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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1397–1400

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Obst, Gabriele

Titel/Untertitel:

Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 236 S. m. 27 Abb. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-525-61612-3.

Rezensent:

Gerhard Ziener

Ein Rauschen geht durch den (religions)pädagogischen Blätterwald. Die Rede ist allenthalben von Kompetenzen und Standards, von kompetenzorientiertem Lehren und Lernen. Dabei lassen sich gegenwärtig drei Ansatzpunkte unterscheiden. Erstens die Versuche, Kompetenzorientierung als Modus des Lehrens und Lernens zu beschreiben, indem gefragt wird: Welche Formen des Lehrens und Lernens, welche Methoden und Materialien machen Lernende– wie auch immer – kompetent? Dieser Frage folgt vor allem die einschlägige Praxisliteratur. Davon zu unterscheiden sind Versuche, kompetenzorientiertes Unterrichten als Umsetzung konkret vorliegender Bildungsstandards zu begreifen. Die Frage lautet dementsprechend: Wie erreicht Unterricht nicht einfach irgendwelche Kompetenzen, sondern eben genau die verbindlich standardisierten? Solche Literatur entsteht aus naheliegenden Gründen dort, wo verbindliche Bildungsstandards für den schulischen Un­terricht bereits vorliegen (vgl. H. Rupp/Ch. Scheilke [Hrsg.], Unterrichtsideen neu für das 5./6. Schuljahr, Stuttgart, 2008). An dritter Stelle zu nennen sind konzeptionelle Ansätze, die sich auf Kompetenzmodelle und daraus abzuleitende Kompetenzen selbst richten, indem gefragt wird: In welchem Sinne kann und soll Unterricht Schü­lerinnen und Schüler überhaupt kompetent machen und wie müssten insbesondere Standards religiöser Bildung lauten, ja: Was ist überhaupt religiöse Kompetenz? (vgl. D. Fischer/V. Elsenbast [Hrsg.], Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, Zur Entwicklung des evangelischen RUs durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006, sowie den Kommentarband dazu).

Bei dieser Gemengelage ist es außerordentlich verdienstreich, wenn jemand informiert, orientiert, nach tragfähigen Konzepten sucht und sie anhand von konkreten Praxisbeispielen zur Diskussion stellt. Damit sind das Vorhaben und die Leistung von O. bereits umrissen: Sie referiert und kommentiert kenntnisreich und überzeugend die gegenwärtige Diskussion und stellt anschließend einen eigenständigen, durch zahlreiche Praxisbeispiele außerordentlich anschaulichen kompetenzorientierten Ansatz rund um das »didaktische Schlüsselprinzip« (199) der »Anforderungssituationen« (Kapitel 7, 130 ff. passim) vor. Dabei sollte man sich nicht da­von irritieren lassen, dass Referat und Kommentierung der aktuellen Diskussion fünf Kapitel umfassen, während die »Praxis: Lehren und Lernen im kompetenzorientierten RU« nur ein einziges Kapitel (Kapitel 7, 130 ff.) umfasst: Dennoch teilt sich O.s Buch nahezu hälftig in Theorie und Praxis. Eine gewisse Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis nimmt das 6. Kapitel über »Lernarrangements: Kompetenzorientierte Religionsbücher« (125–129) ein.

O. nähert sich dem Thema über das Zitat eines »schulpolitischen ›Märchen[s]‹« (10 f.), erzählt von Annemarie von der Groeben, der langjährigen didaktischen Leiterin der Bielefelder Laborschule, das von der autonomen, lernenden, einladenden und schülerfreundlichen Schule handelt. O. macht deutlich, dass ›Standards‹ sich jedenfalls in reformpädagogischer Tradition nicht in erster Linie auf Lernerwartungen (›Output-Orientierung‹), sondern zuallererst auf unterrichtliche Rahmenbedingungen (›Input-Standards‹) richten müssten. Solche Träume konfrontiert sie mit der »Brutalität der Realität«: lern­unwillige Jugendliche, ausgebrannte Lehrpersonen, finanzielle Knappheit der Schulträger (12) – aber eben auch verbindliche Lern- und Leistungsstandards. So lautet die erste Frage des Buches: »Lässt sich zwischen einer immer stärker an Kompetenzen und Standards ausgerichteten Schule einerseits und reformpädagogischen Impulsen andererseits ein gemeinsamer Weg finden? Und wie steht es in dieser widersprüchlichen Situation um den RU« (13)?

