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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

221-224

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Erler, Michael

Titel/Untertitel:

Platon.

Verlag:

Basel: Schwabe 2007. XII, 792 S. gr.8° = Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, 2/2. Lw. EUR 112,00. ISBN 978-3-7965-2237-6.

Rezensent:

Jure Zovko

Michael Erlers Buch setzt die Tradition der seriösen Neubearbeitung und Vertiefung der von Friedrich Ueberweg begründeten Reihe »Grundriß der Geschichte der Philosophie« fruchtbar fort. In beeindruckender Weise gelingt es E., die wichtigsten Erträge der kaum zu überblickenden Platonforschung kritisch zu bewerten und systematisch zu integrieren. In sieben ausführlichen Paragraphen wird eine Übersicht über den Forschungsstand gegeben, eine umfangreiche Überlieferung und Chronologie der Platonschen Schriften dargelegt, das gesamte Arsenal zur vita Platonis eingehend ergründet (§ 3), Platon als Autor, Künstler und Verfasser der philosophischen Dialoge kritisch gewürdigt, wobei auch die Relevanz der spezifischen literarischen Formen, Tropen und Mythen für die Konstituierung seiner Philosophie untersucht wird (§ 4).
Im Hauptteil von E.s Werk werden zuerst authentische Schriften im Platonischen Opus – eingeteilt in drei Gruppen (frühe, mittlere und späte Dialoge) – gründlich recherchiert und ferner von den unechten Opuscula distinguiert (§ 5). Danach wird die Quintessenz der Lehre Platons dargelegt und vom Standpunkt der modernen philosophischen Disziplinen (Ontologie, Erkenntnistheorie, Ethik, Politische Philosophie, Sprachphilosophie, Geschichtsphilosophie etc.) dezent und systematisch analysiert (§ 6). Im letzten Teil wird schließlich die umfangreiche Wirkungsgeschichte der Platonschen Philosophie behutsam beschrieben, wobei beachtenswert ist, wie stark die unterschiedlichen philosophischen Richtungen im Laufe der Geschichte die jeweilige Platon-Interpretation beeinflusst ha­ben. Platon wird bekanntlich als Vorbild der Metaphysiker (Plotin, Proklos) und der neuzeitlichen idealistischen Systematiker (Leibniz, Schelling, Hegel) gewürdigt, aber er gilt paradoxerweise ebenfalls als Inspirator der konstruktiven Skepsis der frühromantischen Reflexion sowie der sprachanalytisch orientierten Argumentationsweise, die gemeinsam durch eine völlige Abkehr von jedweder Metaphysik charakterisiert sind. Nicht weniger beruft sich auf Platon die gegen die dogmatische Systematik sich wendende hermeneutische Platondeutung von Schleiermacher bis Gadamer, aber auch die an der Kritik des Logozentrismus sich festmachende Postmoderne Derridas. Das rege Interesse an Platons Philosophie von verschiedenen philosophischen Positionen aus ist eine Bestätigung, dass jedwede philosophische Richtung Platons Werk nach ihrem Interesse auslegt, gemäß jenem angeblichen, aus der späteren Antike stammenden Platonschen Traum, in dem er sich »als Schwan sah, den niemand fangen konnte« (8). E. meint, dass dieser Pluralismus der jeweiligen perspektivischen Interpretation keineswegs als Anlass zur Resignation oder gar als »Legitimation für postmoderne Beliebigkeit« dienen, sondern vielmehr neue Impulse zur weiteren Platonforschung geben sollte, was freilich auch die primäre Intention dieses zuverlässigen Buches ist.
