebe. Die aufgeworfene Frage muss daher anders beantwortet werden. »Denke Dir eine Wahrheit, mein Raphael, die dem ganzen Menschengeschlecht auf ent­fernte Jahrhunderte wohltut – setze hinzu, diese Wahrheit verdammt ihren Bekenner zum Tode, diese Wahrheit kann nur er­wiesen werden, nur geglaubt werden, wenn er stirbt.«13 Denke dann einen Mann, der ebendiese Wahrheit verwirklichen will: »be­darf dieser Mensch der Anweisung auf ein anderes Leben?«14 Die von Julius nahegelegte Antwort ist Nein. Nur wer so handelt, handelt nicht egoistisch, wenn er sich selbst opfert.

Schiller unterscheidet also zwischen einer egoistischen Selbstaufopferung, die in der Hoffnung auf eine jenseitige Vergütung vollzogen wird,15 und einer altruistischen Selbstaufopferung, die um der anderen – aller anderen und damit um des ganzen Menschengeschlechts – willen vollzogen wird und die allein Liebesopfer genannt zu werden verdient. Nur dieses letzte ist eine »Tugend ..., die auch ohne den Glauben an Unsterblichkeit auslangt, die auch auf Gefahr der Vernichtung das nämliche Opfer wirkt.« (351) Nur wer allein um der anderen – aller anderen! – willen sich selbst opfert, handelt wirklich aus uneigennütziger Liebe.

Altruistische Selbstaufopferung im Sinn von Schillers uneigennütziger Liebe ist also durch ein Doppeltes ausgezeichnet. Zum einen geschieht sie nicht aus Motiven egoistischer Glückseligkeitsmaximierung über die Transzendenzgrenze hinweg: Sie ist we­sentlich altruistisch, nicht egoistisch. Zum andern ist sie nicht be­schränkt, partikular oder abstrakt, sondern uneingeschränkt, universal und konkret: Sie basiert weder auf Familienbeziehungen, die genetische Nähe bzw. Blutsbande voraussetzen und damit nicht alle einschließen;16 noch auf Freundschaftsbeziehungen, die es ohne lokale Nähe oder personale Bekanntschaft nicht gibt und die damit auch beschränkt sind;17 noch auf der abstrakten moralischen Ma­xime, dass man sich für alle, die einer bestimmten Regel entsprechen, unter bestimmten Bedingungen selbst aufopfern soll.

Uneingeschränkt uneigennützig und damit umfassend universal ist vielmehr nur eine konkrete Nächstenliebe, die keine Version der Klugheitsregel ist, das, was man von anderen erwartet, auch für sie zu tun bzw. (in negativer Version) keinem etwas zu tun, was man selbst von anderen auch nicht angetan haben will. In diesem Fall würde man sich anderen gegenüber als Nächster verhalten, weil man dasselbe auch von ihnen erwartet. Konkrete Nächstenliebe ist gerade nicht mit einer solchen Erwartung verknüpft, sondern sieht und behandelt den anderen auch dort als Nächsten, wo solche Erwartung unrealistisch ist oder enttäuscht wird. Sie gründet nicht in der Reziprozität des Gleich für Gleich, sondern in der Erfahrung, ohne eigenen Rechtsgrund zum Nächsten Gottes ge­worden zu sein, der auch allen anderen von sich aus in freier Zu­wendung zum Nächsten wird, so dass man sich auf ihn in allen Lebenslagen verlassen kann, weil Menschen nicht ihn wählen, sondern er sich die Menschen wählt. In jedem anderen ist deshalb einer zu sehen, dem Gott sich ebenso zum Nächsten macht wie einem selbst. So verstanden ist Nächstenliebe eine Gott verdankte Lebensorientierung, in der man nicht sich selbst zu einem bestimmten Verhalten anderen gegenüber bestimmt, sondern in der sich manifestiert, dass einem der zum Nächsten wurde, der auch jedem anderen Menschen zum Nächsten wird, so dass alle Menschen unter allen Umständen und ohne Ausnahme als Nächste Gottes zu sehen und zu behandeln sind.

Wird altruistische Selbstaufopferung von hier aus verstanden, dann kann man allerdings auch bei Schiller nicht stehen bleiben. Führt Nächstenliebe in den Tod, dann ist das kein stellvertretendes Selbstopfer, in dem einer an der Stelle eines anderen in den Tod geht, damit diesem der Tod erspart oder erlassen wird, sondern es geht umgekehrt um ein Eintreten für den anderen auch auf Kosten der eigenen Selbsterhaltung, um ein Dasein für den anderen auch um den Preis des eigenen Lebens. Ein solcher Tod ist auch kein Mitleidsopfer, in dem einer sein Leben aus Solidarität mit dem Leiden anderer mit in den Tod gibt, sondern es geht um eine bis zum Tod gelebte Nächstenliebe: Für die anderen (nicht an ihrer Stelle und nicht mit den anderen) wird etwas getan, was zum Verlust des eigenen Lebens führt; und zwar wird es nicht nur für sie, sondern würde auch für alle anderen in entsprechender Situation getan, weil es nicht zu tun im Widerspruch stünde zu dem, wie man sich Menschen gegenüber zu verhalten hat, die Gottes Nächste sind. Es geht in einem solchen Fall um ein Leben und Sterben um der anderen willen und für die anderen, das den eigenen Tod nicht intentional herbeiführt, auch wenn es zu diesem führt, sondern ihn in Kauf nimmt, weil alles andere ein fundamentaler Selbstwiderspruch zur Orientierung des eigenen Lebens am Liebesgebot wäre: Wer aus Nächstenliebe stirbt, tötet sich nicht, sondern liebt den, den Gott liebt, auch wenn er dabei sein Leben verliert.

Derrida zufolge zeigt sich die paradoxe Grundstruktur des Op­fers am deutlichsten am Phänomen der Selbstaufopferung. Nach Schiller ist diese differenziert zu verstehen: als Akt der Gewalt gegen sich selbst (egoistische Selbstaufopferung) oder als Liebestat (altruistische Selbstaufopferung). Diese Unterscheidung zweier Arten der Selbstaufopferung ist richtig und wichtig, geht aber nicht weit genug. Wird altruistische Selbstaufopferung als Liebes­tat verstanden, dann ist damit ein Gedanke eingeführt, der das Opferparadigma sprengt: Der Tod aus uneingeschränkt uneigennütziger Liebe muss kein Selbstopfer, sondern er kann auch das Ergebnis einer Passion der Liebe sein.