Die Diskussion beginnt mit dem PISA-Schock der Jahrtausendwende und führt über die darauf folgende Expertise des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschungen (DIPF, vgl. Klieme et al., 2003) und die von der Deutschen Kultusministerkonferenz übernommene Forderung nach einem »Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik im Sinne von ›outcome-Orientierung‹« mit dem Ziel der »Rechenschaftlegung und Systemmonitoring« (KMK 2005,6, zit. 35) zu dem Fazit: Bildungsstandards im Sinne von verbindlich anzustrebenden Kompetenzen auf Seiten der Lernenden kann und soll es auch für den Religionsunterricht geben. Nach einer sensiblen Erörterung gängiger (religions)pädagogischer Zweifel und Bedenken (41–58) lautet O.s Plädoyer: »Nicht alles kann, nicht alles muss in Kompetenzen ausgedrückt werden, aber der Bereich kompetenzorientierter Unterrichtsprozesse dürfte [auch für den Religionsunterricht] größer sein, als es zunächst den Anschein hat« (53). Die Befürchtung, Kompetenzorientierung führe »zu einer reduktionistischen Verengung des RU« (ebd.), durch die dessen spezifischer ›Mehr-Wert‹ nicht mehr zur Geltung komme, kehrt sie um in die Warnung vor der »Überforderung, dass es im RU immer um das ›Mehr‹ – das Besondere, das Herausragende« – gehen müsse. »Auch im RU ist vieles schlicht zu lernen und einzuüben. Damit empfiehlt sich kompetenzorientierter RU als alltagstaugliches Konzept, das die Voraussetzung für tief gehende persönliche Lernprozesse im Bereich religiöser Bildung schafft« (ebd.).

Die im Kapitel 4 gebotenen »Grundlagen: Kompetenzen und Standards religiöser Bildung« arbeiten sich chronologisch durch die einschlägige Literatur. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der be­reits erwähnten Expertise Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung (D. Fischer/V. Elsenbast, 2006) sowie auf den »Einheitlichen Prüfungsanforderungen« (EPAs) für das Abitur. Im Zwi­schenkapitel 6. »Lernarrangements: Kompetenzorientierte Religionsbücher« bietet O. einen wohlwollend-kritischen Durchgang durch eine Reihe von Neuerscheinungen, die explizit als kompetenzorientierte Lehrwerke verstanden werden wollen. O. beschränkt sich weitgehend auf religionsdidaktisch-methodische Fragen. Kritisiert wird neben teilweise als übergriffig eingestuften Ausweitungen des Kompetenzbegriffs die unzureichende »Anbindung der Kompetenzen an prägnante Anforderungssituationen« (ebd.), die von da an als Leitbegriff der nun folgenden Praxisimpulse fungieren.

Eine erste Zwischenbilanz an dieser Stelle: Wer der konzisen Darstellung bis hierhin gefolgt ist, kann mit Recht behaupten, nun mitreden zu können. Die daraus womöglich abzuleitende Erwartung, nun folgten die praktischen Konsequenzen aus der dargestellten Diskussion, wird jedoch nur teilweise erfüllt. Das hat zum einen damit zu tun, dass im Praxiskapitel auf unterschiedlichste Kompetenzen und Kompetenzmodelle zugegriffen wird: hier auf Bildungsstandards aus Baden-Württemberg (157), dort auf Vorgaben aus Nordrhein-Westfalen (130 f.) oder auf in Anlehnung an die Comenius-Expertise frei formulierte ›Kompetenzen‹ (180). Zum anderen schöpft O. ihre Beispiele aus der eigenen Unterrichtserfahrung, die unverkennbar gymnasial ist.

Drei Thesen samt Erläuterung eröffnen das Praxiskapitel: Kompetenzorientierter Unterricht zielt auf die langfristige Anbahnung von Wissen, Können und Bereitschaft (These 1, 132), orientiert sich am Erfahrungsraum und an der Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler (These 2, 134) und legt ein besonderes Gewicht auf die Förderung des Lernens (These 3, 135 f.). Als Leitbegriff und »didaktischer Widerhaken« gilt für alles Weitere der Begriff der »Anforderungssituation«, den O. der Expertise von Ekkehard Klieme et al. (2003) entnimmt: »Kompetenz ist nach diesem Verständnis eine Disposition, die Personen befähigt, bestimmt Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen.« (136) Mit der »Identifikation von Anforderungssituationen« beginnt deshalb auch die kompetenzorientierte Unterrichtsplanung.

