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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

477-479

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Schweizer, Stefan

Titel/Untertitel:

Anthropologie der Romantik. Körper, Seele und Geist. Anthropologische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2008. 788 S. gr.8°. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-3-506-76509-3.

Rezensent:

Andreas Kubik

Dieses voluminöse Buch, das einen über seine Entstehungsbedingungen im Unklaren lässt, befasst sich mit einem ohne Frage spannenden Thema. Es möchte »die Anthropologie der Romantik im Zeitraum von 1800 bis 1840« (15) untersuchen, wobei dem Anspruch nach auch die Frühromantik behandelt werden soll (vgl. 37 f.), faktisch aber nur »die so genannte Spät- bzw. Hochromantik« (38) vorkommt: Über Friedrich Schlegel, Tieck, Novalis und andere erfährt man so gut wie nichts. Und überhaupt stehen die literarischen Werke oder Autorinnen, welche gemeinhin unter dem Epochenbegriff »Romantik« verhandelt werden, gar nicht im Vordergrund, von diesen ist vielmehr nur ganz am Rande die Rede. Stattdessen geht es um eine Reihe von sog. »Anthropologen« – zumeist Mediziner und Psychologen –, die in dem angegebenen Zeitraum gewirkt haben. Gleichwohl ist die Zielstellung der Arbeit literaturwissenschaftlich geprägt, indem »unter dem Etikett der Text-Kontext-Analyse« (16) der Einfluss wissenschaftlich-anthropologischer Texte auf die schöne Literatur der Romantik behauptet – nicht untersucht – wird. Wahrscheinlich gemacht wird ein solcher Einfluss durch gewisse Stichwortlisten (50–70) aus bekannten romantischen Werken – etwa Brentanos Godwi, den Nachtwachen des Bonaventura, verschiedenen Schriften E. T. A. Hoffmanns, Achim von Arnims und anderer –, die eine Reihe von Einzelwörtern versammeln, welche eine Nähe zu dem medizinisch-anthropologischen Vokabular aufweisen sollen, darunter auch so vieldeutige Begriffe wie »Traum, Geist, Seele, innerstes Wesen, Weiblichkeit, Sinnlichkeit, Gemüt« (64).
Der zukünftige Nutzen namentlich für die Hoffmann-Forschung, aber nicht nur für diese, ist nach Sch. allerdings enorm. Denn der anthropologische Diskurs sei literaturwissenschaftlich bislang »nicht genügend gewürdigt« (18) worden. Genau diese Dienstleistung möchte die vorliegende Arbeit erbringen, welche nach Ansicht Sch.s so umstürzend sein wird, dass insofern »beinahe das gesamte Werk von Hoffmann einer Neuinterpretation« (63) harrt.
Die Reichweite dieses Anspruchs steht freilich in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihrer wissenschaftlichen Begründung. Jene Notwendigkeit der Neuinterpretation wird lediglich behauptet, gar nicht aber an der Forschungsliteratur zu Hoffmann gezeigt. Ja, im Gegenteil, Sch. gesteht andernorts freimütig zu, dass »Hoffmanns Beschäftigung mit medizinisch-anthropologischer Wissenschaftsliteratur ... verbürgt« (52) ist – und so weit, dies als seinen Forschungsfund auszugeben, will er dann doch nicht gehen. Es ist ja auch im Gegenteil geradezu ein Gemeinplatz (vgl. 430 unter Nennung gängiger einführender Literatur zu Hoffmann).
