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Ausgabe:

Juni/2010

Spalte:

738-740

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klie, Thomas, Kumlehn, Martina, u. Ralph Kunz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie des Alterns.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. VII, 617 S. m. Abb. gr.8° = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 4. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-020374-5.

Rezensent:

Ralf Evers

Das Thema Altern und Alter ist in der Praktischen Theologie angekommen. Die Namen der Herausgeber – Ralph Kunz vor allem, aber auch die Rostocker Praktischen Theologen Martina Kumlehn und Thomas Klie – verbinden sich mit einer erwachenden theologischen Aufmerksamkeit für das Alter und für sozialgerontologische Fragen. Vor allem aber belegen sie durch ihre Veröffentlichungen und nicht zuletzt durch den vorliegenden Sammelband »Praktische Theologie des Alterns« die praktisch-theologische Relevanz des Themas wie die Diskurs- und Anschlussfähigkeit der Praktischen Theo­logie im Kreis der Human- und Sozialwissenschaften.
Obgleich die Herausgeber selbst als Ausgangspunkt konstatieren, dass die Theologie über weite Strecken noch nach ihrer Stimme im Konzert der sich interdisziplinär entfaltenden Auseinandersetzung mit den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft suche (1), bleibt festzustellen, dass die im Band erreichte Vielstimmigkeit im Blick auf die Gerontologie fachlich und sachlich wohltuend ist und gleich eine ganze Reihe von Einzelbeiträgen wichtige Impulse für die interdisziplinäre Alters- und Alternsforschung darstellen.
Zu dieser Einschätzung geben insbesondere die Beiträge im Mit­telteil des Bandes Veranlassung, die unter der Überschrift »Phänomene« versammelt wurden. Für die »Phänomene« formulieren die Herausgeber demgegenüber den Anspruch, dass »zentrale Er­scheinungsformen einer Lebenskunst des Alterns religions- und kulturhermeneutisch reformuliert« (4) werden. Stichworte des Mit­telteils sind: Leiblichkeit, Erinnerung, Zeitwahrnehmung oder auch Profession, Demenz und Bestattungskultur. Der Entschluss der Herausgeber, die anthropologisch-hermeneutischen oder auch kultursemiologischen Beiträge dieses Mittelteils hervorzuheben und von den einleitenden Perspektiven (Teil I) und den Handlungsfeldern (Teil III) zu unterscheiden, ist nachvollziehbar und hilfreich. In den »Perspektiven« werden relevante Bezugsdiskurse aus demographischer, gerontologischer oder auch sozialpolitischer Sicht vorgestellt; die abschließenden »Handlungsfelder« folgen einer disziplinären Aufgliederung der Praktischen Theologie von der Homiletik bis zur Diakonik.
So instruktiv also die Gliederung und gleich eine ganze Reihe von Beiträgen des Bandes sind, so irreführend scheint mir allerdings der Rekurs auf eine »Philosophie der Lebenskunst« und eine »Lebenskunst des Alterns«. Im Blick der Herausgeber sind es die »Fragen der Vergewisserung des Subjekts«, die sich in den Sinnkrisen des dritten Lebensalters verdichteten und radikalisierten. Die »sogenannten Best-Ager« seien einerseits durch ihre Lebensgeschichte und ihren Lebensstil in ihrer »ästhetischen Existenz« gereift, andererseits seien sie aus vielen Verpflichtungen und Begrenzungen befreit, so dass sich die Frage nach der Sinngebung und Lebensgestaltung des eigenen Daseins noch einmal neu stelle (2). Diese Fokussierung auf das Subjekt und seine »Wahrnehmungs-, Frage- und Vergewisserungskultur« erscheint einseitig und verstellt den Blick auf das Alter als »soziales Schicksal« wie als hochindividuelles Geschehen. Die Lebenskunst spiegelt sich in den Beiträgen des Bandes auch so nicht wider. Im Gegenteil werden wiederholt die Milieudifferenzierung innerhalb der Altenkohorte oder die soziale Bedingtheit der Alternsprozesse (insbesondere in den eröffnenden Perspektiven durch François Höpflinger im Beitrag zur Sozialgerontologie und Thomas Schlag im Beitrag zur Altenpolitik) wie der Altersbilder (z. B. bei Andreas Kruse im Beitrag zur Kulturellen Gerontologie oder Wilhelm Gräb und Lars Charbonnier im Beitrag zur Medienwirklichkeit) thematisiert.
