Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

742-745

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Neijenhuis, Jörg

Titel/Untertitel:

Gottesdienst als Text. Eine Untersuchung in semiotischer Perspektive zum Glauben als Gegenstand der Liturgiewissenschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 461 S. m. 1 DVD. gr.8°. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02453-7.

Rezensent:

Helmut Schwier

In seiner Bonner Habilitationsschrift (Erstgutachter: Michael Meyer-Blanck) legt Jörg Neijenhuis die detaillierte Untersuchung eines – auf der dem Buch beigefügten DVD dokumentierten – Gottesdienstes aus dem Berliner Dom vor, den er als »Text« liest und in semiotischer Perspektive analysiert (Teil II, 158–409). Dazu ist es notwendig, die semiotischen Theorien und deren Verwendungen innerhalb der (Praktischen) Theologie darzustellen und für die vorgelegte Gottesdienstanalyse zu klären (Teil I, 70–155). Da N. gleichzeitig die beiden Thesen entfaltet und zusammenführt, dass die Liturgiewissenschaft historische, systematisch-theologische und praktisch-theologische Zugänge zum Gottesdienst aufnimmt wie eigenständig integriert und dass sie ihren Gegenstand im gefeierten Glauben findet, sind außerdem forschungsgeschichtliche und systematisch-theologische Klärungen zum Glaubensbegriff wie zu den Begriffen Text und Gottesdienstfeier notwendig (Teil I, 16–69). Am Ende wird das Ergebnis der Untersuchung zusammengefasst (Teil III, 412–432). Literatur- und Quellenverzeichnis sowie verschiedene Register (Bibelstellen, Kirchenlieder, Stichworte, Personen) beschließen das Buch (Teil IV, 434–461).
Die systematischen Klärungen im I. Teil erfolgen zum Glaubensbegriff in Darstellung und Aufnahme der Reflexionen von Wilfried Härle, Wolfhard Pannenberg und Ingolf U. Dalferth. Dabei wird die relationale Grundbestimmung des Glaubens hervorgehoben, die sich in formaler Hinsicht als anschlussfähig erweist zu lutherischen Positionen wie zu semiotischen Einsichten, aber auch zur Alltagserfahrung. Nicht die Diastase zwischen Gott und Mensch, sondern die abgestufte Beschreibung des Glaubens als Werk Gottes und des Menschen steht im Mittelpunkt: »Wird die Beziehung zwischen Gott und Mensch als Glaube bezeichnet, ist es möglich zu sagen, dass aus Sicht des Menschen diese Beziehung entsteht, dass sie da ist und sich entwickelt« (34). Diese Beziehung wird nicht erzwungen, sondern von Gott aus aufgenommen und erweist sich für den Menschen als entscheidende Lebensmöglichkeit. N. verknüpft dann zu Recht den Glaubensbegriff mit der Wahrheitsfrage, die er später auch mit Peirces »Gottesargument« und der – von Eco bekanntlich abgewiesenen – Relevanz des »Referenten« verknüpft (125 ff.), differenziert mit Dalferth zwischen den verschiedenen Dimensionen des Glaubens (doktrinal, spiritual, pragmatisch) und votiert für eine pneumatologische Lebensform als Erfahrungsgemeinschaft, die gerade auch durch Teilhabe am Gottesdienst gebildet wird (38 f.). Mit Peirce und Härle wird die Abduktion als rationales Schlussverfahren skizziert, das ohne Letztbegründungsanspruch qualitative Wissenserweiterungen ermöglicht. Dadurch wird der Glaube als qualitative Wahrheitserkenntnis bestimmbar, der z. B. auch anhand einer Gottesdienstfeier – als Text gelesen – aufweisbar und beschreibbar ist (42).
Bevor diese Durchführung geschieht, werden aber noch – der Gattung der Habilitation folgend – forschungsgeschichtliche Darstellungen zur Praktischen Theologie als Wahrnehmungswissenschaft vorgelegt, aus denen exemplarische Positionen (Grözinger, Gräb, Heimbrock) zu ersehen sind. Leider erfolgt hier mehr Referat als kritische Diskussion oder Grenzziehung, die mithilfe des Glaubensbegriffs, der ja keineswegs im Zentrum gegenwärtiger praktisch-theologischer Theoriebildung steht, durchaus spannungsreich hätte erfolgen können, zumal N. durchblicken lässt, dass durch den Glaubensbegriff ein dritter Weg zu gehen möglich ist, der die Aporien offenbarungstheologischer wie anthropologischer Zugänge vermeidet. Auch die Darstellung semiotischer Theorien beschränkt sich auf das gleichermaßen knappe wie klare Referat der Klassiker von Peirce bis Eco. Eine kritisch-bewertende Durchführung wäre zu erwarten gewesen bei der interessant zu lesenden Beschreibung der verschiedenen, am Anfang häufig noch tastend-unsicheren Rezeptionen der Semiotik in Liturgik (und, exkursartig erwähnt, in Homiletik und Religionspädagogik), die von Schiwys Arbeitsbuch »Zeichen im Gottesdienst« (1979) bis zu Volp und Bieritz reichen und mit Meyer-Blancks Forschungsberichten von 1997 und 2001 schließen. Das ist durchaus sachgerecht, auch werden die einzelnen Positionen in Einzelheiten kritisch kommentiert, aber bei der Umsetzung semiotischer Theorien in konkrete Methoden und Fragestellungen (das ständige Grundproblem semiotisch arbeitender Praktischer Theologie), greift N. im Wesentlichen auf Eco und seine Rezeption durch Schiwy und Bieritz zurück; hier hätte ich mir einen zusätzlichen Begründungsschritt gewünscht, der noch stärker als in Abs. I,6 auch die Problematik von Peircerezeption (meist in der Systematik) und Ecorezeption (meist in der Praktischen Theologie) reflektiert. Am Schluss des I. Teils gelangt N. zur Klärung der Begriffe Sprache, Code, Zeichen, Semiose und Struktur und zu analysefähigen Differenzierungen in Wortsprache, Körpersprache, Klangsprache, Objektsprache, Sozialsprache samt ihren unterschiedlichen Codeparadigmen, -syntagmen und Subcodes (insgesamt: 15). Damit sind Begriffe und Kriterien für die Einzeluntersuchung des Gottesdienstes benannt, um dort Signifikations- und Kommunikationsprozesse zu beschreiben.
