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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

597-599

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Düwell, Marcus

Titel/Untertitel:

Bioethik. Methoden, Theorien und Bereiche.

Verlag:

Stuttgart-Weimar: Metzler 2008. IX, 276 S. gr.8°. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-476-01895-3.

Rezensent:

Sibylle Rolf

Die Komplexität der gegenwärtigen Bioethik hat in den letzten Jahrzehnten in einem immensen Maße zugenommen, und zu­gleich ist die Bioethik zu einer ernstzunehmenden akademischen Disziplin geworden. Gerade innerhalb des allerorten festgestellten Pluralismus und der bestehenden Orientierungslosigkeit angesichts des rasanten Fortschritts der Biotechnologie und der Medizin besteht hier insofern eine Herausforderung, als »hier moralische Selbstverständlichkeiten und moralische Traditionen mit ihren Grenzen konfrontiert werden« (VII).
Mit dem Buch von Marcus Düwell schließt sich eine schon seit Längerem bestehende Forschungslücke. Ein Lehrbuch im Bereich der Bioethik, das unterschiedliche moralphilosophische Konzepte vorstellt und ihre Konsequenzen in bioethischen Streitfragen be­nennt, war bisher noch nicht erschienen und ein drängendes De­siderat für Studium und Lehre. D.s methodologischer Zugang kulminiert dabei in seiner Hauptthese: Im gegenwärtigen nicht zu bestreitenden Pluralismus bestehen zahlreiche bioethische Positionen nebeneinander, die allesamt auf unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen beruhen. Einen Konsens zu finden, ist unter Umgehung dieser unterschiedlichen Voraussetzungen nur um den Preis einer Komplexitätsreduzierung möglich – die aber wiederum zu Lasten des moralischen Reflexionsniveaus ginge. Daher kann es nur darum gehen, Voraussetzungen transparent zu machen und zu benennen und die eigene Position so konsistent wie irgend möglich zu begründen. Es steht schließlich angesichts der immens gesteigerten Möglichkeiten in Life Sciences, Technologie in der Medizin und dem Umgang mit den natürlichen Res­sourcen die Gestaltung der Zukunft auf dem Spiel: »Bei all dem sollte man sich klar machen, dass es hier nicht in erster Linie um die Zukunft einer akademischen Disziplin geht, sondern darum, auf welchem Reflexionsniveau wir mit Fragen umgehen, die für die Gestaltung der Zukunft von wesentlicher Bedeutung sind.« (246)
Auf diesem Hintergrund ergibt sich für die Bioethik folgende spezielle Ausgangssituation: Urteile in der Bioethik sind komplexe Urteile, die nicht einfach von einer einzigen moralphilosophischen Grundlegung deduziert werden können und sich darin sozusagen von selbst ergeben, sondern eine immense Komplexität von Entscheidungs- und Handlungsalternativen zu berücksichtigen ha­ben. Darin unterscheiden sie sich von anderen ethischen Problemfeldern; D. bezeichnet sie treffend zusammengefasst als »gemischte Urteile« (5–7). Zunächst müssen die gesteigerten technischen Möglichkeiten berücksichtigt werden, die zum Einsatz kommen können (1). Anschließend ist eine Prognose zukünftiger Möglichkeiten und unvorhersagbarer Unsicherheiten zu erstellen (2), worauf eine Erwägung der sozialen und psychischen Wirklichkeit folgt, in die hinein sich die erneuerten Möglichkeiten ergeben (3). Sodann sind rechtliche Regelungen zu berücksichtigen (4), der Krankheitsbegriff im Falle eines medizinischen Eingriffs (5) und die generelle, vorausgesetzte anthropologische Grundeinstellung zu klären (6), wobei sich schließlich die moralphilosophische Frage stellt, was zu tun ist (7). Auch wenn moralphilosophische Entscheidungen auf philosophischen und damit theoretischen Voraussetzungen aufruhen, sind sie in ihrem Zustandekommen doch ein komplexes Bündel von Entscheidungen, die allesamt in Betracht gezogen werden müssen. In der Praxis können sogar unterschied­liche Konsequenzen aus ähnlichen Ausgangsvoraussetzungen gezogen werden bzw. ähnliche Positionen mit sehr unterschiedlichen moralischen Begründungen vertreten werden. Dieser Zugang impliziert aber auch, dass innerhalb der Bioethik ein interdisziplinärer Zugang notwendig ist. »Mit ›gemischten Urteilen‹ ist also gemeint, dass die Berechtigung dieser Urteile in unterschiedlichen Disziplinen und Diskursen geprüft wird.« (9)
