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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

245-248

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hämel, Beate-Irene

Titel/Untertitel:

Textur-Bildung. Religionspädagogische Über­legungen zur Identitätsentwicklung im Kulturwandel.

Verlag:

Ostfildern: Schwabenverlag 2007. 281 S. gr.8° = Glaubenskommunikation Reihe zeitzeichen, 19. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7966-1332-6.

Rezensent:

Thomas Schlag

Zu den unverzichtbaren Standards gegenwärtiger religionspädagogischer Theoriereflexion gehört es zweifellos, über den Bezugsrahmen der eigenen Fachdisziplin kategorial hinaus zu denken und das komplexe Bedingungsgeflecht religiöser Bildung im Kontext der pluralen multireligiösen Gesellschaft möglichst breit und stringent in die eigenen konzeptionellen Überlegungen zu integrieren. In diesem Sinn entspricht die vorliegende Untersuchung, die im Jahr 2006 vom Fachbereich Katholische Theologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt als Dissertation angenommen wurde, fraglos dem religionspädagogischen »state of the art«.
Die Vfn. macht es sich dabei zum Ziel, den gegenwärtigen disziplinären Diskurs im Licht der Kategorie der »Textur« weitergehend zu reflektieren und die aktuellen systematischen Grundfragen religiöser Bildung in innovativer Weise aufzunehmen. Mit dem Begriff der Textur, der ja ansonsten noch kaum in religionspädagogischer Verwendung steht, wird darauf abgezielt, den prozesshaften, »dialogisch-kreativen Umgang« mit biblischen und literarischen Texten als »besonders geeignete Methode« vorzustellen, »um interkulturelles Lernen im Rahmen des Religionsunterrichts« (13) bzw. »die Ausbildung individueller Texturkompetenz« (14) zu fördern. Als Zielgruppe sind dabei insbesondere junge Menschen und deren Selbst-Bildung im multikulturellen Kontext im Blick. Analytischer Ausgangspunkt der Vfn. ist, dass sich die »Schiebefestigkeit« des Kulturgewebes aus gemeinsamen Wissens-, Glaubens- und Sinnorientierungen »sozusagen gelockert« (55) hat und dadurch die Entwicklung einer einzigen »Lesart für den Text einer Kultur schwieriger geworden ist« (55).
Für die Durchführung ihrer Argumentation greift die Vfn. in interdisziplinärer bzw. »pluridisziplinärer« (13) Absicht gleichsam auf eine Vielzahl unterschiedlichster wissenschaftlicher Texturen zurück, um diese für ihre Hauptintention fruchtbar zu machen.
Nachdem die Vfn. klassischerweise mit Überlegungen zu »Bildung in und von Texturen als religionspädagogische Aufgabe« (13–30) eingesetzt hat, schließt sich unter der Überschrift »Kultur: Texturen des Wir als tradierter und zu gestaltender Text« (31–78) ein ausführlicher kulturwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Teil an. Dieser nimmt insbesondere die neueren Entwicklungen im Horizont eines linguistic, narrative und cultural turn auf und hebt von dort aus – vor allem im Anschluss an C. Geertz’ »dichte Be­schreibungen« und Ch. Taylors Rede von »Verantwortlichung« – insbesondere die Prozesshaftigkeit, Unabgeschlossenheit und soziokulturell bedingte Ko-Konstruktion von Texten und von Sprache überhaupt hervor. Kulturelle Texturen seien demzufolge sowohl als eine Herausforderung wie als »ein erstrebenswertes Ziel« (29) im Umgang mit kulturellen Differenzen anzusehen.
Schon die einzelnen Überschriften der folgenden drei Kapitel zeigen an, worum es der Vfn. in konstruktivem Sinn geht. Die ge­genwärtigen breiten Debatten zu den bildungsrelevanten Aspekten Religion, Identität und Entwicklung werden gleichsam selbst durch das Paradigma der Textur neu beleuchtet und sollen damit um eine wesentliche Lesart erweitert werden. Dafür werden wesentliche Aspekte der gegenwärtigen Verwendungszusammenhänge kundig, intensiv und konsistent dargestellt, worauf angesichts des dicht präsentierten Materials an dieser Stelle nur hingewiesen werden kann.
So erfolgen grundlegende Ausführungen zu »Religion: Vom Text zur Texturgestaltung« (79–111) im Rekurs auf neuere Jugendstudien und das Plädoyer für eine »interkulturelle Hermeneutik« (86) im Blick auf christliche Religion, Theologie und Kirche. Unter der Überschrift »Identität: Identifikationsprozesse und Textur-Bildungen des Selbst« (113–142) entwickelt die Vfn. im Rekurs u. a. auf den Psychologen J. S. Bruner sehr überzeugend Überlegungen zur narrativen Identitätsbildung bzw. Selbstnarration (132 ff.) und schlägt eine Ersetzung des Identitätsbegriffs durch den »stärkere Flexibilität und Mobilität signalisierenden Begriff der Identifikation« (142) vor. Zur Frage der »Entwicklung individueller, kultureller und re­ligiöser Identität: Selbst-Identifikationen und Textur-Bildungen Jugendlicher in Texten und Kontexten« (143–169) wird im Anschluss an eine kritische Relektüre u. a. von Fowler, Oser/Gmünder und Erikson vermutet, dass »die mehrkulturelle Selbst-Textur … sogar das Identitätsmodell der Zukunft« (153) sein könnte.
