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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

62-64

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Sack, Hilmar

Titel/Untertitel:

Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2008. 278 S. gr.8° = Historische Forschungen, 87. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-428-12655-2.

Rezensent:

Angelika Dörfler-Dierken

Das »Urtrauma« der deutschen Geschichte vor den beiden Weltkriegen des 20. Jh.s mit weitreichenden Folgen für die kollektive Identität der Deutschen identifizieren manche Wissenschaftler mit dem Dreißigjährigen Krieg. Unabhängig davon, ob der Begriff »Urtrauma« angemessen ist, ist es doch bemerkenswert, dass die gesamteuropäische, auf deutschem Boden ausgetragene militärische Auseinandersetzung über die Jahrhunderte hin im kulturellen Gedächtnis verankert blieb, dass mit Hinweis auf den Krieg insbesondere im 19. Jh. Politik gemacht wurde.
Hilmar Sack zeigt in seiner von Heinrich August Winkler be­treuten Dissertation auf, wie diese Geschichtspolitik im 19. Jh. funktioniert hat, welche Politiker und politischen Gruppen, welche Historiker und Theologen mitsamt ihren jeweiligen Schulen den Krieg für ihre politischen Ziele instrumentalisiert, welche Lehren sie aus diesem Krieg abgeleitet haben. So haben die »Akteure des Deutungskampfes« (14) durch ihre Re-Konstruktionen des Dreißigjährigen Krieges mit der »Mobilisierungs- und Integrationskraft der kollektiven Vorstellung« (15) mehr oder minder virtuos zu spielen vermocht.
Ausgangspunkt der Untersuchung des öffentlichen Rekurses auf den Dreißigjährigen Krieg ist eine anschauliche Darstellung des Wandels der Erinnerung an ihn: Aus dem von den Zeitgenossen und Nachlebenden kommunikativ erinnerten Ereignis, bei dem die Freude über den Frieden – und bei den Evangelischen die Freude über die Bestätigung ihrer Besitzstände und Rechte – überwog, wurde an der Wende zum 19. Jh. ein »Synonym nationaler Schmach und Demütigung durch das feindliche Ausland« (27). Es dominierte zunehmend ein »antifranzösischer Impetus« (28), abgeleitet aus dem Verlust von Elsass, Schweiz und den Niederlanden. Indem der Krieg als zivilisatorische Katastrophe geschildert wurde, konnte eine neue nationale Identität konturiert werden: eine »deutsche Gefühls- als Leidensgemeinschaft« (27).
Der Deutungskampf zwischen großdeutsch-katholisch und kleindeutsch-protestantisch orientierten Historikern und Politikern kreiste um Fragen der nationalen Identifikation (Kaiser und Reich oder Protestantismus und Preußen), um Fragen der sozialen und politischen Identifikation (katholische Revolution oder pro­tes­tantische Reformation) und um Fragen der Bewertung historischer Persönlichkeiten (Tilly oder Gustav Adolf als Lichtgestalt). Als Lösung dieser Dilemmata erschien der Gedanke einer »Friedensmission« (56) der deutschen Nation gegenüber den anderen Staaten Europas, der sich zwanglos mit bellizistischem Pathos verbinden ließ.
Gerade in den Weichen stellenden Jahren des 19. Jh.s, 1848 und 1866, konnte S. die Wandlungen des Bildes des Dreißigjährigen Krieges aufweisen, die an dieser Stelle nur knapp referiert werden können: Die liberalen Sympathisanten der Revolution stellten einen negativ konnotierten Bezug zum Dreißigjährigen Krieg und einen positiv konnotierten zur antinapoleonischen Erhebung von 1813 her. Sie wollten die soziale Frage lösen und einen Bürgerkrieg vermeiden. Die Katholiken waren weiterhin der Überzeugung, »dass nur die Einheit der Christenheit im Zeichen des Katholizismus die sittliche Grundlage zu nationaler Größe bieten würde« (97). Die liberalen Protestanten hielten dagegen, der »nationale Entwicklungsstau« (ebd.) sei auf das Konto des konfessionellen Opponenten zu rechnen. Konservative Protestanten kritisierten die nationale Ausrichtung des Denkens und wollten an der alten Kirchenverfassung und dem landesherrlichen Kirchenregiment festhalten. Sie lehnten die Paulskirchenverfassung mit ihrer Trennung von Kirche und Staat ab. Beliebt wurden Geschichtsapplikationen, Identifikationen politischer Akteure mit Tilly oder Wallenstein, um bei der Zuhörer- bzw. Leserschaft Emotionen gegenüber dem Zeitgenossen zu evozieren.
