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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

540-542

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Blumenthal, Christian

Titel/Untertitel:

Prophetie und Gericht. Der Judasbrief als Zeugnis urchristlicher Prophetie. M. zahlr. Tab. u. Schaubildern.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress; Bonn University Press 2008. 416 S. gr.8° = Bonner Biblische Beiträge, 156. Geb. EUR 53,90. ISBN 978-3-89971-490-6.

Rezensent:

Jörg Frey

Die bei Rudolf Hoppe verfasste Bonner Dissertation versucht, ein neues Gesamtverständnis des Judasbriefes als Zeugnis frühchristlicher Prophetie zu etablieren, und konzentriert sich dabei auf die Gerichtsaussagen und ihre Einbindung in das Textganze. Das Werk gliedert sich (leider sehr unübersichtlich nummeriert) in drei Hauptteile, die sich mit der Textstruktur (A), der der Gerichtsankündigungen des Jud (B) und der »prophetischen Dimension« derselben (C) befassen. Wichtige weitere Fragestellungen werden in »Zwi­schengedanken« eingefügt. Eine längere Einleitung (ungeschickt »E« genannt) und ein knapper Schlussteil (D) rahmen das Ganze. – Den Ausgangspunkt bildet die Aussage von E. E. Ellis von 1978, dass Jud ein »Midrasch zum Thema Gericht« sei. Der These, Jud praktiziere Schriftauslegung, steht die Wahrnehmung prophetischer Redeformen wie der Weherufe V. 11 gegenüber, die eine Einordnung des Briefs in das Phänomen der Prophetie nahelegen. Freilich verlangt auch diese Kategorie nach einer Differenzierung. In der Einleitung bietet B. daher Überblicke über die Forschung zur urchristlichen Prophetie und nützliche Differenzierungen zu den neutestamentlichen Aussagen zum Gericht bzw. zum Gericht Gottes.
Angehängt an die Einleitung sind kurze Erwägungen zur Textkritik in Jud 5 und Jud 15: B. schließt sich hier in beiden Fällen (anders als in seiner Studie »Es wird aber kommen der Tag des Herrn«. Eine textkritische Studie zu 2Petr 3,10, BBB 154, Hamburg 2007) an den Text der Münsteraner »Editio Critica Major« an. In Jud5 sieht er – m. E. nicht überzeugend – Ἰησοῦς als Subjekt des Ge­richtshandelns als ursprünglich an, in Jud 15 will er im Zitat aus 1Hen 1 ein universales Gericht (ἐλέγχειν) über »alle Menschen« (πᾶσαν ψυχήν), nicht nur über »alle Gottlosen« angesagt sehen.
Im ersten Hauptteil bietet B. eine gründliche, zum Teil fast übersubtile Analyse der Textgliederung nach sprachlich-formalen, epistolographischen und rhetorischen Kriterien, die freilich im Ergebnis wenig über die in der Forschung vertretenen Gliederungsmodelle hinausführt. Dass neben der linear-klimaktischen Struktur zugleich eine konzentrische Struktur postuliert wird, bei der die Weherufe V. 11 im Zentrum stehen (143), erscheint überzogen und allzu »gewollt«. Als Folgerung aus seiner Analyse präsentiert B. eine Zusammenstellung von »thematischen Schwerpunkten«, deren Herleitung aus der Textstruktur jedoch methodisch unklar bleibt. Diese zielen auf die These, der »Knackpunkt des Streites zwischen Judas und seinen Gegnern« hänge an der Frage nach dem »Festhalten bzw. Ablehnen des Parusie- und Endzeitglaubens« (147). Diese These wird zunächst nur aus der klimaktischen Position des Henochzitats V. 14 f. und einigen weiteren Beobachtungen begründet, die zwar den Parusieglauben des Autors dokumentieren, aber nicht zwingend ergeben, dass die Gegner diesen Glauben abgelehnt hätten und dies der Hauptdissens zwischen dem Autor und seinen Gegnern gewesen wäre.
In einem Zwischengedanken versucht B. diese These (im An­schluss an A. Vögtle) zu erhärten. Zu Recht sieht er, dass der Kern des Konflikts nicht auf der ethisch-moralischen Ebene liegt, da Jud viele polemische Topoi verwendet, die eher als »Begleitgeschütz« dienen, die Gegner zu diskreditieren (157). Den Vorwurf der Lästerung der δόξαι (V. 8) versteht B. jedoch (im Anschluss an Vögtle) einseitig bezogen auf die den Kyrios bei seinem Kommen begleitenden Engel (V.14), so dass es sachlich letztlich wieder um den Parusieglauben gehe, nicht aber um eine allgemeinere Herabsetzung von Engelmächten. Diese Deutung ist m. E. textlich nicht begründet, und V. 9 lässt erkennen dass es dem Autor noch um weitere Aspekte des Engelglaubens geht. M. E. ist der Aufweis, dass die Gegner des Jud (wie im 2Petr) Parusieleugner waren, nicht gelungen – er ist auch nicht notwendig für das Anliegen von B., die Bedeutung des Gerichts und den prophetischen Anspruch des Jud herauszuarbeiten.