Die Überzeugung, dass die Datierung von Platons Schriften für das Verständnis seiner Philosophie unabdingbar sei, ist ein Erbe der frühromantischen hermeneutischen Organismuskonzeption vom Kunstwerk, die sich freilich bis Flacius, dem Begründer der Hermeneutik, zurückverfolgen lässt. Platon behauptet nämlich im Phaidros, dass jede Rede (logos) bzw. jede Schrift als eine organische Ganzheit (hosper zoon; Phdr 264c) verfasst werden soll, damit sie als solche besser überblickt und verstanden werden kann. Der Autor soll immer die gegenseitige Stimmigkeit hinsichtlich des dialektischen Kontextes überprüfen und stets vor Augen haben. Bereits Flacius hat das Platonische synoptisch-dihairetische Verfahren, das Eine in den Vielen und das Viele in Einem sehen und untersuchen zu können, auf die Textanalyse bzw. -zergliederung (recta distributio textus) angewendet. Der Interpret solle analog dem Platonischen Dialektiker vorgehen und den Text im Hinblick auf seinen kontextuellen Sinnzusammenhang zu verstehen versuchen. In diesem Kontext bleibt die frühromantische Vorstellung, dass jeder Dialog auf dem vorhergehenden aufbaut und Platons sämtliche Schriften dementsprechend ein zusammenhängendes Ganzes darstellen, hermeneutisch äußerst relevant und für den Vollzug des Verstehens im Sinne des hermeneutischen Zirkels maßgebend. Die von K. F. Hermann ausgearbeitete Entwicklungshypothese erweist sich als eine gelungene Fortsetzung der Schleiermacherschen Forderung nach der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Platon und fungiert somit auch heutzu­tage als Grundlage für die systematische Einteilung des Platonischen Œuvre in drei Entwicklungsphasen: einer ersten, in der Platon unter enormem Einfluss seines Lehrers Sokrates stand; einer zweiten, in der er seine eigene Lehre ausgearbeitet und einer dritten, der Spätphase, in der er das eigene Philosophieren der schärfsten Kritik unterzogen hat. Prominente Experten wie Heinrich Meier, G. Santas, G. Vlastos, T. Irwin haben allerdings versucht, eine minuziöse Segregation des Sokratischen Denkens aus dem Platonschen geschriebenen Werk herauszukristallisieren, wobei gegen diese Bemühungen immer wieder Bedenken erhoben wurden (Ch. Kahn, M. Erler, W. Wieland), dass nämlich eine saubere Distinktion zwischen dem historischen und platonischen Sokrates der Früh­dialoge äußerst diskutabel bleibt. Nach E.s Urteil gibt es auch keine eindeutige »Schnittlinie« zwischen »einem aporetischen und einem affirmativen Sokrates in den Dialogen« (3.434). Die akzeptable Alternative zur Entwick­lungstheorie wäre entweder eine gewisse Einschränkung auf die einzelnen Dialoge, wie dies vor allem in der analytischen Platondeutung der Fall war (F. Cornford, F. Solmson, B. Skemp, R. Hackforth, R. S. L. Bluck), oder eine be­stimmte unitarisch-systematische Deutung, die den Konstanten im Platonischen Denken nachforscht. Unbestreitbar bleibt, dass Platon in seinem Philosophieren eine eindeutige Entwicklung vollzogen hat, da in seinem Denkweg verschiedene Etappen festzustellen sind, aber gleichwohl lässt sich weder aufgrund der philosophischen Querschnitte noch durch die stilistische Analyse seiner Schriften eine zuverlässige Chronologie der Dialoge erbringen.
E. besteht auch auf der tripartiten Struktur der Platonischen Schriften (frühe, mittlere und späte Dialoge), aber verwirrt seine Leser durch die Einordnung der Ideendialoge Phaidon und Symposion in die erste Gruppe. Das begründet er u. a. mit der verschiedenen Konzeption der Seele: Im Phaidon ist sie einfach und eingestaltig (mo­neides), im Staat wird dagegen das trichotomische Modell vertreten (383). Die auffallende Differenz besteht auch hinsichtlich der Hy­po­thesismethoden: Im Phaidon wird mit der Hypothesis das Verhältnis von dem sinnlich Wahrnehmbaren zu dessen Idee thematisiert, in der Politeia geht es primär um die Beziehungen zwischen Ideen (368). Dagegen muss eingewendet werden, dass die im Phaidon erörterte These von der Un­sterblichkeit der Seele, die auch zum Kern der Platonischen Philosophie gehört, sich mit den Ansichten in der Apologie, Kriton oder Gorgias kaum vereinbaren lässt.
