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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

225-226

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hühn, Lore

Titel/Untertitel:

Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XI, 272 S. gr.8° = Philosophische Untersuchungen, 22. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-149582-3.

Rezensent:

Walter Dietz

Eine Vorform dieser Studie legte die seit 2003 in Freiburg i. Br. lehrende Autorin im Wintersemester 2002/03 als philosophische Habilitationsschrift vor. Wurden in den beiden vergangenen Jahrzehnten insbesondere die Anfangskonstellationen des Deutschen Idealismus ausführlich analysiert (speziell von D. Henrich), so geht es H. um Endkonstellationen, Übergänge und Abbrüche des Deutschen Idealismus. Søren Kierkegaard hat in Berlin noch Schellings Antrittsvorlesung (Wintersemester 1841/42) miterlebt. Dessen He­gelkritik wird von H. als maßgeblich für Kierkegaards eigene Aversion gegen Hegel und den Hegelianismus interpretiert. Im Zentrum ihrer Analyse steht einerseits Hegels Logik, andererseits Kierkegaards Unwissenschaftliche Nachschrift (1846), die unter dem Pseudonym Johannes Climacus veröffentlicht wurde. Die Bedeutung der Pseudonymität wird von H. allerdings nicht diskutiert, sondern das Pseudonym differenzlos mit Kierkegaard identifiziert.
Hegels Anspruch eines voraussetzungslosen Anfangs der Philosophie (beginnend mit der schlechthinnigen Bestimmungslosigkeit des reinen Seins bzw. Nichts) wird von Kierkegaard kritisch betrachtet. H. verficht zwar keine Apologie Hegels per se (so etwa noch H. Schweppenhäuser 1967 im Gefolge Adornos), be­streitet jedoch, dass Kierkegaard dem immanenten Anspruch der Logik Hegels gerecht wird. Mit A. Arndt (2000) geht es ihr darum, den genuinen Sinn der Logik Hegels gegen die Kritik des Dänen stark zu machen. Dabei interpretiert sie Kierkegaards Kritik ganz von Schelling her – allerdings ohne die Differenzen beider (Potenzenlehre, Mythologie, Gottesbegriff) oder auch andere Wurzeln seiner Hegel-Kritik (Hamann; Tenneberg; Trendelenburg) eingehend zu analysieren.
In einem sehr ausführlichen ›Vorspann‹ (7–64) wird die Stellung Hegels und Schellings zum transzendentalphilosophischen Konzept Fichtes – und zueinander – sehr differenziert abgeklärt, wobei allerdings Kierkegaard nur ganz am Rande vorkommt. Seine Nähe zu Fichte zeigt sich – so H. – in der Kritik der »Selbst-Vergessenheit« des Hegelschen Systems (64 f.75 f.). Dabei wirft sie ihm vor, übersehen zu haben, dass Hegel diese Selbstvergessenheit be­wusst arrangiert, um deren Scheitern aufzuzeigen (77) – d. h. sie ist Teil, nicht Fehler seines Konzepts. Jedoch gehe Kierkegaards Begriff des Plötzlichen (exaiphnes) in einer »beispiellosen Selbstüberforderung des Logischen« bei Hegel unter (92). H. verdeutlicht, dass Kierkegaard jedenfalls nicht Hegels Vertrauen in die »Eigendynamik« der Selbstentfaltung des Begriffs teilt (102). Somit ziehe Hegels »selbstläuferische Logik« Kierkegaards Kritik »förmlich auf sich« (103).
Analog zeigt H. im Blick auf Hegels These einer Selbstüberwindung des Zweifels im Vergleich mit Kierkegaards Zweifels-/Verzweiflungstheorie in Entweder-Oder (1843; Teil II), wie Kierkegaard Hegels Theorie eines »sich selbst vollbringenden Skeptizismus« zu widerlegen sucht (121). Zugleich zeigt H. die Beziehung Kierkegaards zu Hegel im Blick auf Christologie und Versöhnungslehre. Kierkegaard habe gleichsam als »Nachfolger Hegels« (!) die christologische Prämisse geteilt, dass »in der Menschwerdung Christi« der »Schlüssel« des »dialektische[n] Umschlags« liege (127). Allerdings kritisiere Kierkegaard, dass bei Hegel »diese Theologie als Erfüllungsgehilfin einer logischen Grundoperation« vereinnahmt werde (131). Der theologische Gehalt bleibe dem Hegelschen System äußerlich (136). Das Totalitätsideal Hegels führe zu einer Ausblendung der »Zukunftsdimension« (175). Insgesamt lehnt H. jedoch Kierkegaards Kritik als »schulmeisterlich« ab (149).
Auch die Sündenthematik wird bei H. aufgearbeitet, wobei sie jedoch nicht auf die einschlägige Literatur eingeht (z. B. Ringleben 1977/83, Axt-Piscalar 1996; Bösch 1994, Bösl 1997). Insgesamt liegt eine gewisse Schwäche ihrer Studie darin, dass sie den Dialog mit der einschlägigen Literatur im Verhältnis Kierkegaard – Hegel zu wenig sucht (z. B. T. Bohlin, E. Hirsch, E. Geismar, M. Bense, W. Anz, N. Thulstrup, H. Diem, J. Sløk u. a.). Das – in der Forschung bislang eher unterbelichtete – Verhältnis zu Schelling (Ausnahme: J. Hennigfeld/J. Stewart [Eds.], KSMS Vol. 8, 2003) wird jedoch eingehend und ertragreich diskutiert.
H. zeigt, dass Kierkegaard zwar klar dem nachidealistischen Denken zugehört, dennoch aber der Deutsche Idealismus ohne ihn nicht wirklich verstanden werden kann. Am Beispiel Schellings macht sie zugleich deutlich, wie sehr der Deutsche Idealismus in sich gespalten war. Kierkegaards Hegelkritik erscheint so gleichsam als ›Abfallprodukt‹ einer inneridealistischen Selbstabgrenzungsdebatte, wie sie von H. überzeugend am Beispiel Schellings aufgezeigt wird. Das Buch ist gewissenhaft verfasst, sehr ansprechend aufgemacht und verfügt über Personen- und Sachregister.