3. Altruistische Selbstaufopferung und uneigennützige Liebe


Selbstaufopferung ist ein besonderer Fall des Opfers – dessen paradoxer Grenzfall: Man gibt kein anderes, sondern sein eigenes Leben dahin. Diese Lebenshingabe aber kann aus egoistischen oder aus altruistischen Motiven geschehen. Wer sein Leben gibt, um es zu gewinnen, wird es verlieren – das macht Schiller klar: Lebenshin­gabe ist kein Mittel zum Zweck der eigenen Selbsterhaltung über die Todesgrenze hinweg. Doch auch wer sein Leben da­hingibt, da­mit andere etwas gewinnen, setzt es als Mittel zum Erreichen eines Zwecks ein und bleibt damit dem Paradigma egoistischer Selbstaufopferung verhaftet, die das eigene Leben als Mittel zum Erreichen eines davon verschiedenen Zwecks ge­braucht. Indem man selbst sein Leben als Mittel für einen Zweck dahingibt, wählt man den eigenen Tod, bleibt dabei aber insofern Herr seiner selbst, als man selbst seinen Tod wählt und diesem selbst einen Sinn gibt. Lebenshingabe um der anderen willen kann zum subtilen Ausdruck egoistischer Lebenshaltung werden, die selbst noch das eigene Sterben und den eigenen Tod der eigenen Handlungsmacht und Sinnstiftung unterstellt: Man gibt sich selbst den Tod, um damit selbst dem eigenen Tod einen altruistischen Sinn zu geben. Noch im Tod bleibt man so Herr des eigenen Tuns. Man gebraucht sein Leben als Mittel, indem man es zum Erreichen eines Ziels opfert.

Der Tod aus uneingeschränkt uneigennütziger Liebe ist etwas an­deres. In diesem Fall gibt man weder anderes noch das eigene Leben dahin, sondern überhaupt nichts: Man erleidet den Tod im liebenden Eintreten für den anderen. Der eigene Tod ist in diesem Sinn keine Gabe, kein Akt der Gewalt gegen sich selbst und damit auch kein Opfer: Man gibt sein Leben nicht dahin, sondern lebt so, dass es im Lieben des anderen aufgebraucht wird. Man liebt so un­bedingt und unbegrenzt, dass auch die Selbsterhaltung keine Bedingung oder Grenze darstellt, an der die Nächstenliebe und da­mit die Bestimmung des eigenen Lebens durch die Liebe zum anderen aufgegeben würde. Nicht die Selbstaufopferung und damit das Opfer, sondern die Nächstenliebe und damit die Liebe ist der Horizont, in dem sich der Sinn eines solchen Todes erschließt.

Der Tod aus Nächstenliebe unterscheidet sich deshalb auch von der altruistischen Selbstaufopferung dadurch, dass er kein Akt der Gewalt gegen sich selbst ist, sondern das Erleiden der Folgen ganz und gar uneigennütziger Liebe am eigenen Leben. Ein solcher Tod ist kein Opfer, in dem jemand etwas oder sich selbst opfern würde, um etwas zu erreichen oder zu vermeiden. Akte uneigennütziger Liebe werden ohne Weil und Wozu vollzogen. Sie richten sich ganz auf den anderen und nicht einmal als Mittel auf das eigene Leben. Ihr Sinn ist allein, das, was man tut, aus Liebe für den anderen zu tun, auch wenn man dabei sein Leben verliert. Als Maximilian Kolbe in Auschwitz-Birkenau freiwillig den Platz von Franciszek Gajow­niczek einnahm, hat er nicht sich selbst geopfert oder sein Leben final als Mittel zur Rettung des anderen eingesetzt, sondern er hat aus Nächstenliebe so gehandelt, dass er konsekutiv den Tod in Kauf nahm, weil ihm die Rettung des eigenen Lebens kein höheres Ziel war als die Praxis unbedingter Nächstenliebe. Ihm ging es nicht um den eigenen Tod, sondern um das Leben des anderen. Das Gute für dieses fremde Leben, nicht der eigene Tod ist das Ziel und der Zweck des Handelns aus Nächstenliebe. Der eigene Tod wird auch nicht als Mittel eingesetzt, um dieses Ziel zu erreichen, sondern er wird als gegebenenfalls unvermeidliche Folge dessen in Kauf ge­nommen, an der Liebe zum anderen unter allen Umständen festzuhalten. Es wäre keine uneingeschränkt uneigennützige Liebe, wenn man sich durch den drohenden eigenen Tod davon abbringen ließe. Doch wer das nicht tut und sein Leben verliert, setzt seinen eigenen Tod nicht als Mittel für einen Zweck ein, sondern erleidet ihn als Resultat seiner uneingeschränkten Nächstenliebe.

Deshalb sind solche Akte keine Opfer. Wo das Leben aus Liebe verloren wird, ist das Opfer am Ende. Niemand gibt hier jemandem etwas, weder fremdes noch eigenes Leben, um einen Zweck zu verwirklichen. Wenn andere dadurch überhaupt etwas erhalten, dann wird es ihnen nicht von dem, der sein Leben verliert, gegeben, auch wenn sie es ohne diesen Tod nicht erhalten oder bekommen könnten oder würden. »Liebesopfer« sind keine Opfer, sondern Taten der Liebe. Als Liebestaten gelten sie dem an­deren, aber sie intendieren nicht den eigenen Tod des Liebenden, schon gar nicht als Mittel für einen Zweck, sondern der Liebende erleidet den Tod, weil er sich nicht davon abbringen lässt, sein Leben als Liebe zum Nächsten zu leben. Sein Tod ist eine Konsequenz, nicht der Finalsinn eines Lebens, das sich am Wohl des anderen orientiert.

