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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

561-563

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ott, Thomas

Titel/Untertitel:

Präzedenz und Nachbarschaft. Das albertinische Sachsen und seine Zuordnung zu Kaiser und Reich im 16. Jahrhundert.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2008; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. XIV, 654 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte. Abteilung für abendländische Religionsgeschichte, 217. Lw. EUR 65,50. ISBN 978-3-8053-3875-2 (von Zabern); 978-3-525-10090-5 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Helmar Junghans

Die umfangreiche Darstellung verfolgt detailliert die Entwicklung der Beziehungen des albertinischen Sachsen zum Kaiser, zum Reichstag und zu seinen Nachbarn seit dem Ausgang des Spätmittelalters bis 1606. Sie verwendet als leitende Gesichtspunkte die im Titel genannten Begriffe »Präzedenz« und »Nachbarschaft«, verfolgt die Verknüpfung zwischen Rangansprüchen und politischem Verhalten und gewinnt neue Perspektiven.
Die Präzedenz betraf die Reihenfolge von Sitzordnung und Stimmabgabe auf reichsständischen Versammlungen. In ihr drück­te sich der Rang aus, den ein Teilnehmer beanspruchte bzw. der ihm zuerkannt wurde. Die Goldene Bulle hatte 1356 die Reihenfolge der sieben Kurfürsten festgelegt, deren Spitze die drei Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln bildeten, denen der König von Böhmen sowie der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg folgten. Unter Kaiser Maximilian I. bildete sich der Reichstag heraus, der reichsständische Fürsten und Reichsstädte einbezog. Der Vf. weist auf die Folgen der Unklarheit hin, ob der Reichstag als vom kaiserlichen Hof abhängig oder als reichsständische Einrichtung betrachtet wurde. Das zeigte sich besonders bei den Rangstreitigkeiten im Fürstenrat, wo der Streit zwischen Wettinern und Wittelsbachern um den ersten Platz auf der weltlichen Fürstenbank zum Dauerthema wurde, das im 16. Jh. ungelöst blieb.
Im ausgehenden 15. Jh. versuchten Wettiner und Wittelsbacher durch Dienstleistungen für den Kaiser, Ansehen und Vorteile für ihre Territorien zu gewinnen. Den am Hof errungenen Rang wollten sie im entstehenden Fürstenrat sichtbar machen. 1498 einigten sich Herzog Albrecht der Beherzte von Sachsen und Herzog Georg von Landshut, dass der Ältere den ersten Platz einnehmen sollte, das war Albrecht. Die in dieser Zeit sich entwickelnde Vorstellung vom »Haus«, das die gesamte Dynastie und deren Territorium umfasste, nutzten die Wittelsbacher als Haus Bayern-Pfalz, für alle ihre regierenden Fürsten analog zur Rangordnung der Kurfürsten den ersten Rang im Fürstenrat zu fordern, was diesen schwer belas­tete und Herzog Georg bewog, von 1522 bis 1529 den Reichstagen fernzubleiben. 1530 und 1532 nahm er zwar teil, ohne aber die Session klären zu können. Sein Nachfolger Moritz von Sachsen führte diesen Kurs fort, indem er unter Berufung auf die nicht zuerkannte Session fernblieb. Nachdem er 1547 Kurfürst geworden war, konnte er nicht mehr fernbleiben. Nun mühte er sich um den Rang der Wettiner. Anstelle einer neutral-distanzierten Politik verfolgt er eine multilaterale, die auf Friedenssicherung und Stärkung der Reichsstände gegenüber Karl V. ausgerichtet war. Er protestierte gegen die Aufnahme von Stiften, Prälaten, Grafen und Herren aus seiner Herrschaft in den Reichstag, worin ihn die anderen Reichsstände ohne Rücksicht auf ihre Stellung zur Reformation unterstützten. Schließlich trat er an die Spitze des Fürstenaufstandes gegen Karl V. und schuf die Grundlagen für den Augsburger Religionsfrieden von 1555, worin unter entscheidendem Einfluss des Herzogs August von Sachsen der Religionsfriede vom Religionsvergleich abgetrennt und die Duldung der papsttreuen und der evangelischen Religionsausübung entsprechend der »Augsburgischen Konfession« zugesichert wurde.