In diesen aporetisch strukturierten Dialogen gibt sich Sokrates eher als Agnostiker hinsichtlich der postmortalen Existenz der Seele. Die Seele wird in diesen Schriften vielmehr als die individuelle Persönlichkeit aufgefasst (Apol. 36c; Crit. 47e; Gorg. 486e), die Frage nach ihrer (Un)sterblichkeit ist nicht die quaestio disputata. Die Sorge um die Seele (epimeleisthai tes psyches) in den Sokratischen Dialogen ist identisch mit der Selbsterforschung und der Sorge um die eigene Persönlichkeit (epimeleia heautou). Die Frage nach dem guten Leben, bzw. »wie man leben soll?« (pos bioteon; Gorg. 492 d), bleibt im Vordergrund der Sokratischen Diskussion und erweist sich letztendlich, wie es Heinrich Meier, dessen Name in E.s Buch leider nicht erwähnt wird, geschickt formuliert hat, als »das sittliche elenchein«, das nach der »sittlichen Klarheit« strebt. Im Phaidon erreicht man die Klarheit durch die Katharsis der Seele, die nach der Befreiung aus ihrer körperlichen Einkerkerung strebt. Aus dem Argument aus Gegensätzen (antapodosis) im Phaidon lässt sich folgern, dass die Zahl der überindividuellen, unsterblichen Seelen be­grenzt ist, während die Summe ihrer Wiedergeburten anscheinend unerschöpflich bleibt. Die Lehre von den Ideen, die im Phaidon als das Abgedroschene und Altbekannte (polythryleta) gekennzeichnet werden, steht in jeder Hinsicht den Explikationen in der Politeia näher als denen in den elenchistischen Dialogen Euthyprhon und Laches. Dasselbe gilt auch für Sokrates, der im Phaidon, Symposion und Staat als Sprecher Platonischer Philosophie auftritt und den Eindruck des großen Eruditen und Erziehers erweckt, während er in den elenchistischen Dialogen als nichtwissender Ironiker das Scheinwissen seiner Gesprächspartner widerlegt oder infrage stellt bzw. ihre Gewissheit im Wissen erschüttert. Die Vielfalt der im Phaidon diskutierten philosophischen Themen lässt sich m. E. an­gemessener erklären im Zusammenhang mit der Politeia und Phaidros als im Kontext der sog. aporetischen Dialoge. Dasselbe gilt für die Ankoppelung des Symposions an die Ideendialoge, vor allem, weil E. unter Berufung auf H. Krämer gerade auf die Konvergenz zwischen dem Aufstieg der Seele zum Schönen selbst im Symposion (210 a ff.) und dem Aufstieg zur Idee des Guten im Staat verweist und demzufolge eine »Identität des Schönen im ›Symposium‹ und des Guten in der ›Politeia‹ vermuten« lässt (373 f.).
Kritisch ist auch zu bemerken, dass E., im Sinne des Platonischen Wortes choris, die Transzendenz mit Cherniss generell als Eigenschaft der Ideen betrachtet und diesen Begriff nicht als lateinische Übersetzung von epekeina versteht. Die verbissenen Widersacher in der Platondeutung kontinentaleuropäischer Tradition (Wieland, Gadamer, Ferber, De Vogel, H. Krämer, Szlezak, Reale, Halfwassen) sind zumindest hinsichtlich der Auslegung der Idee des Guten einig, dass nämlich die Transzendenz (epekeina tes ousias) ihre Grundbestimmung ist. E. äußert sich zu diesem wichtigsten Philosophem der europäischen Metaphysik eher zurückhaltend: Die Idee des Guten »ragt an Würde und Kraft über das Sein hinaus«. Dieses »ambivalente Bild war in der Antike hochberühmt, wurde vielfach und bisweilen frei nachgestaltet und unterschiedlich interpretiert« (399). Das Rätsel des ›Epekeina‹ lässt sich nach E.s Ansicht nicht textimmanent aufhellen, aber die Tatsache, dass die Idee des Guten als »bedeutendes Wissen« apostrophiert wird, lässt, so E. unter Berufung auf M. Baltes, »ebenfalls an einer reinen Transzendenz zweifeln«. E. bleibt dabei konsistent in seiner Explikation, dass wir nämlich für die Lösung des Änigmas eine Zuflucht zu den esoterischen agrapha dogmata mitnichten su­chen sollten. Jeder Interpret, der das orientierende Model in der sog. »Ungeschriebenen Lehre« sucht, darf nicht außer Acht lassen, dass es nicht leicht ist, »ein sokratisches Moment in der Prinzipienlehre zu finden« (429).