4. Passion der Liebe


Genau deshalb, so ist gegen Derrida zu betonen, kann eine Religion die Bereitschaft zum Tod aus Liebe weder fordern noch ausschließen. Lebensverlust aus uneigennütziger Liebe geht auch über Schillers altruistische Selbstaufopferung hinaus. Er ist kein Akt der Gewalt, weder gegen sich selbst noch gegen andere. Er ist überhaupt kein Akt, den der zu Tode Kommende vollziehen würde, um sein Leben zu beenden, sondern der erlittene – und nicht etwa gesuchte oder intendierte – Verlust des Lebens, sei es im bewussten Einsatz für das Leben der anderen, sei es mit faktischen Auswirkungen auf das Leben der anderen, die gar nicht intendiert gewesen sein mögen. Lebensverlust aus Liebe wird nicht dadurch zur Gabe für andere, dass er aktiv und intentional als Lebenshingabe praktiziert wird. Wer sein Leben aus Liebe verliert, gibt es nicht hin für andere, we­der eigennützig noch uneigennützig. Er liebt den anderen – bis in den Tod. Aber das Motiv und Ziel seiner Liebe ist das Leben, nicht der Tod, und dass sein Lieben in den Tod führt, ist kein Akt der Gewalt gegen sich selbst, sondern eine Folge der realen Situation seines Liebens, die sein Lieben zur Passion werden lässt.

Die entscheidende Differenz zwischen Opfer und Selbstaufopferung ist also nicht, dass im einen Fall das Leben eines anderen, im an­deren das eigene Leben dahingegeben wird: Während beim Opfer die Identität des Opfernden symbolisch auf das Opfertier übertragen wird, das an der Stelle des Opfernden den Tod erleidet, um diesem das Leben zu erwirken, wird beim Selbstopfer das eigene Leben real hingegeben, um anderen das Leben zu erwirken. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass der eigene Tod erst dann Ausdruck und Vollzug uneigennütziger Liebe wird, wenn er nicht mehr der Grenzfall des Opfers ist, in dem nicht anderes, sondern das eigene Leben geop­fert wird, sondern wo nichts, nicht einmal eigenes Leiden oder der drohende Tod einen davon abbringen kann, unbeirrt das für die anderen Gute anzustreben. Ziel solchen Liebeshandelns ist stets die Bewahrung und Besserung des Lebens der anderen, und führt das zum eigenen Erleiden von Übeln oder Tod, dann wird das nicht aktiv angestrebt, sondern als Passion der Liebe erlitten, wenn diese sich dadurch nicht von ihrem Einsatz für die anderen abbringen lässt.

Dass es eine solche uneigennützige Liebe gibt, die sich durch nichts davon abbringen lässt, für den anderen zu leben, und sei es um den Preis eigenen Leidens und Sterbens, versteht sich nicht von selbst. Das musste in den Religionen gerade auch im Blick auf Gott in einem langen Prozess erst entdeckt und gefunden werden. Die biblischen Traditionen dokumentieren das eindrücklich, beson­ders dort, wo sie im Paradigma des Opfers den Übergang von dessen Verständnis als Akt der Gewalt zum Verständnis als Akt der Liebe vollziehen und dabei die Entdeckung machen, dass das Opfer keine Zukunft, sondern ein Ende hat: Sein entscheidender Zug ist nicht, dass es reli­giös nötig, wenngleich unmöglich zu realisieren ist, sondern dass es möglich, aber nicht mehr nötig ist. Man kann opfern, auch sich selbst, aber man braucht es nicht, weil das, was man so zu erreichen sucht, durch das Opfer gar nicht erreicht werden kann und durch die Wirklichkeit uneigennütziger Liebe längst erreicht wird.

Diesen Übergang vom Paradigma des Opfers zum Paradigma einer ganz anderen Lebens- und Denkform belegen wirkmächtige Stränge in der biblischen Tradition, am eindrücklichsten die Er­zählungen von Abrahams Gottesprüfung und von Jesu Kreuzestod. Die erste stellt dar, dass auf Gottes Verheißung unter allen Um­ständen Verlass ist, die zweite, dass Gottes Macht nicht als Gewalt, sondern als Liebe zu verstehen ist. Zusammengenommen belegen sie, wie durch exemplarische Lebensexperimente deutlich wird, dass Gott Liebe ist, die keine Opfer will, sondern ein Leben in der bedingungslosen Zuwendung zum anderen.

II. Abrahams Gottesexperiment: Die Entdeckung der Verlässlichkeit Gottes


Die Erzählung von Abrahams Gottesprüfung in Gen 22 steht im Zyklus der Abrahamgeschichten, der sich von Gen 11,27 bis Gen 22 bzw. bis zur Erzählung von Abrahams Tod in Gen 25 erstreckt. Dieser Zyklus hat sein zentrales theologisches Motiv in der Gottesverheißung des Landes und der Segenszusage der Nachkommensmehrung und Volkwerdung (Gen 12,1–3; 13,14 ff.). Dass beides so betont wird, kann als Indiz der Infragestellung beider Verheißungen in der Exilserfahrung seit 587/586 verstanden werden, der wahrscheinlichsten Zeit der Entstehung dieses Zyklus.

1. Abrahams Schweigen: Die Ambivalenz Gottes


Hält man sich an den überlieferten Erzählzusammenhang des Abrahamzyklus, dann geht es in Gen 22 nicht um ein Drama zwischen Abraham und Isaak, sondern zwischen Israel, für das Abraham als »Stammvater« steht, und Gott.18 Die Handlungsdynamik der Erzählung entfaltet sich im Rahmen der am Beginn des Zyklus programmatisch angeführten Verheißung und Segenszusage an Abraham: »Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen und du sollst ein Se­gen sein« (Gen 12,1–3), die kurz vor Beginn der Aqeda-Erzählung in Gen 21,12 ausdrücklich auf Isaak hin zugespitzt wird: Nicht nach Ismael, sondern »nur nach Isaak soll dein Geschlecht benannt werden«, wie Gott Abraham zusichert.

Der narrativ entscheidende Konflikt besteht also nicht zwischen Abraham und Isaak, sondern zwischen einem Gott, der Abraham in und durch Isaak Großes verheißt, und demselben Gott, der Abraham im Blick auf Isaak zu einer Tat anweist, deren Aus­führung die Verwirklichung dieser Verheißung ganz und gar un­möglich machte. Diese mit dem Tötungsauftrag zum Ausdruck kommende Spannung zwischen Gottes Verheißung und deren Ver­unmöglichung durch Gott selbst ist der Widerspruch, der die Er­zählung bestimmt: Gibt Gott Israel mit der einen Hand, was er ihm mit der anderen wieder nimmt? Kann man sich auf einen verlassen, der alles Zugesagte jederzeit wieder zurücknehmen kann? Kann man da noch mit Gottes Treue, ja mit Gott rechnen?

