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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

58-60

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Stölting, Ulrike

Titel/Untertitel:

Christliche Frauenmystik im Mittelalter. Historisch-theologische Analyse.

Verlag:

Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 2005. 551 S. 8°. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-7867-2571-8.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Der vorliegende Band ist die Druckfassung einer Habilitationsschrift mit dem Titel »Christliche Frauenmystik im 12. und 13. Jh. Quellen, Kontexte, Theologie, Schwerpunkte der Mystik, Dokumentation«, die im Sommersemester 2004 an der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes in Historischer Theologie und Religionswissenschaft eingereicht wurde. Die Verfasserin Ulrike Stölting ist Privatdozentin für das Fach Religionswissenschaft in Saarbrücken. Von ihr liegen einige wenige weitere Arbeiten im sachlichen Umfeld des Buches, so z. B. zu Marguerite Porète­, aber auch zur Mystik im Islam vor.
S. will ausweislich des einleitenden Problemaufrisses eine »An­näherung an das Denken und an die Mystik der Autorinnen« (13) versuchen, die durch ihre Schriften die Frauenmystik des Hochmittelalters geprägt haben. Die Eigentümlichkeit und auch die Andersartigkeit der Frauenmystik sollen aufgezeigt werden (13 f.). Zudem soll die Frauenmystik als spezifisches Phänomen des Hoch- und des frühen Spätmittelalters erfasst werden (14). Ehe sich S. ihren Autorinnen und deren Quellen zuwendet, schickt sie eine Einführung voran (15–56), in der sie eine Begriffsbestimmung der Mystik, die Klärung ihrer Kontexte im Mittelalter und die Voraussetzungen der Frauenmystik des 12. und 13. Jh.s recht konventionell, aber erhellend klärt. Dabei hätte den kurzen Ausführungen über das (ja nicht nur in der Mystik relevante) Phänomen der Visionen (53–55) eine Vertiefung gut getan.
Alsdann präsentiert S. die einschlägigen Autorinnen und Quellen, die sie in fünf Rubriken einteilt. In der ersten Rubrik über europäische Frauenmystik im 12. Jh. (57–102) werden Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau behandelt. In der zweiten Rubrik über flämische Beginen-Mystikerinnen in der ersten Hälfte des 13. Jh.s (103–154) werden Beatrijs von Nazareth und Hadewijch traktiert. Die dritte Rubrik widmet sich der deutschen Mystik im 13. Jh. (155–320); hier geht es um Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn, Gertrud von Helfta und Agnes Blannbekin. Die gesamte vierte Rubrik über französischsprachige Mystik im späten 13. und zu Beginn des 14. Jh.s gilt, abgesehen von zwei Seiten über Marguerite d’Oingt, der 1310 hingerichteten Begine Marguerite Porète und ihrem Spiegel der einfachen Seelen (321–440). Die fünfte und letzte Rubrik behandelt die franziskanische Frauenmystik im 13. Jh. und zu Beginn des 14. Jh.s (441–523); nach kurzen Notizen zu Klara von Assisi, Douceline von Digne und Margareta von Cortona gilt hier das Augenmerk dem dunklen und schwierigen Werk Angelas von Foligno. Die Zuordnung der Mystikerinnen zu den genannten Rubriken überzeugt. Am Ende des Durchgangs ist man lediglich etwas überrascht, dass man beispielsweise über Brigitta von Schweden oder über die Engländerin Julian of Norwich gar nichts erfährt.
Das methodische Vorgehen ist bei allen behandelten Mystikerinnen gleich, die Ausführlichkeit der jeweiligen Darstellung hängt schlicht mit dem Umfang des jeweils erhaltenen Werkes zusammen. Um zu zeigen, wie das Buch angelegt ist, kann sich die Rezension auf zwei ausgewählte Beispiele beschränken. Zu Mechthild von Hackeborn wird zunächst ein kleiner, informativer Vorspann über die Zisterzienserinnen und Helfta geboten (214–221), sodann werden die einleitungswissenschaftlichen Fragen zu Leben und Werk geklärt. Das Profil der Mystik Mechthilds wird danach auf einigen Seiten umrissen (232–237), ehe S. umfängliche Textauszüge aus Mechthilds Liber specialis gratiae abdruckt (237–264), und zwar aus der einzigen deutschen Übersetzung von Joseph Müller (Regensburg 1881). So