Die Kapitel »Ethik« und »Politische Philosophie« sind m. E. die eindrucksvollsten in E.s Buch, vor allem deshalb, weil etlichen Fallen ausgewichen wird. Überzeugend ist nachgewiesen, dass Platon »zwischen einer Theorie des glücklichen Lebens und einer Theorie des moralisch Guten (Pflichtethik)« nicht unterscheidet (431 f.). Es bleibt freilich fragwürdig, ob Platon als »ethischer Egoist« charakterisiert werden darf, auch wenn sein »Egoismus Respekt für andere meint«, oder ob man ferner seine Ethik aufgrund der häufigen Gleichsetzung des Guten und Nützlichen ( ophelimon, chresimon, sympheron, lysiteles) als utilitaristisch kennzeichnen dürfte (435), weil namentlich der Utilitarismus in seiner Frühphase an einem hedonistisch ausgerichteten Ideal (the greatest happiness of the greatest number) stark orientiert war. Auf die Gefahr, Platons Konzeption der Gerechtigkeit konsequentialistisch zu deuten, haben vor allen B. Williams, R. E. Allen und W. Wieland aufmerksam gemacht: Im Falle einer utilitaristischen Deutung der Gerechtigkeit könnten sich problemlos Gelegenheiten ergeben, wo man sich zwecks der sog. höheren Ziele, die angeblich zu bevorzugen wären, für die Scheingerechtigkeit entschiede. Diese ethische Orientierung, in der die Lebensklugheit als maßgebender Wert bleibt, lässt sich mit dem Sokratischen Grundsatz, dass man eigentlich Unrechtleiden dem Unrechttun vorzieht, unter keinen Umständen in Einklang bringen.
E. ist fest davon überzeugt, dass sich ein Fortschritt in der Dis­kussion um die Bestimmung der Arete in Platons Schriften nicht leugnen lässt: »Die prinzipielle Lösbarkeit der Aporie« findet man in der Politeia. »Die Beantwortung der Frage nach der Gerechtigkeit scheitert im ersten Buch (›Aporie‹), wird aber in den folgenden Bü­chern mit den ›philosophisch‹ aufgeschlosseneren Brüdern Adei­manstos und Glaukon auf höherem Niveau« fortgeführt. Ob die endgültige Definition der Gerechtigkeit (ta hautou prattein; 434 d), wonach »jeder das Seinige tut und hat und sich nicht in vielerlei mischt!« »widerlegungsresistent« ist, bleibt durchaus offen. Vergleicht man jedoch diese verbesserte Definition der Gerechtigkeit mit derjenigen aus dem ersten Buch – dikaion esti to proshekon he­kas­to apodidonai, »gerecht ist eine Handlung, wenn sie jedem das gibt, was er verdient« (332c) –, erweist sich die elenchierte Definiton als ge­nauere und vollständigere. Tugendhat behauptet in seinen Vorlesungen über Ethik, dass wir in der europäischen Tradition keine bessere Definition der Gerechtigkeit ausfindig machen können. – Die zum Teil überraschende Einordnung des Dialogs Hippia maior unter »unechte Schriften – dubia«, wobei E. den Beispielen von Ch. Kahn und E. Heitsch folgt, wird bestimmt eine intensive Diskussion auslösen. Negativ wird auch Epistula VII attestiert, obwohl dieser Brief »als eine zentrale Quelle für das Leben Platons, aber auch für seine Philosophie« gilt (314) und noch immer entschlossene Befürworter seiner Authentizität findet (Guthrie, M. Tulli).
E.s Buch enthält eine Fülle hermeneutischer Erträge zu den wichtigsten Themen der platonischen Philosophie. Durchgängig wird versucht, sorgfältig und akribisch die Intention des Verfassers möglichst korrekt und auf höchstem Reflexionsniveau zu erschließen. Das Werk ist jedem, der an Platons Philosophie, an der Ge­schichte des Platonismus und der europäischen Geistesgeschichte interessiert ist, zu empfehlen.