Nach einer Darlegung dieses methodischen Zugangs stellt D. klar und konzise unterschiedliche moralphilosophische Positionen und deren Konsequenzen dar – eine an Kant orientierte und eine utilitaristisch geprägte Position sind lediglich zwei Beispiele neben Vertragstheorien, Principalism, liberalistischen Theorien, der in den letzten Jahrzehnten im englischsprachigen Bereich zunehmend wichtig gewordenen Tugendethik und gender-orientierten Ansätzen. An Beispielen wie dem derzeit diskutierten Problem des Enhancement, der Frage der Patientenautonomie, Sterbehilfe, Or­ganspende, Reproduktionsmedizin, Stammzellforschung, Gen­diagnostik und »grüner Bioethik«, unter die D. Tierethik und Umweltethik fasst, werden einzelne Positionen erörtert und die Problemstellungen illustriert. Daneben werden klare Begriffsdefinitionen gegeben, durch die sich das Buch ausgezeichnet zur Prüfungsvorbereitung, zur Lehre und zum Studium eignet.
Als besonders gelungen betrachte ich das Kapitel III. »Querschnittsfragen der Bioethik« (100–175). Hier zeigt D. an unterschiedlichen Themenbereichen die unterschiedlich begründeten ethischen Positionen auf: Er beschäftigt sich darin mit den Themenbereichen »Moralischer Status«, »Natur und Leben«, »Mensch und Kultur« und »Neue Technologien und die Reichweite der Verantwortung«. Dem methodischen Ansatz des Buches folgend, werden moralphilosophische Voraussetzungen genannt und auf ihre Konsequenzen für eine bioethische Urteilsbildung hin überprüft: Legt eine Konzeption den Schwerpunkt etwa auf die moralisch relevante Gattungszugehörigkeit eines Wesens, so wird sie daraus andere Konsequenzen ableiten, als wenn sie die Leidensfähigkeit bzw. das Streben nach Glück oder die Handlungs- und Vernunftfähigkeit eines Wesens als die Begründung von dessen moralischem Status annimmt. D. stellt die unterschiedlichen Möglichkeiten klar, präzise und differenziert dar. Er bietet damit eine reiche Samm­lung von bioethischen Begründungsstrukturen, die dabei helfen, sich im Dschungel der Meinungen zurechtzufinden und sich ein klares Bild zu verschaffen, um schließlich zu einer begründeten eigenen Position zu gelangen.
Eine begriffliche Unschärfe liegt allerdings dabei in dem undefinierten Gebrauch des Personbegriffs, der als einer der meist umstrittenen Begriffe innerhalb der gegenwärtigen Bioethik gelten muss, weil Vertreter einer empiristisch orientierten Bioethik normative Konsequenzen aus ihrer Unterscheidungen von menschlichem und personalem Leben ableiten, während ein Verständnis von Personalität, das etwa der Kantischen Philosophie folgt, den Personbegriff weniger als ein Phasenssortal denn als ein Gattungssortal versteht. D. setzt sich in seinem Gebrauch des Personbegriffs, bei dem er personales Leben mit vernünftigem Leben gleichsetzt (etwa 109), mit diesen unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten nicht auseinander, er nennt sie nicht einmal, was angesichts der ansonsten so differenzierten Ausarbeitung erstaunt.
Darüber hinaus könnte es als Desiderat betrachtet werden, dass D. eigene Stellungnahmen weitgehend vermeidet. Ethische Konzeptionen werden zwar differenziert dargestellt und in ihren Stärken und Problemen gewürdigt, aber eine eigene begründete Stel­lung­nahme wird nicht gegeben – was aber im Rahmen eines Lehrbuchs vielleicht auch nicht zu erwarten ist. Ungeachtet dieser Lücke ist die Darstellung jedoch so materialreich, dass sich ihre Durcharbeitung unbedingt lohnt und eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Thematik verspricht, die gegenwärtig dringend erforderlich ist.