Diese Einzeluntersuchung erfolgt im Sinne deskriptiver Semiotik nicht nur hinsichtlich des konkreten Gottesdienstbeispiels, sondern ebenfalls durch Darstellung von vier gegenwärtigen Liturgien als schriftliche Quellen (Evangelisches Gottesdienstbuch, Katholisches Messbuch, Lutheran Book of Worship [USA, Kanada], Common Worship [anglikanische Kirchengemeinschaft]). Das weitet nicht nur den Horizont um wirkungskräftige englischsprachige Liturgien und die römisch-katholische Tradition, sondern dient in erster Linie der Beschreibung der liturgischen Sprachkompetenz, wie sie durch die Ritualbücher vorausgesetzt und gebildet wird. Des Weiteren sind die Ritualbücher und ihre Liturgien durch unterschiedliche konfessionelle Traditionen und Reformschübe samt Umcodierungen geprägt, deren Untersuchung zur historischen Tiefenschärfe beiträgt und damit die im I. Teil der Arbeit angegebene historische Seite der Liturgiewissenschaft einholt, aber auch die Fülle der nonverbalen Zeichen und Marker berücksichtigt. Die Fülle des Materials, die an manchen Stellen der ausführlichen Deskriptionen auch zu angestrengter Lektüre führt, strukturiert N. einsichtig, indem die gegenwärtigen Liturgien hinsichtlich der Zeichengestalten und Sprachebenen (Signifikante und Codierungen), die liturgischen Traditionen hinsichtlich der Zeichenbedeutungen (Signifikate und Referenten) und das Gottesdienstbeispiel aus Berlin hinsichtlich der Kommunikation (Semiose) beschrieben werden; das ergibt drei Schritte, die jeweils an den vier großen Teilen des Gottesdienstes der Messtradition (Eröffnung, Wortteil, Mahlteil, Schluss) durchgeführt werden und den materialen Hauptteil darstellen, in dem zahlreiche Einzelbeobachtungen präsentiert werden, die im Übrigen auch ohne gleichzeitiges Anschauen der DVD verständlich sind.
Die 21-seitige Zusammenfassung bietet die kompakten Ergebnisse aus Teil I und II. Anregend und ökumenisch weiterführend sind u. a. die detailliert aufgewiesenen Gemeinsamkeiten der Liturgien auf den Ebenen der Sprachen und Codierungen, vor allem bei den Wortsprachen und den Klangsprachen, während bei den Körpersprachen nur die katholische Tradition die Fülle der Codierungen beinhaltet. Die Beschreibung des Berliner Gottesdienstes bringt als Überraschung, dass in diesem Abendmahlsgottesdienst die Strukturierung als Predigtgottesdienst ausgesprochen stark prägt, obwohl auf der Ebene schriftlicher Liturgie eine Messe gefeiert werden soll; das würde in der Konsequenz bedeuten, dass Gestaltungen und Inszenierungen anderer evangelischer Gottesdienste auch auf Diskrepanzen zwischen schriftlicher und gefeierter Liturgie hin zu überprüfen wären und dass Inszenierungs- und Formprobleme nicht, wie häufig behauptet, in der »abendmahlslosen Messe« liegen, sondern in der Dominanz des Predigtgottesdienstes im Vollzug der Feier; auch wenn dies infolge langer und stabiler Konventionen verständlich ist und die Messe samt ihrer eucharistischen Dimension nicht zur alleinigen Norm evangelischer Gottesdienste erhoben werden kann, wird hier Klärungs- und Gestaltungsbedarf deutlich, der die komplexe Pluralität der Sprachen, Codierungen und Zeichenbedeutungen wahrnimmt und berücksichtigt.
Insgesamt sehe ich drei wesentliche Stärken der Arbeit. Zunächst führt sie eindrucksvoll vor, wie komplex eine Gottesdienstfeier ist und wie diese Komplexität dank der semiotischen Perspektive strukturiert zu erfassen ist und darin Erkenntnisgewinne auch für Gestaltungsfragen bietet. Dadurch zeigt sie zweitens, dass in den derzeitigen Diskursen der Liturgiewissenschaft die Semiotik nach wie vor eine zentrale Bedeutung hat und keineswegs durch kulturwissenschaftliche Performanztheorien samt deren häufig pathetisch vorgetragener »turn«-Rhetorik einfach ersetzt werden kann. Schließlich ist die Ausrichtung auf den Glaubensbegriff ein origineller und produktiver, jedoch auch umstrittener Zugang, weil der im Gottesdienst gefeierte Glaube durch eine semiotisch informierte Liturgiewissenschaft gelesen werden kann, weil Codierungen und Zeichenbedeutungen konkret benannt werden (418 ff.) und weil dies einen Beitrag zum interdisziplinären Gespräch darstellt, den eine hermeneutisch und realistisch arbeitende Theologie aufnehmen und exegetisch wie systematisch diskutieren wird. Hier darf man auf produktiven Streit gespannt sein.