interessant diese ausführlichen Passagen sind, wundert es doch, dass S. sich jeder Kommentierung enthält und sich auf die Aufgabe der Auswahl und auf die Wiedergabe existierender Übersetzungen be­schränkt. Ein eigenständiger Zugriff auf das Werk Mechthilds ist nicht erkennbar. Zu Marguerite Porète wird zunächst der relative Sonderstatus der französischen Begine in der Geschichte der mittelalterlichen Frauenmystik unterstrichen (323–325), danach werden die Biographie Marguerites unter besonderer Berücksichtigung ihres Prozesses und die Einleitungsfragen zum »Spiegel« eingehend geklärt (326–336.336–395); in jenem zweiten Abschnitt finden sich zudem anregende Exkurse zum Problem der Vernichtigung (361–363), zum Verhältnis Marguerites zum Neuplatonismus (368 f.) oder zur schwer zu deutenden Gestalt des Fernnahen (371–374). Eine entscheidend über den Forschungsstand hinausgehende Beobachtung sucht man aber auch hier vergebens. Auch das Kapitel über Marguerites Spiegel schließt mit der Darbietung von insgesamt 33 Textbeispielen (395–440) in der deutschen Übersetzung von Luise Gnädinger (München 1987), die nur an ganz wenigen Stellen mit einer Anmerkung inhaltlicher Art versehen werden.
Entstanden ist eine Sammlung wissenschaftlicher Miniaturen zu den Mystikerinnen des Hoch- und Spätmittelalters, die über Leben und Werk der jeweiligen Autorin zuverlässig informieren und Auszüge aus ihren Schriften präsentieren. Zweifellos überbieten diese Miniaturen die vorhandenen einschlägigen Lexikonartikel und auch die Kurzdarstellungen in den Anthologien zur Mystik an Ausführlichkeit und Gründlichkeit. Ganz bewusst unterbieten sie das Format einer Gesamtdarstellung zu der jeweiligen Frauengestalt und/oder ihren Texten, wobei S. allerdings notiert, ihre Ausführungen »ließen sich … leicht – später – zu umfangreichen Monographien ausarbeiten« (14). Es wäre wünschenswert, dass das Buch S. selbst oder andere Forscher tatsächlich zu einer gründlichen Monographie über den einen oder anderen der vorgestellten Texte anregt. An den Schriften aus dem »Visionenzyklus« Hildegards oder am Spiegel Marguerites, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist noch viel zu tun.
Eine Stärke des Bandes ist, dass er den Quellentexten selbst (teils in deutscher Übersetzung, teils zweisprachig) viel Raum einräumt und so dem Benutzer Gelegenheit gibt, sich in die jeweilige Mystikerin »einzulesen«. Die Textauswahl ist umfangreich und zugleich repräsentativ. Der Zugang zu den manchmal doch recht fremdartigen Schriften wird so erleichtert. Der Band ist nützlich als Arbeitsbuch für den Seminarbetrieb; für ein Hauptseminar etwa über »Frauengestalten des Hochmittelalters« oder Ähnliches ist er eine regelrechte Fundgrube. Unter diesem Aspekt handelt es sich um ein verdienstvolles Buch. Wer freilich einen wissenschaftlichen Fortschritt zur Frauenmystik insgesamt oder zu einer der behandelten Mystikerinnen erhofft hat, wie man es gerade bei einer Habilitationsschrift ja eigentlich hätte erwarten können, wird das Buch eher enttäuscht aus der Hand legen. Eine »Annäherung an das Denken und an die Mystik der Autorinnen« (13), wie in der Einleitung in Aussicht gestellt, ist gelungen – mehr aber auch nicht. Die gut geschriebenen Miniaturen haben durchweg sammelnden Charakter und fassen die bisherige wissenschaftliche Diskussion über die jeweiligen Autorinnen und ihre Schriften zusammen, ohne sie weiterzuführen. Neue Einsichten zur immanenten Interpretation der einschlägigen Texte finden sich nicht, ein neuer Ansatz zur Deutung des Phänomens Frauenmystik liegt ebenfalls nicht vor. Die Gesichtspunkte zum Phänomen Frauenmystik, die im Resümee der Arbeit erscheinen (524–535), sind alle zutreffend und zudem gut auf den Punkt gebracht, können aber der Sache nach auch anderen Darstellungen zur Mystik und Frauenmystik des Mittelalters mit leichter Hand entnommen werden. So ist die Stärke dieses Buches zugleich seine Schwäche: Es handelt sich um eine eindrucksvolle wissenschaftliche Fleiß- und Sammlerleis­tung. Um einen eigenständigen Forschungsbeitrag im engeren Sinne handelt es sich nicht.