Das eigentliche Korpus der Arbeit besteht in der Darstellung der Ansätze der von Sch. als einschlägig erachteten Anthropologen. Auf jeweils etwa 100 Seiten werden nacheinander hauptsächlich Johann Jakob Fries, Johann Christian August Heinroth, Carl Gustav Carus, Gotthilf Heinrich von Schubert, Johann Michael Leupoldt und Joseph Ennemoser vorgestellt, wobei die Einordnung von Fries – wie Sch. selbst weiß – in diese Reihe nicht recht plausibel ist und auch eher kontraintuitiv begründet wird: »Gerade die Tatsache, dass Fries sich von der herrschenden Lehre und der Bewegung der Anthropologie abhebt, macht ihn für eine umfassende Analyse in unserem Kontext interessant« (116). Den Genannten werden dann noch eine ganze Reihe weiterer Autoren – Hufeland, Hoffbauer, Eschenmayer und andere – zugeordnet. Dies geschieht unter der »Leitfrage ..., wie die Anthropologen die Konstitution des Menschen entwerfen und welche Semantiken sich daraus ergeben« (108). Das Ergebnis wird gleich mitgeliefert und in der Sache zum Ende hin nicht wesentlich erweitert: Man könne eine »trinitarische« und eine »dualistische« anthropologische Konzeption unterscheiden; die erste operiere »mit den Merkmalen Körper, Seele und Geist«, die zweite lediglich »mit Körper und Seele« (108). Diese Gegenüberstellung fungiert auch als Einteilungsprinzip für den Hauptteil.
Missverständnisse, die sich vom Titel her nahelegen könnten, gilt es freilich zu vermeiden: Es handelt sich bei diesem Buch nicht um die Darstellung der Anthropologie einer bestimmten Epoche in ihren Übereinstimmungen und Divergenzen, denn diese seien »en detail schwierig zu finden und zu belegen« (20), sondern eher um die Zusammenstellung bestimmter Diskussionsbeiträge, wobei Sch. eine »sukzessive, sich an Personen und ihren Werken und eben nicht an Themen orientierende Vorgehensweise« (19) wählt. Daraus folgt sogleich, dass der Band auch kein Beitrag zu einer systematischen Anthropologie sein will, jedenfalls werden keine Linien zu gegenwärtigen anthropologischen Diskursen ausgezogen, sondern allenfalls ganz gelegentlich angedeutet.
Was bleibt also nach Abzug dieser möglichen Missverständnisse für die Forschung übrig? Im Wesentlichen sich eng an die Quellen anlehnende Referate, die außerordentlich detailliert sein können: Die einzelnen Kapitel im Hauptteil haben häufig 30 oder mehr Unterpunkte. Wer also zu diesen Themen forschen möchte, findet hier eine Fülle von Erstinformationen. Ob man damit zügiger zu den Sachen selbst kommt, als wenn man gleich die Quelle liest, ist nicht von vornherein klar. Denn Sch. macht seinen Lesern die Lektüre nicht gerade einfach: Zum einen bleibt der ausufernde methodologische Apparat – von Luhmann über Maturana bis zu Siegfried J. Schmidt – mit dem tatsächlichen methodischen Vorgehen, das häufig eben ein bloßes Referieren ist, weitgehend unvermittelt. Zum zweiten setzt er schwerste philosophische und theologische Sachverhalte – ein Beispiel unter vielen: Schellings Identitätsphilosophie (vgl. 69) – häufig umstandslos als bekannt voraus, wobei seine knappen Einschätzungen nicht immer vollständig treffsicher sind. So wird etwa die Trinität – die ja immerhin das Vorbild einer »Leitsemantik« abgibt – so auf den Punkt gebracht: »Der christliche Schöpfergott besteht ja bekanntlich aus den drei Teilen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes« (742). Ähnlich erhellend ist dann auch die Darstellung der »trinitarischen Semantik« selbst.
Der Respekt vor der vielseitigen Belesenheit Sch.s sei hier ausdrücklich vermerkt; der Selbsteinschätzung seiner Forschungsleis­tung – die sich unter anderem darin zeigt, dass er als Vertreter einer »modernen kulturwissenschaftlich inspirierten Literaturwissenschaft« (429) vor allem sich selbst zu nennen weiß (429, Anm. 3) – vermag sich der Rezensent nicht ebenso bruchlos anzuschließen. Dass keine Sach- und Namenregister beigegeben wurden, ist heute leider üblich geworden, kann aber im vorliegenden Fall weitgehend verschmerzt werden.