Obwohl O. statt von »Anforderungssituationen« auch synonym von ›Problemen, Herausforderungen, Fragen, Aufgaben‹ spricht, wird die Konzeption des ›Thematisch-Problemorientierten‹ Religionsunterrichts der 70er Jahre nirgendwo erwähnt; gleichwohl ›erbt‹ die Kategorie der »Anforderungssituationen« alle Unschärfen der »Problemorientierung«. Zu fragen ist doch: Fordert die – von der Lehrkraft! – identifizierte Situation per se zum kompetenten Urteilen und Handeln heraus, wen fordert sie wozu, oder kulminiert das Problematische einer Situation nicht bisweilen darin, dass die gemeinten Adressatinnen und Adressaten sie gerade nicht als Problem und Herausforderung empfinden? Durchweg ist ein Ringen um eine Plausibilisierung der Anforderungssituation für die Perspektive der Schülerinnen und Schüler spürbar. Dies geschieht in fünf Planungsschritten: Gefragt wird 1. nach der Lebensbedeutsamkeit der Anforderungssituation für die Schülerinnen und Schüler (138 f.), 2. nach den bei den Schülerinnen und Schülern be­reits vorhandenen Erfahrungen, Kenntnissen, Werthaltungen und Kompetenzen (›Lernausgangslage‹, 139 f.), 3. nach den Kompetenzen, die erforderlich sind, »damit Schüler mit der Anforderungssituation sachgemäß umgehen können« (140), 4. nach angemessenen Lehr- und Lernprozessen (141 f.) sowie 5. nach Formen der Lernerfolgsüberprüfung (142 f.). Diese Schritte werden zunächst dargestellt und anschließend mit zahlreichen Praxisbeispielen ausführlich diskutiert und illustriert. Leserinnen und Leser aus der Praxis werden diese Beispiele und Anregungen mit großem Ge­winn zur Kenntnis nehmen.

Die hohe Überzeugungskraft und Folgerichtigkeit der einzelnen Schritte dieser didaktischen Analyse rühren nicht zuletzt daher, dass die gängigen didaktischen Konzepte in die einzelnen Schritte integriert sind – etwa die Frage nach der Gegenwarts- und Zu­kunfts­bedeutung (Klafki) oder die elementaren Fragen (Nipkow; Schweitzer). Neu ist freilich die Fokussierung auf die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang der Lernstandsanalyse sowie im eigenen Abschnitt »7.6 Erforderliche Kompetenzen bestimmen«.

Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei den Anforderungssituationen um Setzungen handelt, deren Bedeutsamkeit für das Leben und das Lernen der Jugendlichen zwar begründbar, aber nicht zwingend plausibel ist, jedenfalls nicht für die Jugendlichen selbst. Die Motivationsfrage ist durch die Kompetenzorientierung zwar prägnant fokussiert, aber damit noch nicht automatisch gelöst. Anforderungssituationen wie der Karikaturenstreit müssen der Lehrperson offensichtlich einfallen oder gar ›zufallen‹ – und haben damit auch etwas Zufälliges, und ihr Aufforderungs­charakter muss von Fall zu Fall und immer wieder neu erarbeitet werden. Hinzu kommt, dass die Reflexion über das, was die Lernenden schließlich können, wenn sie über diese oder jene Kompetenz verfügen, im Buch kaum gestreift wird. Die da und dort zitierten Niveaukonkretisierungen aus Baden-Württemberg (z. B. 213) werfen bei näherem Hinsehen mehr Fragen auf als die ihnen zugetraute Klarheit zu liefern.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Stärke des Buches besteht darin, Positionen zu klären und einen profilierten eigenständigen Ansatz von Kompetenzorientierung konsequent durchzuführen – also in durchgängiger Bezugnahme auf die »Gretchenfrage nach dem Unterricht« (130). Zu wünschen wäre, dass die guten Ansätze, die doch stark gymnasial ausgerichtet sind, durch weitere Elementarisierung und durch das Aufspüren niedrigschwelligerer Anforderungssituationen auch einen Unterricht in den Blick nehmen, der der Heterogenität von Lerngruppen und der dem Bildungssystem aufgetragenen Inklusion Rechnung trägt.