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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

577-579

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Johannes

Titel/Untertitel:

Theologiae Facultas. Rahmenbedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin 1850–1870.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. VIII, 473 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 108. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-020247-2.

Rezensent:

Matthias Deuschle

Schon seit geraumer Zeit hat die sozialgeschichtliche Forschung nicht nur Pfarrer, sondern auch Theologieprofessoren als eigene Elite entdeckt und auf ihre Bedeutung und ihren Beitrag zur Ausbildung der modernen Gesellschaft hingewiesen. Doch standen die Darstellungen bisher auf wackligen Beinen, weil die Daten, die zur gruppenspezifischen Beschreibung verwendet wurden, in vielen Fällen ungenau oder fehlerhaft waren (darunter leidet z. B. R. M. Bigler, The Politics of German Protestantism. The Rise of the Protes­tant Church Elite in Prussia, 1972). Umso willkommener ist es, dass Johannes Wischmeyer mit seiner Münchener Dissertation nun zum ersten Mal eine systematische und methodisch durchdachte Studie vorlegt, die vier deutsche theologische Fakultäten und ihr Personal unter wissenschafts-, sozial- und theologiegeschichtlicher Perspektive durchleuchtet.
Die Auswahl der Fakultäten überzeugt und verspricht einen spannenden Vergleich: Bei Erlangen und Jena handelt es sich um relativ einheitliche, klar positionierte Fakultäten, die erste von lutherischem, die zweite von liberalem, »freisinnigem« Gepräge. Mit Berlin und Tübingen werden heterogenere Lehrkörper untersucht, gleichwohl haben die Fakultäten große Ausstrahlungskraft auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Standards und auf die sie umgebenden Landeskirchen gehabt. Berlin ist fast das ganze 19.Jh. hindurch die größte Fakultät, das Spezifikum Tübingens liegt nicht zuletzt darin, dass erst »1872 mit dem Jenaer Diestel der erste nichtwürttembergische Theologe seit Menschengedenken berufen wurde« (110; vgl. das hübsche Zitat ebd., Anm. 261). Da die Studie nicht nur die wissenschaftlichen Rahmenbedingungen detailliert rekonstruiert, sondern auch alle Lehrenden, d. h. Professoren und Privatdozenten – ob erfolgreich oder gescheitert –, in den Blick nimmt, musste der Untersuchungszeitraum beschränkt werden. Für die Wahl der Jahre 1850 bis 1870 spricht, dass sich in diesem Zeitraum die theologischen und kirchenpolitischen Richtungen verhältnismäßig gut voneinander abheben lassen und die Fakultäten in ihrer inneren Strukturierung die heutigen Verhältnisse bereits erkennen lassen; überdies stellen die im Vergleich zum Vormärz »ruhigeren« Jahre nach 1848 eine wichtige Übergangszeit dar, in der die wissenschaftliche Spezialisierung und Professionalisierung rasch voranschreitet (vgl. dazu 7–9).
Grundlegend für die Untersuchungen sind einerseits Universitätsordnungen und -akten, andererseits biographische Informationen über die behandelten 86 Universitätstheologen, die in ein den Vergleich ermöglichendes, 32 Kriterien umfassendes Raster gebracht wurden (vgl. 9 f.). Das Ergebnis der Datenerhebung wird für alle vier Fakultäten im Anhang der Studie in übersichtlichen Tabellen präsentiert (Tabelle 1–4), auf die man bei zukünftigen Ar­beiten gern zurückgreifen wird. Außerdem gibt ein eigener Ab­schnitt im Quellenverzeichnis Auskunft über die zur Rekonstruktion der Lebensläufe verwendete biographische Literatur (409–423). Eine wichtige Quellengattung im behandelten Zeitraum stellen auch die kirchlichen Zeitschriften dar. Sechs der klassischen Zeitschriften wurden auf Berichte über die Fakultäten, biographische Notizen oder Artikel der untersuchten Dozenten befragt, wobei unklar bleibt, wie im Blick auf Letztere angesichts der Tatsache, dass viele Zeitschriften das Anonymitätsprinzip vertraten, vorgegangen wurde; faktisch werden auch fast nur Aufsätze von Universitätstheo­logen verwendet, die in der Protestantischen Kirchenzeitung publizierten (allen voran Hase, Frank und Hilgenfeld); (bei dem einzigen erwähnten Hengstenberg-Aufsatz aus der Evangelischen Kirchenzeitung [434] handelt es sich um eine falsche Zuschreibung).