Ausdrücklich wird beides, die Verheißung und die Anweisung zur Verunmöglichung der Verheißung, demselben Gott zugeschrieben, so dass kein Ausweg bleibt, die Verheißung auf Gott und die Infragestellung der Verheißung auf einen anderen als Gott zurück­zuführen, wie es in den an den Hiob-Prolog sich anlehnenden Fortschreibungen der Aqeda-Geschichte versucht wird.19 Abraham wird da­mit in einer Konfliktsituation dargestellt, in der es für ihn buchstäblich nichts mehr zu sagen gibt, weil Gott im Selbstwiderspruch versunken zu sein scheint. Mit anderen über Gott zu sprechen, führt nicht weiter, mit Gott selbst zu sprechen, ist un­möglich geworden, weil Gott für Abraham so zweideutig geworden ist, dass er nicht mehr als Bestimmter (»mein Gott«) ansprechbar ist.

2. Abrahams Handeln: Die Gottesprobe

Wo sich nichts mehr sagen lässt, entscheidet das Leben. Der Konflikt kann nicht ausdiskutiert werden, weil Gott als Gegenüber un­fassbar und unansprechbar geworden ist. Er kann nur ausgetragen werden, indem Abraham die eine Seite des sich widersprechenden und so sich selbst aufhebenden Gotteswillens beim Wort nimmt – bis zu dem Punkt, an dem sich entweder die Gottesfrage erledigt oder Gott selbst – so die Lösung der Erzählung – die Ambivalenz in seinem Abraham-/Israelverhältnis aufhebt und sich zu seinen Verheißungen bekennt. Pointiert gesagt: Nicht Abraham wird durch Gott, sondern Gott wird durch Abraham auf die Probe gestellt, indem dieser nichts mehr sagt, sondern handelt. Ab­raham nötigt Gott dazu, sich entweder als Gott aus dem Leben seines Volkes zu verabschieden oder sich als Gott zu erweisen und zu seinen Verheißungen zu stehen. Er wagt die Gottesprobe, und er gewinnt – nicht nur Klarheit (die wäre auch im negativen Fall gegeben gewesen), sondern Gewissheit, dass Gott zu seinen Verheißungen steht.

Warum wird diese Gottesprobe theologisch ge­rade durch die Ge­schichte von Abrahams Darbringung des ge­liebten Sohnes zur Darstellung gebracht? Weil sie in kaum zu überbietender Weise den Konflikt in Abrahams bzw. Israels Gottesverständnis und Gottvertrauen zum Ausdruck zu bringen vermag. Nicht dass es sein geliebter Sohn ist, den Abraham töten soll, ist narrativ entscheidend, sondern dass sein geliebter Sohn das einzige verlässliche Unterpfand der Verheißung Gottes ist. Indem Abraham sich anschickt, dieses Unterpfand der Verheißung Gottes im Auftrag Gottes selbst zu vernichten, wird die existentielle Extremsituation deutlich, in der er bzw. Israel sich Gott gegenüber befindet: Entweder ist das das Ende aller Ge­schichten Israels mit Gott, oder Gott muss seine Ambivalenz in der Geschichte Israels endgültig ablegen.

Eben zur Darstellung dieser Gottesprobe wird die Kultsage von der Ablösung der Kinderopfer durch die Tieropfer im Abraham­zyklus aufgegriffen und mit den Protagonisten Gott, Abraham und Isaak neu erzählt. Sie taugt nicht dazu, Folgerungen über den blanken Willkürwillen Gottes oder einen angeblich geforderten blinden Glaubensgehorsam bis zur moralischen Selbstvernichtung der Glau­benden zu ziehen. Um all das geht es nicht, sondern einzig um Beendigung der Fragwürdigkeit eines Gottes, der in seinen Zuwendungen und Abwendungen als reine Selbstwidersprüch­lichkeit erfahren wird und damit zu keiner Lebensorientierung taugt.20 Auf einen solchen Gott kann man sich nicht verlassen. Er erübrigt sich als Bezugs- und Orientierungspunkt menschlichen Lebens.

Das Resultat der in Gen 22 erzählten Klärung ist ein präziseres Gottesverständnis und Gottesverhältnis, das Gott nicht mehr un­differenziert in allem, sondern nur in bestimmten Erfahrungen suchen wird und wahrzunehmen vermag, und das auch nicht mehr alles, sondern nur noch Bestimmtes als Gottes Willen entsprechendes menschliches Leben und Handeln verstehen, akzeptieren und praktizieren kann. Das ist der Grund- und Ansatzpunkt der in der Tora gipfelnden jüdischen wie auch der im Liebesgebot konzentrierten christlichen Ethik: Man kann jetzt mit Bestimmtheit sagen, dass Gott oder Gottes Willen nichts zugeschrieben wer-den kann, was Gott in Widerspruch zu seinen Verheißungen oder den Menschen in Widerspruch zu Gottes Verheißungswillen bringen würde.

Das ist nicht selbstverständlich, denn warum sollte eine frei gegebene Verheißung nicht auch frei wieder zurückgenommen werden können? Genau diese Möglichkeit wird mit der Aqeda-Erzählung ausgeschlossen, indem ihre Realisierung zum Selbstwiderspruch und zur Selbstaufhebung Gottes gesteigert und damit zur faktischen Unmöglichkeit deklariert wird. Gottes Verheißungen sind gewiss, auch wenn man im Horizont eigener Lebens­er­fahrungen nicht wissen mag, woran man mit Gott ist – so könnte man die lebenspraktische Pointe dieser Geschichte zusam­men­fas­sen. Kann Gott aber nicht mehr von seinen Verheißungen unterschieden oder ihnen gegenüber willkürfrei gedacht werden, dann kann er auch nicht mehr für alles, sondern nur noch für sehr Bestimmtes in Anspruch genommen werden.

