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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

81-83

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried

Titel/Untertitel:

Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XII, 491 S. gr.8°. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-11-019925-3.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Nach gesammelten Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie (2005) sowie zur Ekklesiologie und Ethik (2007) legt Wilfried Härle einen dritten Band zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre vor. Von den 25 Beiträgen sind sieben bisher unveröffentlicht, so dass manches Bekannte wieder begegnet. Auch wenn der Band keine äußere Gliederung hat, folgt der Abdruck der Texte doch einem sachlichen Aufbau, auf den das Vorwort hinweist (X).
Die ersten zehn Texte geben Auskunft über H.s Verständnis von Fundamentaltheologie (1–138). Die Themenpalette führt vom Verständnis des »Wesens des Christentums« über das »christliche Verständnis von Wahrheit« und das darin mit gesetzte Verständnis von »Wirklichkeit«, »Gewissheit« und »Toleranz« bis zu den Fragen von Schrift, Tradition und Schriftauslegung. Darauf folgt eine Gruppe von fünf Texten (184–305), die sich mit Luthers Theologie befassen, besonders mit der Rechtfertigung, dem Verhältnis von Paulus und Luther, Luthers Theologie als Kunst lebenswichtiger Unterscheidungen, der Zwei-Regimenten-Lehre und Überlegungen zum Gebet. Die folgenden acht Studien gelten der Gotteslehre (306–458). Ihre Themen erstrecken sich von der Verborgenheit Gottes, dem Verständnis von Liebe und Zorn Gottes, der Theodizeefrage und den Herausforderungen des Leidens über die christolo­gischen Fragen der Heilsbedeutung des Todes Jesu und der Bedeutung des leeren Grabes für den Osterglauben bis hin zur Tri­nitätslehre, die aus dem genuin triadischen Zeichenprozess von Gottes Selbstoffenbarung hergeleitet wird. In programmatischer Absicht werden die christologischen Überlegungen zu Kreuz, Grab und Auferweckung Jesu Christi in die Gotteslehre eingeordnet und vor der Studie über die Trinitätslehre abgedruckt. Damit bekräftigt H. das in seiner Dogmatik ( 32007) verfolgte Programm, die Gotteslehre zur Rahmentheorie aller theologischen Themen zu machen. Eine letzte Gruppe von zwei Texten greift eschatologische Themen auf (459–488) – nämlich die Fragen, wie das Eschaton zu predigen und die Auferstehung der Toten sowie das ewige Leben zu verstehen seien. Eine Zusammenstellung der Veröffentlichungsnachweise be­schließt den Band. Register sind nicht beigegeben.
Durchgängig weisen die Studien die argumentative Umsicht und Klarheit auf, die man von H. gewohnt ist; durchgängig belegen sie seine intensive Beschäftigung mit Luther; und durchgängig lassen sie die enge Beziehung zu den Themen und Diskussionen des TAP (Theologischer Arbeitskreis Pfullingen) erkennen. Viele Studien sind aus Vorträgen entstanden, und H. will sie auch »nicht primär als Beiträge zum innertheologischen wissenschaftlichen Fachgespräch«, sondern »als versuchte Brückenschläge von der theo­logischen Theorie in die persönliche christliche Existenz und in die gemeindliche und schulische Praxis« verstanden wissen (XI). Aber selbstverständlich führen sie auch ein durchaus kontroverses wissenschaftliches Gespräch weiter. Das zeigt sich schon daran, dass nicht wenige Studien umstrittene Entscheidungen seiner Dogmatik zu präzisieren und zu verteidigen suchen – vom Einstieg bei der Wesensfrage (13 ff.) bis zur Skepsis gegenüber einer Lehre von der Allversöhnung (477). Im fundamentaltheologischen Be­reich – und darauf werde ich mich beschränken – gehören dazu insbesondere seine Bestimmung des Wesens des Christentums, sein Verständnis von Wahrheit und seine dynamisch-relationale Konzeption von Wirklichkeit.
So nimmt H. in den Eingangstexten den problematischen Einstieg seiner Dogmatik mit der Frage nach dem Wesen des christlichen Glaubens auffällig zurück und möchte sie nur in einem »zunächst ganz anspruchslos wirkenden Sinn« als Hinweis auf das verstanden wissen, was nicht unbeachtet bleiben dürfe, wenn man den Charakter des christlichen Glaubens nicht verfehlen wolle (14). Die Frage nach dem »Wesentlichen des Christentums« sei zwar strittig (2), aber sie lasse sich in evangelischem Sinn im Rückgang auf den biblischen Kanon als »Ursprungszeugnis« (2) doch eindeutig beantworten: Die »Rechtfertigung allein aus Glauben« sei » das Wesentliche« des Christentums (10), denn darin gehe es um das Vertrauen auf die »unverfügbare Liebe Gottes, die in Jesus Christus menschliche Gestalt angenommen hat« (11). Die begriffliche Eindeutigkeit dieser These könnte ihre hermeneutische Pointe verde­cken: Theologisch entscheidend ist die gegebene inhaltliche Be­stimmung, nicht die verwendete Begrifflichkeit. Auf die Rede von Wesen, Wesentlichem, ja selbst auf theologische Begriffe wie Rechtfertigung kann evangelische Theologie gegebenenfalls verzichten (wie Luthers Katechismen belegen), auf die damit angezeigte und zu denken versuchte Sache nicht. Auf sie kommt es theologisch an, an ihr haben sich die Begriffe auszurichten und sie ist in der Auslegung menschlicher Lebensphänomene in einer zeitgemäßen Sprache immer wieder zu konkretisieren, wie H. nicht nur in seinen Überlegungen zur »Rechtfertigung heute« deutlich macht (184 ff.).