Sehr klar und überzeugend ist der Aufbau der Darstellung: Zunächst werden die institutionellen Bedingungen geschildert (I.). Informationen über die innere Organisation der Fakultäten, die typische akademische Laufbahn eines Theologieprofessors sowie die kirchenrechtlichen und kultuspolitischen Rahmenbedingungen – alles Dinge, die man sich bisher mühsam aus vielen Quellen zusammensuchen musste – werden auf engem Raum präzise und fundiert dargeboten. Damit hat W. ein Vademecum für zukünftige biographische und fakultätsgeschichtliche Arbeiten nicht nur für den behandelten Zeitraum, sondern für das 19. Jh. überhaupt geschaffen. Besonders hilfreich ist die Beschreibung der meist wenig beachteten Einrichtung der fachlichen Seminare (41–63), die – mit einerseits praktischer, andererseits wissenschaftlich vertiefender Ausrichtung – dem Theologiestudium ein neues Gepräge gaben und dafür standen, »daß kein anderes Fach seinen Studenten derart früh eine ähnliche wissenschaftlich differenzierte Seminar­organisation bieten konnte wie die Theologie« (60). Der zweite Teil (II.) nimmt die Akteure selbst in den Blick: Von der sozialen Herkunft über die Einkünfte bis hin zur Partnerwahl erfährt man alles. Außerdem werden aus der Berufungspolitik und den Karriereverläufen interessante Rückschlüsse auf die Stellung der einzelnen Fakultäten im »Universitätssystem« gezogen. Teil III. fragt nach den Mentalitäten und Handlungsfeldern der Akteure, und in Teil IV. wird dargelegt, wie die damalige Lage der Theologie von den behandelten Universitätslehrern je nach theologischer Position unterschiedlich wahrgenommen wurde und wie homogen bzw. heterogen die Fakultäten in theologischer Hinsicht waren. Der letzte Teil (V.) erörtert schließlich die unterschiedlichen Wissenschaftsstile: das wissenschaftliche Selbstverständnis, die Form der akademischen Lehre und die wissenschaftliche Publikationstätigkeit. Ein sehr kurzes Fazit stellt die Professionalisierung und den Kontextbezug als Merkmale des Universitätstheologenberufs dar. Übersichten zu den einzelnen Fakultäten, zu Studentenzahlen und den Bewegungen innerhalb des Universitätssystems sowie ein Namen- und Ortsregister runden die Studie ab.
W. ist eine dichte Darstellung gelungen, die trotz der Fülle des dargebotenen Materials nie ermüdet und trotz der nüchternen Analyse die Liebe zum unterhaltsamen Detail nicht unterdrückt (vgl. 216.302 u. ö.). Seine Interpretationen sind durchweg umsichtig und ausgewogen. Die typischen Klischees werden nicht bedient, im Gegenteil, sie werden durch den sachlichen Blick gerade aufgebrochen: Weder hatten die liberalen Theologen die Wissenschaftlichkeit für sich gepachtet noch die konservativen die Kirchlichkeit (vgl. z. B. 248–254.315 f.). Auch waren die liberalen Fakultäten, was Andersdenkende anging, keineswegs toleranter als ihre konservativen Gegenspieler (vgl. 313–315.342 f.).
Das Schöne an sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten wie der vorliegenden ist, dass sie lange tradierte Vorurteile mit harten Daten und Fakten konfrontieren. Ihre Schwäche ist allerdings, dass sie ganz von ihrem Datenmaterial abhängig sind, und hier gibt es Anlass zu Rückfragen: Wenn man die Übersicht über die biographische Literatur genauer ansieht, fällt auf, dass sowohl die Menge als auch die Qualität des zur Verfügung stehenden Materials für die einzelnen Akteure höchst unterschiedlich ausfällt. Längst nicht alles genügt kritischen Standards. Das ist auch kein Wunder. Die Jahre von 1850 bis 1870 gehören zu den am wenigsten erforschten im 19. Jh., für zahlreiche Protagonisten stehen keine befriedigenden Darstellungen zur Verfügung. Das mag für rein äußerliche Lebensdaten keine Rolle spielen (vgl. 409), aber sobald es um Positionalität, Wissenschaftsstil, das Engagement in Kirche, Politik und Öffentlichkeit geht, ist man für eine Gruppenuntersuchung auf verlässliche, kritische Einzeluntersuchungen angewiesen. Diese Vorarbeiten fehlen aber in vielen Fällen. Ähnliches gilt für die Kirchenzeitungen. Sie sind in höchstem Maße positionell und da­her kritisch auszuwerten. Muss es das Bild nicht verzerren, wenn – wie in dieser Studie – so häufig die Protestantische Kirchenzeitung zum Kronzeugen wird? W. kennt diese Fallen und geht, wie gesagt, mit dem Material vorsichtig um. Es ist dennoch damit zu rechnen, dass Einzeluntersuchungen, vor allem was die Akteure angeht, noch Akzentverschiebungen bringen werden. Andererseits bürgt die Breite der Studie dafür, dass sich am Gesamtpanorama nur wenig ändern dürfte. W. hat ein verlässliches Bild von der Institution der Facultas Theologiae im 19. Jh. gezeichnet, auf das man nicht mehr verzichten möchte.