Im zweiten Hauptteil bietet B. eine Analyse der Gerichtsaussagen des Jud und der in ihnen verarbeiteten Motive. Klimax ist V. 14 f. Hier übernimmt Jud aus 1Hen 1 die Vorstellung eines göttlichen Ge­richtshandelns, das Kriterium »Worte und Taten« zur Überführung der Gottlosen und den prophetischen Anspruch der Gerichtstheophanie-Schilderung und modifiziert dies zum Gesamtbild eines durch den Parusie-Kyrios (= Jesus) durchgeführten Beurteilungsgerichts über alle Menschen mit dem Ziel der Überführung der »Gottlosen« und der Bestrafung derselben (224). Nach V. 4 hat der Autor selbst an diesem Handeln antizipierend Anteil (185), und nach V. 5–7 (gemäß der erwähnten textlichen Entscheidung) war es auch Jesus, der in der Geschichte (an der Wüstengeneration, den Wächterengeln und den Sodomiten) richterlich handelte. B. bezieht konsequent alle κύριος-Stellen auf Jesus – wegen »der Stringenz der Gedankenführung« auch die Aussage in dem apokryphen Zitat Jud 9 (233). Dass V.5 als Subjekt dieses Handelns nicht den Kyrios oder Christus nennt, sondern Jesus, soll den Bezug auf den realgeschichtlichen Jesus hervorheben und damit auch die reale Erwartung der Parusie (238 f.).
Diese Erklärung bleibt freilich unbefriedigend: Kann man in den Zitaten einen so kohärenten Sprachgebrauch voraussetzen? Ist nicht der Inhalt von V. 9 und auch von V. 6 f. eher schwer mit Jesus als Subjekt des Gerichtshandelns zu verbinden? Steht evtl. hinter der Aussage in V. 5 (bzw. m. E. eher einer Textvariante) ein ur­sprünglicher Verweis auf Josua (= Ἰησοῦς) oder eben ein Spiel mit der Namensgleichheit? Ist der Bezug auf den irdischen Jesus bzw. die inkarnatorische Wirklichkeit im Jud tatsächlich so betont wie etwa in 2 Joh 7? Der »Realismus« der Parusieerwartung (den B. mit Recht betont) impliziert keine irdisch-chiliastische Vorstellung. So sehr B. in seiner Betonung der Bedeutung des Gerichts des zur Parusie kommenden Christus, auf dessen Erbarmen auch die Adressaten zu hoffen haben, Recht zu geben ist, so problematisch erscheint eine allzu konsequent von der textkritischen Entscheidung in V. 5 ausgehende christologische Lektüre. M. E. scheint Jud eher mit der Ambiguität der Bezeichnung κύριος zu spielen, die auf Gott und Christus be­ziehbar ist.
Im dritten Hauptteil fragt B. nach dem Anspruch der Gerichtsankündigungen und arbeitet plausibel heraus, dass es Jud mithilfe seiner Exempel aus der Schrift darum geht, die Gegner »prophetisch« zu überführen und ihnen mit dem Schuldaufweis das eschatologisch gültige Unheil zu sprechen. Formal ist Jud also kein Midrasch, keine Deutung von Schrift, sondern eine prophetische Überführung der Gegner als Gottlose mithilfe von Beispielen der Schrift (337). Diese Überführung erfolgt im Horizont der Erwartung des eschatologischen Gerichts des Kyrios, und der Autor erhebt den Anspruch, dessen Urteil zu antizipieren. Insofern übt er eine Funktion aus, die nach 1Kor 14,25 wesentlich zur urchristlichen Prophetie gehörte (343). Ein letzter Zwischengedanke vergleicht Jud diesbezüglich mit Apk 2,18–29.
Diese Hauptthese B.s, dass Jud in Form eines durchgestalteten Briefes mit prophetischem Anspruch und in prophetischer Funktion eine das Endgericht des Parusiechristus vorwegnehmende Überführung der Gegner als Gottlose vornimmt, ist m. E. überzeugender als die Deutung des Jud als eine Form der Schriftauslegung. Sie lässt sich halten, auch wenn man die zu einseitige Deutung aller Gerichtsaussagen des Schreibens auf den irdisch-geschichtlichen Jesus nicht nachvollzieht, textkritisch in V. 5 anders votiert und vor allem in der Gegnerfrage nicht einfach vom theologischen Anliegen des Autors auf dessen Bestreitung bei den Gegnern schließt. Mit Parusieleugnern hat später explizit 2Petr zu schaffen. Im Jud ist die Bestreitung der Parusie nirgends explizit erwähnt und sollte daher auch nicht eingetragen werden. Der am Ende gebotene knappe Ausblick auf 2Petr notiert diese signifikante Differenz leider nicht. Trotz dieser kritischen Hinweise ist B. eine grundlegende Studie zum Jud gelungen, die die Forschung beleben wird.