Durch die genannten drei Teile zieht sich jeweils wie ein roter Faden das Plädoyer der Vfn. für eine offene, nicht normierende, individuelle konstruierende und dekonstruierende religiöse Bildung im Sinn der Ermöglichung von Selbst- und Wir-Texturen. Damit gehen allerdings – vielleicht notwendigerweise – immer wieder mehr oder weniger intensive Wiederholungen der Hauptthese der Vfn. einher, wie überhaupt viele Passagen durch die ge­samte Studie hindurch durchaus eine fokussierende Straffung gut vertragen hätten.
Die materiale Argumentation führt schließlich zu zwei Kapiteln, die sich den fachdidaktischen Implikationen dieses Ansatzes widmen: Hier geht es um »Selbst-Textur-Bildung in christlicher Perspektive – Herausforderungen an den Religionsunterricht« (171–197) und »Interkulturelle Bildung: Selbst-Textur-Bildung in Wir-Texturen und die Gestaltung von Wir-Texturen« (199–227). Breite Ausführungen zum Selbstverständnis und zur rechtlichen Verankerung des Religionsunterrichts sowie durchaus spannende Hinweise zur Entwicklung des jüngeren katholischen Verständnisses des Faches in Kirchenleitung, bei Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern verbinden sich mit Überlegungen zur interkulturellen Kompetenz und der Forderung einer Wir-Textur-Bildung, die Kompetenzen zu einem experimentellen Bildungsleben im »Gewebe aus Verschiedenen« (203) vermittelt. Die damit stringent verknüpften kritischen Abgrenzungen der Vfn. gegen Strategien der Re-Konfessionalisierung bzw. Rekatholisierung des Religionsunterrichts von kirchenamtlicher Seite aus und ihr Plädoyer für konfessionell-kooperative Versuche gemeinsamen religiösen Lernens sind hier eigens positiv hervorzuheben.
Die Studie wird mit dem Versuch einer doppelten Konkretisierung unter den Überschriften »Texte im Religionsunterricht zur Förderung von Textur-Bildung« (229–252) entlang des Entwurfs einer Theopoetik (K.-J. Kuschel) sowie zu »Religionslehrerin und Religionslehrer: Arrangeure von Textur-Bildungs-Chancen im Re­ligionsunterricht« (253–257) abgeschlossen.
Einige Fragen sind trotz des breiten Panoramas der Ausführungen zu stellen: Trägt die Begrifflichkeit der Selbst- und Wir-Textur tatsächlich Neues in die gegenwärtige religionspädagogische Diskussionslandschaft ein? Anders gesagt: Sind die damit zum Ausdruck gebrachten Aspekte von prozessoffener Bildungsdynamik, individueller Identitätsoffenheit und solidarischer Beziehungskompetenz tatsächlich wirklich bisher so noch nicht ausreichend bedacht worden?
Geht man gleichwohl von der spezifischen Bedeutsamkeit einer solchen Selbst- und Wir-Textur aus, wäre es ausgesprochen hilfreich gewesen, wenn in stärkerer Weise mögliche Perspektiven einer materialen Didaktik im Blick auf den Umgang mit jüdisch-christlichen Text-Traditionen aufgeschienen wären. Zudem wird m. E. der Weg zu einer interkulturellen religiösen Bildung – der sicherlich auch mit dem konkreten Arbeitsschwerpunkt und der Verankerung der Vfn. im Frankfurter Kontext (Th. Schreijäck) zusammenhängt – allzu schnell beschritten. Das gewählte Textbeispiel – ein sehr anspruchsvolles Ge­dicht der Autorin Zehra Cirak (vgl. 250 f.) – enttäuscht eher. Wenn also ein Perspektivwechsel bzw. ein »dem Anderen antworten zu lernen« (78) das Eigene notwendigerweise voraussetzt, hätte man gerne mehr über Möglichkeiten erfahren, wie bedeutsames »Eigenes« in aller profilierten Offenheit für junge Menschen plausibel thematisiert werden kann.
Schließlich ist zu fragen, in welchem Sinn der vorgelegte Entwurf seinerseits anschlussfähig an die gegenwärtigen allgemeinpädagogischen Debatten sein könnte bzw. wie und warum denn die herangezogenen Bezugswissenschaften ihrerseits von den Perspektiven einer christlichen Religionspädagogik bereichert werden könnten – der immer wieder benannte Aspekt des christlichen Menschenbildes (vgl. etwa 174) bzw. die Rede von »Gott als Er­möglichungsgrund« (175) sowie die Rede von religiöser Bildung als Bildung, »die anders sehen lässt« (183, im Anschluss an E. Gross), wären hier weiter zu konkretisieren.