Bei der »Nachbarschaft« stellt der Vf. den Unterschied zwischen »Erbverbrüderungen« und »Erbeinigungen« heraus. Mit Ersteren regelten Fürstenhäuser die Erbnachfolge für den Fall, dass ein Fürs­tenhaus ausstarb. Sie bedurften der kaiserlichen Bestätigung. Die Erbeinigungen hingegen waren zu vererbende Einigungen, die militärische Hilfe bei Bedrohung des Nachbarn, gerichtliche Verhältnisse und Vorgehen bei grenzübergreifenden Irrungen regelten. Sie wurden dem Kaiser zur Bestätigung vorgelegt, um höhere Rechtssicherheit zu erlangen, konnten aber von den Reichsfürsten auch ohne diese Bestätigung als geltend behandelt werden. Für das albertinische Sachsen spielte die Erbeinigung mit dem Königreich Böhmen eine bedeutende Rolle, mit dem es nicht nur seine Südgrenze teilte, sondern von dem es auch Lehen empfangen hatte, die es seiner Herrschaft einverleiben wollte. Sie ermöglichte politische Gespräche mit dem Kaiser als König von Böhmen außerhalb des Reichstages.
Besondere Beachtung verdient das letzte Kapitel, das sich mit den noch wenig erforschten Verhältnissen Kursachsens unter dem Kurfürsten Christian I. und seinen Nachfolgern von 1586 bis 1606 befasst. Der Vf. hinterfragt die bisherige Darstellung, »als hätte Kursachsen seit den 1580er Jahren erst Neuerung, dann aber Restauration, zunächst Dynamik und anschließend Erstarrung erlebt« (441). Er räumt ein, dass dies zwar landes- und konfessionsgeschichtlich zutreffe, betont aber zugleich, dass sich unter den Gesichtspunkten von »Präzedenz« sowie »Nachbarschaft zu Kaiser und zu Böhmen« ein anderes Bild ergebe, vor allem sich aber die Vorstellung als unzutreffend erweise, Kursachsen sei 1592/93–1606 »nur der willfährige Alliierte des Kaisers gewesen« (437).
Während der polnischen Thronkrise 1587–1589 versuchten die Habsburger, Maximilian die polnische Krone zu verschaffen. Als dieser unterlag und gefangen war, forderte Kaiser Rudolf II. Kur­brandenburg und Kursachsen auf, entsprechend der Erbeinigungen zu vermitteln und Militärhilfe zur Verfügung zu stellen. Aber sie sorgten weder für Ausgleich noch leisteten sie Beistand. Maximilian musste auf den polnischen Thron verzichten. Sie waren zwar bereit zu Verteidigungsanstrengungen, aber nicht zur Unterstützung der habsburgischen Expansion. Der Kaiser büßte Einfluss auf die ostdeutschen Kurfürsten ein und schmälerte ihre Konsensbereitschaft, als er die Erbverbrüderung zwischen Brandenburg, Hessen und Sachsen nicht bestätigte. Er verlor gleichzeitig an An­sehen als König von Böhmen, wo die Landstände erstarkten, die für Sachsens Beziehung zu Böhmen an Bedeutung ge­wannen.
Der Vf. zeigt mit Blick auf die Präzedenz im Reich überzeugend auf, wie Kursachsen während des »langen Türkenkrieges« 1592/93–1606 dem Ersuchen des Königs von Böhmen und den böhmischen Landständen, aufgrund der Erbeinigung militärischen Beistand gegen die Türken zu leisten, nicht nachkam, da es dadurch nur der böhmischen Krone unterstellt worden wäre. Dagegen entwickelte Kursachsen den Obersächsischen Reichskreis zu einem wichtigen Instrument. Dieser bewilligte 1592 unter dem Vorsitz des Herzogs Friedrich Wilhelm­ »eine außerordentliche eilende Hilfe für den Kaiser zur Verteidigung Ungarns« als »Partikularkreishilfe«, was in den folgenden Jahren noch achtmal wiederholt wurde. So leisteten die Reichsstände für die Reichsverteidigung einen freiwilligen Beitrag, den sie selbst festlegten. Kursachsen handelte als Nachbar des be­drohten Königreiches und motivierte die Reichsstände, ebenso Hilfe zu leisten. Es unterstützte damit zwar den Kaiser im Kampf gegen die Türken, aber nicht als »willfähriger Alliierter des Kaisers«. Es verweigerte nicht nur die militärische Unterstützung auf der Grundlage der Erbeinigung mit Böhmen und damit mit den Habsburgern, sondern organisierte die Türkenhilfe durch die Reichsstände außerhalb des Reichstages, ohne direkten Einfluss des Kaisers.