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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

75–77

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Grundriß der Sozialethik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. XXVI, 790 S. 8°. Kart. DM 78.-. ISBN 3-11-014474-3.

Rezensent:

Friedrich Heckmann

Der "Grundriß der Sozialethik" soll die 1990 erschienene "Einführung in die Theologische Ethik" ergänzen und fortsetzen. Beide sind als Lehrbücher konzipiert und erschienen. Sie gehören sachlich zusammen. Wollte die Einführung "eine theologische Begründung der Ethik" geben, "über ethisch bedeutsame Sachverhalte" informieren, "ethische Argumentationen" vorstellen und "als Anleitung für die Berufsausübung des Pfarrers (!) verstanden" werden (Einführung, V u. VI), so gibt der vorliegende Grundriß der Sozialethik "Anleitung zur eigenständigen Urteilsbildung" (Grundriß, X), ohne freilich ein Verfahren ethischer Urteilsbildung zu reflektieren, sondern will vielmehr deskriptiv "Einsichten aufgrund von Erfahrungen vergegenwärtigen" (a. a. O. VII). Aus den weithin geschichtlichen Erfahrungen gewinnt die Ethik Einsicht und Orientierung. Begründet in dieser historischen Herangehensweise legt H. einen mit nahezu 800 Seiten sehr umfangreichen zweiten Band seiner Sozialethik vor, der in lexikalischer Gründlichkeit die angesprochenen Problemfelder der materialen Sozialethik bearbeitet, deren Auswahl jedoch nicht immer ganz einsichtig gemacht wird.

So wird beispielsweise im VI. Kapitel unter Wirtschaft Arbeit, Beruf, Probleme der Arbeitswelt in gleich drei von acht Paragraphen erörtert, aber Problemfelder wie Internationalisierung der Arbeits- und Kapitalmärkte, globale Kapitalströme, deren fehlende Kontrolle und die Auswirkungen auf die Nationalökonomien in der gesamten Sozialethik ausgeblendet.

Vervollständigt wird die lexikalische Herangehensweise durch eine 60seitige Auswahlbibliographie, für Studierende sicherlich hilfreich, in ihrer Zusammensetzung aber von sehr unterschiedlicher Qualität, vor allem berücksichtigt sie, wie der gesamte Grundriß, nicht die angelsächsische Literatur. Des weiteren glaubt H., ohne Anmerkungen und Sachregister auskommen zu können. Das mindert den Wert des Grundrisses als Lehr- und Arbeitsbuch für Studierende.

H. will seine Sozialethik in der Tradition der Schleiermacherschen Sittenlehre als Güterlehre verstanden wissen. Diese "Güterlehre ist... zugleich Einführung in das kulturelle Gedächtnis evangelischer Tradition", da Sozialethik ohne Erinnerung nicht möglich ist (7). Indem er auf die Tradition der Güterlehre zurückgreift, will H. die Vielfalt der Lebenserfahrungen wahrnehmen und so zu Alternativen im Denken und Handeln kommen. Wie schon in der "Einführung" versucht er, den seiner Ansicht nach falschen Ansätzen einer christologischen Begründung von Ethik und einer ontologisch verstandenen Ordungstheologie zu entkommen, die beide je auf ihre Weise an der Vielfalt des Lebens vorbeizielen. Dies kommt in der Gliederung mit acht großen Kapiteln zum Tragen, die in einem weiten Feld von Problemen und ethischen Fragestellungen Wirklichkeitsdeutung wahrnehmen und qualifizieren wollen.

Im ersten Kapitel nimmt H. die eben angesprochene Fragestellung unter dem Stichwort "Weltanschauung und Ethik" auf und weist darauf hin, daß die Zuordnung von theologischem Urteil und Sachanalyse das "heimliche Leitthema" jedweder theologischer Weltdeutung sei (13). Ohne es explizit auszusprechen macht er durch alle Paragraphen seines Opus deutlich, daß er über Sachverstand und Sachanalyse zu seinem Konzept einer Ethik des alltäglichen vernünftigen Diskurses kommt, wie er es schon in früheren Arbeiten vorgelegt hat. Nach diesem "theologisch-weltanschaulichen" Auftakt kommt H. zu der in sechs Kapiteln aufgegliederten Entfaltung der Güterethik.

Im zweiten Kapitel wendet er sich der Grundlage seiner Ethik unter der Überschrift Leben und Gesundheit zu. Auch wenn dieses Kapitel unter dem Gesichtspunkt des Lebens als fundamentaler Grundlage angekündigt war, so beschäftigt es sich lediglich mit dem menschlichen Leben, die Relationalität zu nichtmenschlichem Leben wird nur angedeutet. Mit dieser Engführung trifft H. in der Tat eine "weltanschauliche" Vorentscheidung, die deutliche Konsequenzen für die Abhandlung der Güter von Natur und Umwelt (Kap. IV) und Wirtschaft (Kap. VI) hat. Es geht also in dem Kapitel weniger um das Leben als fundamentale Grundlage als um eine konventionelle medizinische Ethik, entfaltet unter den Problemstellungen von Gesundheit und Krankheit, Beginn und Ende des Lebens, Organverpflanzung, das Gesundheitswesen als ethisches Thema (entfaltet durch 1. Das Krankenhaus und 2. Aids), ärztliche Aufklärungspflicht sowie Experimente am Menschen.