Gleichwohl ist festzustellen: Durch die Arbeit wird eine beeindru­ckend umfangreiche, facettenreiche und bezugsintensive Gesamtschau über das Grundproblem einer profilierten Religionspädagogik in der Pluralität vorgelegt, durch die sich der interessierte Leser vielfältig orientieren kann – leider ist gerade deshalb das Fehlen eines Personenverzeichnis ausgesprochen schade, weil es ebenjene Orientierung schwermacht, es sei denn, man arbeitet sich durch das umfangreiche und manchmal etwas viel roten Faden tragende Gesamtgewebe hindurch. Nichtsdestotrotz: Die immer wieder neue Herausforderung christlicher Bildung, einerseits profilierte und im wahrsten Sinn des Wortes »eigensinnige« Identifikations- und Beheimatungsmöglichkeiten zu offerieren und andererseits die individuelle Freiheit persönlicher Orientierung nicht zu limitieren, wird mit Hilfe der Grundkategorie der Textur differenziert und plausibel bearbeitet. Dass dies zudem in großer ökumenischer und interreligiöser Sensibilität erfolgt, gehört zu den besonders hervorzuhebenden Merkmalen der Arbeit. Ob die programmatische Rede von der Selbst- und Wir-Textur im Sinn eines »Alles ist Weben« (11, im Anschluss an E. Seidl-Reiter) aber eine ganz neue Stoffqualität in die aktuellen religionspädagogischen Diskurse bringt, ist zukünftig erst noch zu erweisen.