So gesehen erzählt Gen 22 mittels einer alten Sage (Ersetzung von Kinderopfern durch Tieropfer im Kult) eine neue und für das religiöse Leben und Denken Israels ungemein folgenreiche Ge­schichte: die Geschichte von der Vergewisserung über die Verlässlichkeit von Gottes Verheißungen durch die Gottesprobe Abrahams. Indem Abraham Gott, bei dem Israel nicht mehr weiß, woran es mit ihm ist, wortlos beim Wort nimmt und handelt, führt er eine Entscheidungssituation herauf, in der sich Gott für die Menschen entweder als gänzlich überflüssig erweist oder als der ausweist, der seinen Verheißungen schlechterdings nicht widerspricht, weil er sie nur um den Preis seiner Selbstaufhebung zurücknehmen könnte. Was an sich möglich und für die menschliche Erfahrung auch der Fall zu sein scheint, schließt Gott für sich als unmöglich aus und weist so die menschliche Erfahrung als Urteilsinstanz über ihn in die Schranken: Entweder es gibt keinen Gott, oder Gottes Verheißungen können auch von Gott selbst nicht wieder revoziert werden. Tertium non datur – so unterstreicht die Geschichte.

Mit diesem Ausgang des Gottesexperiments ist die Verheißung verlässlich in den Gottesgedanken eingezeichnet, d. h. Gott ist nicht mehr ablösbar von dem, was er Israel verheißen hat. Gott lässt sich nicht mehr gegen seine Verheißungen ausspielen. Wer »Gott« sagt, spricht von dem, der zu seinen Verheißungen steht.

III. Das Lebensexperiment Jesu: Die Entdeckung der Liebe Gottes


Ähnliches gilt auch für den christlichen Glauben an Gott. Dieser ist undenkbar ohne Bezug zum Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu. Doch dass sich in diesem Gottes Wirken und Wollen zu Guns-­ten der Menschen manifestiert, springt nicht in die Augen. Zwar hat Jesus den Evangelien zufolge in seiner Botschaft und seinem Heilungshandeln das Anbrechen von Gottes gutem Reich mit seiner Person und seinem Wirken unmittelbar verknüpft (Mt 11,5 f.), und er hat davon in den kurzen Jahren seines Wirkens auch eine Anzahl von Menschen überzeugen können, wie die Sammlung der Jünger belegt. Aber am Ende seines Lebens war nicht einmal mehr er selbst von dieser Verknüpfung überzeugt. Nach den Berichten der ältesten Evangelien Mk und Mt waren Jesu letzte Worte am Kreuz, ehe er laut schreiend starb, ein Schrei der Gottverlassenheit: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34; Mt 27,46) Das Zitat aus Ps 22 ist an dieser Stelle kein verkapptes Zeichen der Hoffnung auf Gott, sondern Ausdruck der Verzweiflung. Es ist Klage und Anklage dessen, der sich zu Unrecht und gegen alle Billigkeit von Gott verlassen erlebt, dem Gott in seiner Not und seinem Leiden nicht beisteht und keine Hilfe leistet, der ohne das Gottvertrauen, das Lk ihm in den Mund legt (Lk 23,46), und ohne die ihm bei Joh zugesprochene Zuversicht, die ihm von Gott zugedachte Aufgabe erfüllt zu haben (Joh 19,30), von Gott und der Welt verlassen stirbt.

1. Gottes Schweigen: Jesu misslungene Gottesprobe


Nach der Darstellung des Mk ist Gott selbst für Jesus der geworden, an dem er am Kreuz verzweifelt. Gewiss ist Gott immer noch auch der, dem Jesus das anklagend vorwirft. Ihn plagt nicht der intellektuelle Zweifel der Moderne an Gottes Existenz, sondern die praktische Verzweiflung über die Verborgenheit, den Entzug, die Tatenlosigkeit Gottes in höchster Lebensnot. Gott, an dem sein Leben in intimster Intensität (»mein Vater«) orientiert war, bietet keine Hilfe und Orientierung mehr.

Das widerspricht allem, was Jesus den neutestamentlichen Zeugnissen zufolge durch Lehren, Leben und Gleichnishandeln als »Evangelium Gottes« verkündet hatte:21 Gottes Heilszeit bricht an und beendet das Leiden der Menschen, die ihr Leben ändern und an das Evangelium glauben (Mk 1,15). Jesus lehrte und lebte nach allem, was wir wissen, in der Überzeugung, damit Gottes Willen zur Geltung zu bringen. Gerade deshalb ist das Schweigen Gottes am Kreuz für Jesus ein Wortbruch Gottes, Unrecht und Unbarmherzigkeit gegenüber dem, der alles auf Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gesetzt hat, verweigerte Hilfeleistung gegenüber seinem Geschöpf, Schuldigwerden des Vaters an seinem Sohn, Wi­derspruch gegen alles, was er in den Gleichnissen vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Samariter, in Krankenheilungen, Zeichenhandlungen und im Vergeben von Sünden von Gottes gutem Willen und Wirken für die Menschen verkündet hatte. Am Kreuz scheint der von Jesus verkündete Gott sich selbst untreu geworden zu sein, und in dieser Verzweiflung ist Jesus den ältesten Evangelienberichten zufolge gestorben.

Die Abrahamerzählung von Gen 22 und die Jesuserzählung des Markusevangeliums bringen damit beide ein Gottesexperiment ihrer jeweiligen Protagonisten zur Darstellung, in dem es um die Treue Gottes und die Verlässlichkeit seiner Verheißungen geht, aber beide tun es mit markant verschiedenem Verlauf und Ausgang. Abraham stellt der Erzählung zufolge Gott auf die Probe, als er angesichts von dessen widersprüchlichen Zusagen und Anweisungen nicht mehr weiß, woran er mit Gott ist. Am Ende der Erzählung hat Gott sich als der erwiesen, der von seinen Verheißungen nicht mehr zu trennen ist, weil er sich selbst darauf festgelegt hat: Gott ist der Gott der Verheißung, und weil Gott nicht anders sein kann und will, ist seine Verheißung für Israel auch dort verlässlich, wo das in konkreter Lebenslage nicht mehr zu erkennen ist. Jesus dagegen hatte der Evangeliumserzählung zufolge in seinem ganzen »Berufsleben« alles auf Gottes Zusage gesetzt und bis ans Kreuz mit Gottes Treue und Verlässlichkeit gerechnet, aber am Ende war er enttäuscht und an Gott verzweifelt gestorben.