Eine ähnliche Spannung zwischen argumentativ nahegelegter begrifflicher Eindeutigkeit und der Relativierung der verwendeten Begrifflichkeit gegenüber der anvisierten Sache lässt sich in vielen Texten, auch in denen zum Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens beobachten. Ohne auf die vielfältigen Probleme detailliert einzugehen, versteht H. »Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem« im Sinn der Adäquanztheorie, die durch andere Wahrheitstheorien bestenfalls ergänzt, aber nicht ersetzt werden könne (25 f.). Diese Adäquanz interpretiert er im Anschluss an Ch. S. Peirce semiotisch (30 f.), dessen Zeichentheorie dagegen mit Hermann Deuser kosmologisch-realistisch (32 f.). In scharfer Abgrenzung gegen den »Radikalen Konstruktivismus«, den er nicht nur »für eine falsche, sondern darüber hinaus für eine außerordentlich gefährliche Theorie« hält (67), besteht H. nicht nur auf einer »widerständigen, sich unseren Wünschen und Konstruktionen verweigernden Realität« (65), sondern darüber hinaus auch darauf, dass diese Realität sich letztlich eindeutig erkennen lässt. Dafür führt er erkenntnistheoretische und theologische Argumente an. Erkenntnistheoretisch baue alles Erkennen auf basalen, in­terpretationsfreien Wirklichkeitswahrnehmungen auf: »Die un­mittelbare, noch uninterpretierte Wahrnehmung – vermittelt durch unsere (äußeren oder inneren) Sinne – liegt all unseren Erkenntnisakten zugrunde.« (63) Das ist eine mehr als strittige These, die erheblich genauere Begründungen erfordert hätte, als H. sie gibt, um überzeugend zu sein. Das umso mehr, als dieses Er­kenntnis- und Wahrheitskonzept untauglich für die Erkenntnis Gottes zu sein scheint. Denn mit welchen äußeren oder inneren Sinnen wird Gott denn wahrgenommen?
Da H. Gott nicht als Interpretament wahrgenommener Weltwirklichkeit verstehen, aber auch nicht den Weg der reformierten Erkenntnistheorie gehen will, die im Gefolge Calvins einen speziellen sensus divinitatis postulierte, kann er an der Adäquanztheorie der Wahrheit nur festhalten, indem er die Wirklichkeit, mit der der intellectus übereinstimmen soll, radikal antineuzeitlich durch eine kategoriale Unterscheidung zwischen »Tatsachenwahr­hei­t[en]« und »Wirklichkeitswahrheit« (36) auslegt, »alle Wahrheitserkenntnis auf einem Geschehen der Erschließung der Wirklichkeit« beruhen lässt, »das den Charakter von Offenbarung und Erleuchtung hat« (42), und alle Wirklichkeit schöpfungstheologisch auf Gott als den trinitarischen »Ursprung der Wirklichkeit« bezieht, »der den gesamten Erkenntnisprozess insofern bestimmt, als er ihn ermöglicht, stimuliert und orientiert« (35). Auf der einen Seite wird also erkennen mit Augustin als erleuchtet werden verstanden (42) und so letztlich in Gottes Wirken verankert, auf der anderen Seite das für uns Erkennbare unterschieden in »Tatsachenwahrheiten« und die »Wirklichkeitswahrheit« (im Singular), die »die Möglichkeitsbedingung aller Tatsachenwahrheiten, aber gleichwohl von ihnen kategorial zu unterscheiden« sei (36). Während sich die Wirklichkeitswahrheit »auf die Erkenntnis von Ursprung, Wesen und Bestimmung der Wirklichkeit im ganzen« beziehe, also auf Gott ziele, bezögen sich die Tatsachenwahrheiten »auf die Erkenntnis der Einzelsachverhalte und Sachverhaltsklassen in ihrer Fülle und Vielfalt« (36 f.), also auf das uns fragmentarisch Erkennbare der Schöpfung. Menschen sei im begrenzten Umfang ihrer geschöpflichen Endlichkeit die Erkenntnis von Tatsachenwahrheiten möglich, Wirklichkeitswahrheit dagegen könnten sie aufgrund ihrer schuldhaften Entfremdung von Gott überhaupt nicht erkennen, wenn sie dazu von Gott nicht ausdrücklich befähigt würden (41). Gott wirkt nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch ihre Erkenntnis. Nur deshalb gibt es Wahrheitserkenntnis. Kurz: Nur wer erkennt, wie Gott erkennt, erkennt wirklich. Wirklich wahr ist allein, was Gottes Sicht von Ursprung, Wesen und Bestimmung der Wirklichkeit als Ganzer entspricht; was nur mit den Fakten der Welt übereinstimmt, ist allenfalls richtig. Man muss das nicht einen theologischen Realismus nennen. Man kann es auch als einen radikalen theologischen Konstruktivismus verstehen. So oder so ist es eine ganz und gar nicht selbstverständliche, sondern hoch kontroverse Konzeption.
Der Reichtum des Bandes ist mit diesen Bemerkungen noch nicht einmal angedeutet. Wer sich mit diesen Studien befasst – und das kann jedem empfohlen werden! –, sollte nicht übersehen, wie wenig selbstverständlich viele der von H. in klarer Sprache argumentativ nahegelegten Selbstverständlichkeiten sind. Gerade das macht sie interessant und unterscheidet diese Spurensuche nach Gott wohltuend von vielen zeitgenössischen Beiträgen zur religiösen Lebensdeutung, die nur sagen, was ohnehin niemand bestreitet. In H.s Theologie steht Gottes Wirken im Zentrum (257 ff.), und er legt dafür Argumente vor, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Es kennzeichnet gute Theologie, dass sie zum Mitdenken, aber auch zum anders Denken anregt. Für beides bietet dieser Band mannigfache Gelegenheit.