Die Einigung Deutschlands im Jahre 1866 wurde von Liberalen als endgültiger und die Festlegungen des Westfälischen Friedens endlich überwindender Sieg des protestantischen Prinzips gefeiert. Interessanterweise gelang die Kriegsmobilisierung besonders gut, weil man darauf hinweisen konnte, dass für Österreich nicht nur Deutsche, sondern auch Soldaten vieler anderer Völker kämpften. Die Katholiken sahen in der Reichseinigung ohne Österreich eher einen Schritt hin zur »Selbstauflösung des Protestantismus« (Zitat aus Der Katholik, 208).
Dass geschichtspolitische Ambitionen die Historiker des 19. Jh.s bewegten, dass die damalige politische Kultur auf das Traditionsargument bei der nationalen Sinnfindung nicht verzichten wollte, ist bekannt – allerdings bisher noch nicht derart umfassend dokumentiert worden wie von S. Seine detailverliebte Darstellung ba­siert auf gründlicher Quellenrecherche und kenntnisreicher Interpretation. Der Leser fragt sich allerdings manchmal, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, die Quellen stärker zu gewichten und je­weils herauszuarbeiten, welche Argumente besonders zugkräftig waren. Nur gelegentlich macht S. die Bedeutung des Autors kenntlich, nennt Auflagenzahlen von Zeitschriften, Mitgliederzahlen von Vereinen oder den Anlass der Rede. Bei der gewählten referierenden Darstellungsweise, die eine straffe Gliederung vermissen lässt, verschwinden die Meinung bildenden und Mobilisierung stiftenden Argumente in einer Vielzahl von Äußerungen.
Keine Überlegungen finden sich in dieser Untersuchung zu der Frage, warum die Menschen im 19. Jh. derart erpicht darauf waren, ihre Sicht der politischen Gegenwart und Zukunft Deutschlands aus der Deutung des Dreißigjährigen Krieges heraus zu begründen. Woher kam eigentlich das Interesse an geschichtsphilosophischen und sogar heilsgeschichtlichen Entwürfen? Könnte es sein, dass gerade die konfessionelle Zersplitterung Deutschlands das »Urtrauma« des Dreißigjährigen Krieges gerade deshalb immer wieder revozieren konnte, weil beide Seiten, die Katholiken ebenso wie die Protestanten, sich im 19. Jh. als Verlierer empfunden haben? Die einen, weil die Einheit der Kirche zerbrochen war; die anderen, weil sie davon überzeugt waren, die besseren Christen zu sein? Das würde dann aber bedeuten, dass die konfessionelle Identität eine noch größere Bedeutung hätte als von S. herausgearbeitet.
Neu und innovativ am Ansatz dieser Dissertation ist die Ein­beziehung der psychologischen Dimension der für das Kollektiv bereitgestellten Narrationen: »Die Tradierung und die Instrumentalisierung von Demütigungs- und Schuldgefühlen, deren Zu­sammenspiel mit realen Inferioritätsgefühlen und Bedrohungsängsten, lassen wichtige Hinweise zur emotionalen Disposition einer nach nationaler Geschlossenheit strebenden Nation erwarten. Dahinter verbirgt sich möglicherweise ein neues Erklärungspotential für ein Machtstreben, das nationale Unsicherheit zu kompensieren suchte und mit dem Aggressionsbereitschaft und Krieg als gerechtfertigtes nationalpolitisches Mittel den universalen Anspruch des nationalen Denkens verdrängten.« (21) So formuliert S. in der Einleitung – leider wird dieser Gedankengang im Schlusskapitel »Der Dreißigjährige Krieg als Trauma deutscher Zwietracht« (211–229) nicht wieder aufgenommen. Deutlich wird aber aus der Untersuchung, dass die Umdeutung des Westfälischen Friedens zu einer Schmach für die Katholiken ebenso wie für die Protestanten eine unheilvolle Logik in Gang setzte, weil der Ge­danke der Nation die aus den gegenläufigen konfessionellen Identitäten herrührenden Spannungen nicht lösen konnte. Negativ gewertete Konfessionalität hat somit die Kriegsorientierung der deutschen Gesellschaft befördert.