Die Fülle des Materials, das H. ­ auch wieder im dritten Kapitel über Ehe, Familie und Sexualität ­ ausbreitet, kann ich in dieser Besprechung nur benennen, auch wenn es sehr reizvoll wäre, sich beispielsweise mit der m. E. unzureichenden Definition von Gesundheit und Krankheit (vgl. 83 ff., insbesonders die unkritische Auseinandersetzung mit der in der Präambel der WHO enthaltenen Definition von Gesundheit) und anderen schwierigen Explikationen auseinanderzusetzen. Manche kritische Anfragen lassen sich vor allem dadurch erklären, daß H. sich häufig in der Diskussion der 70er Jahre bewegt und so natürlich z. B. in der Frage der nichtehelichen Gemeinschaften die sozialwissenschaftliche Forschung, in der Frage der Scham die psychotherapeutische Diskussion oder in der Frage der Pornographie die feministische Auseinandersetzung ausblendet.

Das Fehlen eines neueren Diskussionsstandes betrifft auch das vierte Kapitel, auf das ich schon kurz eingegangen bin. Mit der angesprochenen Vorentscheidung betrachtet H. Ökologie einfach als einen Gegenstand von Ethik und kann ökologische Ethik natürlich nicht als eine prinzipiell andere Form der Ethik verstehen. Genau dies aber ist ja gerade der Versuch von Günter Altner u. a., der auf eine umfassende Neuorientierung zielt, die eine Zuordnung, wie H. sie vornimmt, nicht mehr zuläßt. Die Vernetzung der Probleme, die durchaus gesehen wird, verlangt mehr als ein additives Herangehen an die Problemfelder. Hier fehlt die Rezeption der interdisziplinären Auseinandersetzung um die Bioethik. Der Versuch der Vernetzung der Probleme in Fragen der Natur, der Technologieentwicklung in Medizin, Informations- und Kommunikationswissenschaften sowie in Bio- und Technikwissenschaften, in Wirtschaft und Politik hätte sicher auch zu einer anderen Herangehensweise an die Kapitel V bis VII geführt, die sich mit Problemstellungen der Politik (Kap. V), der Wirtschaft (Kap. VI ­ nicht als Teil von Politik!) und der Kultur als Lebensgestaltung (Kap. VII) beschäftigen.

Mit dem Kapitel Kultur ist die Einteilung des Materials in dieser Sozialethik ein weiteres Mal nicht ganz einsichtig. Außer den in diesem Kapitel VII angesprochenen Problemfeldern von Technik, Wissenschaft, Information u. a. hätten sicher andere materiale Teile der übrigen Kapitel unter diesem Gesichtspunkt diskutiert werden können, wenn man denn wie H. eine Ethik der Kultur für notwendig hält. Ist Arbeit im Gegensatz zu Rechtsstrafe, Ehre und Eid keine "Kulturleistung" und "Aufgabe menschlicher Kultur und bewußter Gestaltung" (523)? Wären die Fragen der Informations- und Kommunikationstechnik, wie auch von Technik und Wissenschaft ­ H. ignoriert die heute gebräuchliche und auch notwendige Unterscheidung von Technik und Technologie ­ nicht eher der ethischen Refexion im Kontext von Wirtschaft und Politik zuzuordnen? Zumindestens aber besteht kein Grund, Kirche in der Gesellschaft (Kap. VIII) als Aufgabe der Lebensgestaltung begreifend nicht in diesem Zusammenhang des siebten Kapitels zu verhandeln.

H. schließt seinen Grundriß, indem er sich der empirischen Gestalt von Kirche zuwendet. Damit wird noch einmal ganz deutlich, wie stark dieser Grundriß eine "kirchliche" Sozialethik ist, ohne daß der Kirche in der theologischen Fundierung von Sozialethik Gewicht zugemessen würde. Sie bleibt wie das Christliche eine motivierende Größe. Eine ekklesiologische Erörterung ist nicht Sache der Ethik. (Daß dies auch anders gesehen wird, z. B. bei E. Dussel oder vor allem in der angelsächsischen Literatur von P. L. Lehmann, R. Preston, S. Hauerwas, erwähnt und diskutiert Honecker nicht.) In Kap. VIII wird Kirche in ihrer "weltlichen, öffentlichen Existenz als gesellschaftliches Subjekt" untersucht, unter besonderer Aufmerksamkeit ihrer Stellungnahmen. Und gerade das macht diese Sozialethik zu einer "kirchlichen": die ständige Reflexion kirchlicher Stellungnahmen.

In seinem abschließenden Ausblick versucht H. noch einmal, den immer wieder durchscheinenden Gegensatz von theologischer Weltdeutung (Weltanschauung, vgl. 11-13) und vernünftiger Sachanalyse zusammenzubinden und zu sagen, was denn nun das christliche an einer ansonsten vernünftigen theologischen Ethik sei. "Die Reflexion theologischer Ethik bliebe am Ende in den Widersprüchen eines disparaten Lebens und einer ratlosen Gegenwart gefangen, wenn sie die Wirklichkeit allein aus der Perspektive beanspruchender und fordernder Verantwortung betrachten müßte" (711). Die "theologische Würdigung der irdischen Güter" entgehe dieser Aporie durch die Verbindung mit der Doxologie. Die Frage, die H. jetzt nicht beantwortet, legt sich bei einem solchen Schluß einer christlichen Sozialethik nahe: Bleibt alle nicht-theologische Ethik dann Aporetik?