Auf der Erzählebene endet die erste Erzählung positiv, die zweite negativ. Die narrative Logik der Aqeda-Erzählung bringt die Aufhebung der Ambivalenz Gottes in der Erzählung zur Darstellung, und zwar für Abraham selbst, der durch sein Handeln Gott in eine Situation führt, in der dieser sich für oder gegen sich selbst entscheiden muss und damit genötigt ist, sich auf das festzulegen, was er als Gott für Israel sein will: Die Entscheidung über Gottes Gottheit fällt in der Erzählung für Abraham selbst und wird so auch dargestellt. Im Markusevangelium dagegen wird die Ambivalenz bis ins Extrem der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz gesteigert und narrativ für diesen gerade nicht gelöst. Die narrative Logik der Evangelienerzählung lässt Jesus am Kreuz am Gegenpol zu allem enden, was in Mk 1,15 als Inhalt des Evangeliums genannt und in der Darstellung des Wirkens Jesu narrativ ausgeführt wird. Die eine Erzählung resultiert so in einem geklärten Gottesgedanken, die andere führt auf den Punkt, wo mit dem Ausdruck »Gott« nichts mehr Klares zu verbinden ist. Führt das narrative Gefälle der Abrahamerzählung für deren Protagonisten von der Gottesungewissheit zur Gottesgewissheit, so das narrative Gefälle der Evangelienerzählung von der Gottesgewissheit zum Gottesverlust.

2. Die Sicht der Dritten: Autobiographische und biographische Perspektiven


Aber das gilt nur, wenn man die Geschichten isoliert betrachtet und von ihren Fortführungen in weiteren Zusammenhängen ab­sieht. In der Abrahamerzählung wird in der Geschichte alles gesagt, was zu sagen ist. In der markinischen Jesuserzählung dagegen wird ein dramatischer Widerspruch aufgebaut zwischen dem Gottesverständnis des von Jesus verkündeten Evangeliums und dem Gottesverlust des am Kreuz verendenden Künders des Evangeliums, der nicht mehr narrativ-semantisch in dessen eigener Lebensgeschichte, sondern – die Erzählung vom leeren Grab (Mk 16, 1–8) und der sekundäre Mk-Schluss (Mk 16,9–20) bestätigen da s– erst in der Le­bensgeschichte derer gelöst wird, denen diese Ge­schichte erzählt wird und die den Gekreuzigten als Auferweckten er­fahren.

Nicht in der Lebensgeschichte Jesu und damit für diesen selbst, sondern in der Lebensgeschichte derer, die an ihn als Christus glauben, wird die Dunkelheit, in die das Gottesverständnis am Kreuz gerät, aufgehoben und beseitigt. Das belegen auch die anderen Evangelien, die das Lebensexperiment Jesu nicht mit dem Kreuz enden lassen, sondern in den Erzählungen von der Osterent­deckung der Auferweckung, den Erscheinungen des Auferweckten und seiner Auffahrt in den Himmel zu Gott fortführen. Das in dieser Geschichte erkannte und mit ihr bekannte Handeln Gottes kommt nicht im Leben, Sterben und Tod Jesu, sondern im Leben derer zum Ziel, die an ihn glauben (und kein Mensch ist davon ausgeschlossen, zu diesen zu gehören). Die theo­logische Pointe der Jesuserzählung liegt daher nicht in dieser selbst, sondern im Leben derer, die ihn als Christus bekennen, und nur unter Einbeziehung ihres Lebens kann sie auch dargestellt werden.

In der autobiographischen Perspektive von Jesus selbst endet seine Geschichte mit Gott nach Mk im Schrei der Gottverlassenheit. Erst in der biographischen Perspektive anderer auf die Jesusgeschichte wird deutlich, dass das nicht das letzte Wort zu Gottes Gottheit ist. Für sie wird die am Kreuz Jesu aufgebrochene Ambivalenz Gottes dadurch überwunden, dass ihr Verständnis Gottes ganz durch diese Jesusgeschichte geprägt wird. Die abgründige Aporie zwischen der Gottesverkündigung Jesu und seinem Le­bens­ende wird als Dialektik in das Gottesverständnis eingezeichnet, das eben dadurch nicht einfach jesuanisch bleibt, sondern christlich wird.

3. Gott als Liebe: Vom jesuanischen zum christlichen Gottesverständnis


Dabei werden bestimmte Züge des jesuanischen Gottesbildes verstärkt und vertieft, andere neu gewonnen. So ist es allein Gott selbst, der seine am Kreuz Jesu manifeste Ambivalenz aufhebt, indem er im Wirken des Geistes Menschen zum Glauben an Jesus als den Christus bewegt. Und es ist genau der Bezug auf die am Kreuz gipfelnde Geschichte Jesu, die als dessen Lebensexperiment mit Gott erzählt und als bleibende Bestimmtheit in das Gottesverständnis eingezeichnet wird. Das geschieht narrativ in den Metaphern der Auferweckung, der Auffahrt in den Himmel und des Sitzens zur Rechten Gottes, die alle auf je ihre Weise herausstellen, dass fortan Gott nicht mehr zu verstehen ist ohne den konkreten Bezug zur Lebensgeschichte Jesu und den Bezug zur Lebensgeschichte derer, die Jesus als Christus bekennen. Beide Konkretionsbezüge sind für das christliche Gottesverständnis maßgeblich ge­worden, wie die trinitätstheologischen Entwicklungen der ersten Jahrhunderte und ihre inhaltliche Verdichtung im Liebesgedanken belegen.

Dass die dramatische theologische Pointe des Lebensexperiments Jesu nicht in dessen eigener Lebensgeschichte, sondern erst in der Lebensgeschichte derer manifest wird, die ihn als Christus bekennen, verknüpft Jesu Lebensgeschichte und die Lebensgeschichten der Glaubenden nicht bloß äußerlich, sondern durch das sich fortbestimmende Bild desselben Gottes. Dieses durchläuft einen Interpretationsprozess, der vom jüdischen zum jesuanischen und weiter zum christlichen Gottesverständnis führt.22 Dieses erwächst so aus der jüdischen Tradition über deren jesuanische Pointierung, der Krise des jesuanischen Gottesverständnisses am Kreuz und der vertiefenden Fort- und Umbildung dieses Gottesverständnisses in der christlichen Deutung der Krise des jesuanischen Gottesverständnisses durch dieses selbst, die nicht der eigenen Deutekraft, sondern dem Augen öffnenden Wirken des Geistes Gottes zugeschrieben wird.