Aus diesen Ansätzen ließe sich im Übrigen auch ein indirekter Widerspruch zum populären, oft normativ aufgefassten Diktat eines »erfolgreichen Altern« herausarbeiten. Das gerontologische Theorem des succesfull aging findet interessanterweise im vorliegenden Band nur bei den einleitenden Beiträgen von Höpflinger und Schlag ausdrückliche Erwähnung – und bliebe aber vermutlich auch an anderen Orten nicht unwidersprochen. Schließlich geht es dort, wo über Altern als Entwicklungsaufgabe nachgedacht und wo Religion als Ressource fruchtbar gemacht wird, aus theologischer Sicht stets um die Möglichkeit des Gelingens wie um die Begrenztheit und Verletzlichkeit des Lebens (so z. B. Karl Foitzik im Beitrag zur Gemeindepädagogik). Die vorgelegten Beiträge lassen sich gerade aufgrund ihrer Berücksichtigung alterspezifischer Lebens- und Glaubensweisen als Beiträge zu einer alternssensiblen christlichen Anthropologie lesen.
Im Textzusammenhang: Die einführenden Perspektiven er­schließen die Grundfragen der aktuellen Gerontologie, bieten aber wenig Überraschungen: François Höpflingers knapp gefasste sozialgerontologische Einführung ins Thema mündet so in die Auseinandersetzung mit vier aktuellen Leitbildern eines modernen Alterns. Er unterscheidet erfolgreiches, produktives, bewusstes und solidarisches Altern – die aber allesamt auf die sog. dritte Lebensphase bezogen würden, während im Blick auf eine vierte Lebensphase Defizitvorstellungen weiterhin dominierten. Eine Ausführung des Konzepts solidarischen Alterns unterbleibt. Die Hintergründe dafür ließen sich aus Andreas Kruses Einführung aus kulturell-gerontologischer Sicht ableiten. Kruse stellt in seinem Beitrag letztlich drei kulturrelevante Aspekte nebeneinander: die Förderung des aktiven Alterns, die Entwicklungspotentiale angesichts von Grenzsituationen und Generationenzusammenhän­ge. Hervorheben lässt sich unter den Perspektiven aber der Beitrag von Thomas Schlag, der sich der wachsenden Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Präsenz alter Menschen stellt und in einen bemerkenswerten Schlussteil mündet: praktisch-theologische Impli­-kationen einer engagementförderlichen Altenpolitik. Kirchliche Bildungsverantwortung in der Zivilgesellschaft und die kritisch- konstruktive Wahrnehmung von Würde im Alter bilden die Pole seiner Überlegungen, die praktisch-theologisch wie gerontologisch erhellend sind.
Von den phänomenbezogenen Beiträgen im Mittelteil des Bandes verdienten wie bereits erwähnt viele eine ausführliche Würdigung. Besonders hervorzuheben sind m. E. die umfängliche Darstellung von Ralph Kunz zum Zusammenhang von Weisheit und Lebensklugheit mit Alter und Theologie, Jörg Neijenhuis zur Zeitwahrnehmung, Klaus Raschzok, Konstanze Kemnitzer zu Orten, Heimen und zur Mobilität und Thomas Klie zur Bestattungskultur. Diesen Beiträgen gemeinsam ist, dass es in besonderer und überraschender Weise gelingt, die Praktische Theologie im Bezug auf die Phänomene relevant werden zu lassen. Dabei sind nicht allein, wie für die Beiträge im Schlussteil des Bandes geltend zu machen ist, die gerontologischen Erkenntnisse theologisch anzuwenden. Vielmehr wird die Deutungs- und Verständnisfähigkeit der Theologie selbst genutzt, um die Phänomene zu identifizieren und zu verstehen.
Im Schlussteil des Bandes findet sich Erwartbares. Auf – in der Regel – ausgesprochen hohem Niveau wird in die aktuellen teildisziplinären Diskurslagen eingeführt und werden bekannte Programme verdichtet. Dabei bewährt sich die Aufteilung des katechetischen Teils in einen religions- und einen gemeindepädagogischen Teil. Hervorhebenswert scheinen mir die Erwägungen von Eberhard Hauschildt aus seelsorgerlicher und von Jan Hermelink aus kybernetischer Perspektive.