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Ausgabe:

Februar/2010

Spalte:

203-204

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Labonté, Thomas

Titel/Untertitel:

Die Sammlung »Kirchenlied« (1938). Entstehung, Corpusanalyse, Rezeption.

Verlag:

Tübingen: Francke 2008. IX, 230 S. m. Tab. gr.8° = Mainzer Hymnologische Studien, 20. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-7720-8251-1.

Rezensent:

Konrad Klek

Aus den ergiebigen Forschungen des inzwischen beendeten Mainzer Graduiertenkollegs »Geistliches Lied und Kirchenlied interdisziplinär« entstand diese gründlich recherchierte Arbeit zur jüngeren katholischen Gesangbuchgeschichte. »Kirchenlied« ist ein im Kontext der katholischen Jugendarbeit in den 1930er Jahren konzipiertes und weit verbreitetes Liederheft mit (nur) 140 Titeln, das eine große Prägekraft für das gesamte kirchliche Singen entwickelt hat bis hin zur Konzeption des »Gotteslobs« in den 1970er Jahren. Es ist auch das erste katholische Gesangbuch mit einem an­sehn­lichen, gut 40 Titel umfassenden Korpus von Liedern evangelischer Provenienz.
L. referiert zunächst umsichtig den Entstehungsprozess in der zeitgenössischen, schwierigen Gemengelage von Jugendbewegung mit Liturgischer Bewegung, konzentriert um das Jugendhaus Düsseldorf, und den besonderen Bedingungen der Nazi-Herrschaft. Die Biographie der drei Herausgeber Josef Diewald, Adolf Lohmann und Georg Thurmair wird – ein bemerkenswerter Ansatz – auch aus der Sicht der zu ihnen geführten Gestapo-Akten erschlossen! Der hindernisreiche Vorgang zur Erteilung der Druckgenehmigung ist ebenfalls reflektiert: Die vielen evangelischen Lieder und die im Vorwort in den Blick genommenen »alle[n] Christen in deutschen Landen« haben den Druck wohl ermöglicht. Im 100 Seiten umfassenden Hauptteil der Corpusanalyse präsentiert L. in tabellarischen Auflistungen die Titelüberschneidungen mit unmittelbar vorausgehenden Diözesangesangbüchern, mit einschlägigen Liederheften der Jugendbewegung und mit dem im evangelischen Bereich als Richtgröße fungierenden Gesangbuch DEG (1915). Zur minutiös erhobenen Quellengeschichte gehört ein Nachweis von Melodie- wie Textfassung zu jedem Titel des »Kirchenlied«. Die Programmatik des Liederhefts wird anhand des jeweils vollständig wiedergegebenen Vor- und Nachworts erhellt. Der Abschnitt zur Rezeption widmet sich der Wirkungsgeschichte namentlich nach 1945 mit dem Einfluss des »Kirchenlied« auf die dann neu publizierten Diözesangesangbücher und das »Gotteslob«.
Über das alle Gesangbuchforschung kennzeichnende »trockene« Geschäft der Quellensichtung und -präsentation hinaus enthält diese Arbeit spezifisch spannende Momente durch die Reflexion auf den Kontext der NS-Zeit. Den Hauptteil schließt ein Exkurs ab mit der Überschrift: »War Kirchenlied ein Buch des Widerstandes gegen die NS-Diktatur?« Hier analysiert L. einzelne neue Lieder des Liederbuches und hinterfragt kritisch die nach 1945 verbreitete Tendenz, die Liedsammlung zum Buch des Widerstands zu erklären. Deutlich herausgearbeitet wird die Bevorzugung von Führerprinzip und Kampfesmetaphorik in Anlehnung an den NS-Jargon auch in vielen religiösen Liedern. Allerdings scheint das Urteil von L. bisweilen doch zu unsensibel für die besonderen Bedingungen der Zeit, wenn er die biblische Metaphorik von der »bösen Zeit« und vom Kampf wider die Feinde nicht als intentional verdeckte Schreibweise gelten lassen will.
Ein weiteres spannendes Feld wird leider nicht beackert. Die Übernahme von nicht weniger als 55 Liedern (also mehr als ein Drittel!) aus dem seit 1932 ähnlich rasant sich verbreitenden Liederbuch für die evangelische (männliche) Jugend Der helle Ton wird lediglich als »erstaunlich« konstatiert (86). Hier wäre eine genauere Untersuchung der Querverbindungen via Jugend- und Singbewegung oder durch persönliche Kontakte (?) der »Führer« in beiden konfessionellen Lagern ebenso geboten wie eine Reflexion über die charakteristischen Motive dieser »ökumenischen« Lieder. L. entgeht denn auch, dass gerade die Rubrik-Überschrift zu den Liedern in speziell kriegerischen Tonfall mit »Kommt her, des Königs Aufgebot« den Liedanfang eines 1898 vom Straßburger evangelischen Hymnologen Friedrich Spitta kreierten Gesanges mit der Zweckbestimmung »Reformationsfest und Feiern des Evangelischen Bundes« wählt. Ohne Reflexion solcher hermeneutischer Verschiebungen bei der Rezeption von Liedmetaphern bleibt hymnologische Forschung und Gesangbuchgeschichte dann doch etwas blass.