IV. Die kreative Passion der Liebe


Die Verdichtung dieses komplexen Prozesses in der Bestimmung Gottes als Liebe schafft erst den Gedanken einer uneingeschränkt uneigennützigen Liebe, die sich im Gottesverständnis Israels und in Jesu Vaterverständnis Gottes selbst die Voraussetzungen dafür schafft, im Leben und Sterben Jesu als Liebe wahrgenommen werden zu können, die aus dem Tod neues Leben schafft. Nicht Gott opfert Jesus am Kreuz, und Jesus opfert sich auch nicht selbst, sondern er geht in der Liebe zu denen, denen er das Anbrechen von Gottes guter Herrschaft ansagt, bis zum Tod am Kreuz. Eben dieses unbedingte Leben der Liebe zu seinen Nächsten bis ans Kreuz aber erweist sich für diejenigen, denen mit der Auferweckung Jesu dafür durch den Geist die Augen geöffnet wurden, als irreversibles Zeichen dafür, dass Gott selbst sich am Kreuz Jesu als selbstlos uneigennützige Liebe erweist, die ihren Geschöpfen bis in den Tod wohltuend und Neues schaffend nahe bleibt, auch wenn das nach unserer Einsicht diese nicht selbst, sondern nur andere erleben mögen. Denn indem Gottes Liebe das Leiden und Sterben ihrer Geschöpfe als eigene Passion erlebt und erleidet, wie das Kreuz er­schließt, transformiert sie fremdes Leiden in die Bestimmung ihres eigenen Lebens, aus diesem Leiden neues Leben zu schaffen, wie die Auferweckung verdeutlicht. Erlittenes Übel wird dadurch nicht aufgehoben oder rückgängig gemacht, sondern so überwunden, dass Neues und Gutes aus ihm wird.

Wo Opfer Gewalt durch andere Gewalt und Selbstaufopferung Gewalt gegen andere durch Ge­walt gegen sich selbst beenden und damit ein Übel durch ein anderes ersetzen, überwindet die Passion göttlicher Liebe Übles nicht durch Übles, sondern durch Gutes, indem sie sich aus Liebe zum andern ihrer selbst dazu bestimmt, aus Leiden und Tod neues Leben zu schaffen, dem Toten also eine Zukunft und dem Hoffnungslosen eine Hoffnung zu geben. Das kann kein Opfer und keine Selbstaufopferung leisten. Denn die Kluft zwischen alt und neu, Tod und Leben ist nicht durch Gewalt, auch nicht durch Gewalt gegen die Gewalt oder das Opfer des Op­fers zu überbrücken, sondern nur durch Liebe, die unerschöpflich Neues schafft – in dem, was sie tut, und in dem, was sie erleidet. Wahre Liebe will und wirkt nur Gutes, aber sie will und wirkt es auch nur auf gute Weise. Sie kennt keine Gewalt, sie praktiziert weder Opfer noch Selbstopfer, sondern sie volzieht sich in all ihren Aktionen und Passionen als uneingeschränkt uneigennützige Nächstenliebe, die stets das Leben und nie den Tod will – nicht einmal als Mittel, um Leben erlangen zu können. Nicht Selbstaufopferung ist daher der Höhepunkt der Religion, auch nicht in ihrer altruistischen Version, sondern selbstlos uneigennützige Liebe, die sich nicht im Paradigma der Gewalt verstehen lässt, sondern ihr eigenes anderes Paradigma etabliert.

»Könnte man sich eine Religion ohne Opfer ... vorstellen?« fragte Derrida. Theologisch ist zu antworten: In der Tat. Und man sollte es auch, wenn man Religion nicht nur als Ausdruck beschädigten Lebens, sondern neuen und erfüllten Lebens verstehen will.

Summary


The paper discusses the problem of self-sacrifice as posed by Der­rida in Foi et Savoir and by Schiller in the Theosophie des Julius. Whereas­ Derrida understands self-sacrifice as an act of violence against oneself in order not to subject others to violence, Schiller rightly insists that one must distinguish between egoistical and altruistic self-sacrifice. But even this doesn’t go far enough: Al­truistic self-sacrifice is different from suffering death as the consequence of an entirely unselfish love. Whoever loses his life out of love does not give it up for others, whether selfishly or unselfishly. He loves the other – to death. Such a death is not a (self-)sacrifice. It results from a passion of love, not an act of violence against oneself.

Fussnoten:

1) J. Derrida, Glauben und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Ders./G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt a. M. 2001, 9–106, 85.
2) A. a. O., 83.
3) A. a. O., 85 f.
4) Diese entscheidende Prämisse bleibt bei Derrida ganz unausgewiesen.
5) Diese Kritik ist alt. Wer meint, Blutschuld könne dadurch gesühnt werden, dass man neues Blut vergießt, ist wie einer, der in den Kot getreten ist und sich mit Kot abwaschen will, betonte schon Heraklit (VS I, 22 B 5). Im christlichen Denken wird dieses Argument schöpfungstheologisch akzentuiert wie bei Montaigne: Die verkehrte Schöpfung kann durch Opfer nicht zurecht gebracht werden, da jedes Opfer selbst ein Vergehen an Gottes Schöpfung ist (Essais 2, 12, hrsg. v. A. Thibaudet/M. Rat, Paris 1962, 502). Das Argument tritt aber auch, wie bei Nietzsche, als Vorwurf der Selbstaufhebung des Evangeliums auf: »Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden als Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer und zwarin seiner widerlichsten, barbarischen Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum!« (Antichrist. Fluch auf das Christentum, § 41. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, München-Berlin-New York 1988, 214 f.).
6) H. Gese, Die Sühne, in: Ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, München 1977, 85–106, 98.
7) Vgl. ausführlicher dazu I. U. Dalferth, Sühnopfer: Die Heilsbedeutung des Todes Jesu, in: Ders., Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 237–315.
8) F. Schiller, Philosophisch-Ästhetische Schriften, Theosophie des Julius, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, München 1975, 344–358.
9) A. a. O., 351.
10) A. a. O.
11) A. a. O.
12) A. a. O., 351 f.
13) A. a. O., 352.
14) A. a. O.
15) Vgl. die Rational Choice-Märtyrertheorie von R. Starke, The Rise of Christianity: A Sociologist Reconsiders History, Princeton 1996, die genau das propagiert. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren manchmal auch terroristische Selbstmordanschläge, auch wenn es Selbstmordattentäter auch aus anderen Gründen gibt. Vgl. B. Janowski, Ecce Homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Themen Biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2007, 9 ff.
16) Der Pelikan, der sich seine Brust aufreißt, um seine Jungen mit seinem Blut zu füttern, ist ein altes Sinnbild der aufopfernden Liebe.
17) Hans Jonas meint in seinem Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung (1979), das christliche Liebesgebot greife zu kurz. Es leide an einer Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung: »Man beachte, daß in all diesen Maximen der Handelnde und der ›Andere‹ seines Handelns Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart sind. Es sind die jetzt Lebenden und in irgendwelchem Verkehr mit mir stehenden.« (24) Dies reiche in Anbetracht der ökologischen Krise und der technischen Möglichkeit, die Menschheit dauerhaft auszulöschen, als Handlungsmaxime nicht mehr aus. Mit dem Wandel der Technik müsse die Ethik zur Fernstenliebe erweitert werden. Vor diesem Hintergrund formulierte Jonas einen ökologischen Imperativ: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Doch es ist abwegig, der Nächstenliebe die Fernstenliebe und Feindesliebe entgegenzusetzen. Recht verstanden schließt jene diese ein.
18) Es ist ja auffällig, was in dieser Geschichte nicht erzählt wird: Abraham redet nicht, Isaak protestiert nicht, Sarah kommt überhaupt nicht vor, von Ismael ist auch keine Rede, Abraham manifestiert Isaak gegenüber aber auch keine ambivalenten Gefühle, dieser äußert sich zum ganzen Geschehen überhaupt nicht, ja bleibt als Figur ganz undeutlich, und nach dem Widderopfer ist er aus der Geschichte verschwunden und Abraham geht mit seinen Knechten zurück nach Beerscheva. All das hat immer wieder zu mannigfachen Ausdeutungen und Weitererzählungen Anlass gegeben, indem man Abrahams Schweigen beredt auslegt, sich Sarahs durch den Schock über die vermeintliche oder wirkliche Tötung Isaaks ausgelösten Tod ausmalt, Isaaks Rolle in der Geschichte ausführlich ausarbeitet, indem man ihn nicht schweigend dulden, sondern seine Bindung und Opferung ausdrücklich anstreben und erbitten lässt usf. All diese schon in vorchristliche Zeit zurückgehenden Ausdeutungen und Fortschreibungen belegen, wie offen und beweglich die Textgeschichte lange war, sie haben an der Erzählung in ihrer jetzt vorliegenden biblischen Form aber kaum einen Anhalt: Sie füllen aus, was als Fehlen erlebt wird, weil es dort nicht gesagt und erzählt wird. Hält man sich aber an die explizite Narration von Gen 22, dann ist schon zu fragen, ob es sich überhaupt um eine Geschichte von Abraham und Isaak handelt oder nicht eher nur um eine von Abraham, in der auch Isaak vorkommt – wie es ja auch in der Tell-Geschichte trotz des Apfelschusses nicht eigentlich um den Sohn oder das Verhältnis zwischen Vater und Sohn Tell geht. Das figurative Inventar der Geschichte und die darin angelegten Beziehungsmöglichkeiten sind jedenfalls noch kein hinreichender Schlüssel zu ihrem Verständnis. Dazu muss man sich an das halten, was tatsächlich erzählt wird, sich also auf den narrativen Prozess und dessen Dynamik und Dramatik einlassen.
19) Vgl. etwa die Versionen der Geschichte, die in Qumran gefunden wurden, in denen »Prinz Mastemah« und seine bösen Engel gegen Abraham bei Gott intrigieren (4Q225 2 i und ii; 4QPs-Juba 2 i 7–14, 2 ii 1–14).
20) Die Pointe wird klar erfasst in den Zwillingsgleichnissen von BerR 56, 11, die Gen 22,15 f. interpretieren. Es ist Abraham, der durch seine Glaubensstärke Gott davor bewahrt, sich in einen tödlichen Selbstwiderspruch zu verwickeln und die Verheißung, die er gegeben hat, selbst zunichtezumachen. Und es ist dem zweiten Gleichnis zufolge auch nicht Gott, der Abraham, sondern Abraham, der Gott schwören lässt, so etwas nie wieder zu tun: »Schwöre mir, dass du mich von nun an nicht mehr versuchen wirst«. Damit ist Gott durch göttlichen Schwur auf seine Verheißung festgelegt und von nun an verlässlich. Vgl. C. Thoma/S. Lauer, Die Gleichnisse der Rabbinen II, Bereschit Rabba 1–63, JudChr 13, Bern 1991, 308–310.
21) G. N. Stanton, Jesus and Gospel, Cambridge 2004, Kapitel 1, führt den Evangeliumsbegriff unter Verweis auf Jes 61, Lk 4 sowie die Q-Passage Lk 7,19–13 bzw. Mt 11,2–6 bis auf Jesus selbst zurück.
22) Gottesverständnisse sind nur in pluraler Vielfalt gegeben, auch das von Jesus, das nur in den Brechungen der Evangelien zugänglich ist. In Jesu Lehren und Leben wird das Gottesverständnis der ihm vermittelten prophetischen und theologischen Traditionen Israels in spezifischer Weise aufgegriffen und zugespitzt: Jesu Gottesverständnis des »Vaters im Himmel« ist eine verdichtende Konzentration und lebenspraktische Pointierung des überkommenen Gottesverständnisses Israels. Dieses jesuanische Gottesverständnis, das Jesus verkündet und gelebt hat, gerät am Kreuz in die Krise. Das hätte das Ende dieser jesuanischen Zuspitzung der theologischen Tradition Israels sein können. Doch es ist gerade umgekehrt gekommen, insofern das, was da beendet schien, zum Rahmen des Verständnisses auch dieses Endes wurde. Indem das Kreuz von den Anhängern Jesu im Licht seines Gottesverständnisses verstanden und im Verweis auf das Wirken des Geistes, der ihnen die Augen geöffnet hat, durch Gottes Auferweckung des Gekreuzigten interpretiert wird, wird die Kreuzes-Krise des jesuanischen Gottesbildes in und mit diesem selbst verarbeitet und dieses dadurch zum christlichen Gottesbild fortbestimmt.
23) Derrida, a. a. O., 85 (Anm. 1).