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Ausgabe:

Dezember/2009

Spalte:

1393–1395

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Koerrenz, Ralf, u. Michael Wermke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schulseelsorge: Ein Handbuch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 288 S. m. 3 Abb. u. 2 Tab. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-525-61613-0.

Rezensent:

Elisabeth Naurath

Das Thema ›Schulseelsorge‹ boomt! Nicht zuletzt die aktuelle Initiative einiger Landeskirchen zur schulseelsorgerlichen Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften ist als deutliches Signal dafür zu sehen, dass Schule eben nicht nur Lern-, sondern auch Lebensort ist. Da Probleme und Krisen der Menschen, die morgens die Schule betreten, nicht vor der Türe bleiben, sondern in schulische Beziehungsstrukturen hineingetragen bzw. dort auch generiert werden, stellt sich die Frage, warum die Poimenik nicht schon längst – vergleichbar anderen institutionsbezogenen Konzeptionen wie etwa der Krankenhaus-, Gefängnis- oder Militärseelsorge – die Schule als gesellschaftlich verdichteten Kontext seelsorgerlichen Handelns entdeckt hat. Hier markiert das Handbuch ›Schulseelsorge‹ mit einer grundlegenden Verortung und Reflexion dessen, was »christliches Handeln in der Schule im Spannungsfeld zwischen schulischer Sozialarbeit und kirchlicher Jugendseelsorge« (11) leisten kann, einen längst überfälligen Punkt, der durchaus als Doppelpunkt im Sinne der Notwendigkeit weitergehender Forschung zu sehen ist.

Der Versuch einer definitorischen Klärung dessen, was wir unter ›Schulseelsorge‹ eigentlich verstehen (wollen), ist hierbei unumgänglich und wird in einem ersten Schritt (I. Grundlagen) aus der Perspektive Praktischer Theologie, (Religions)Pädagogik und Schulsozialarbeit unternommen. Problematisch erscheint hierbei allerdings der Verzicht auf eine grundlegende Auseinandersetzung mit der poimenischen Diskussion der Gegenwart – so fokussiert die Auswahl der Autoren und Autorinnen deutlich den (religions)pädagogischen Blickwinkel! Indem der in der Poimenik grundlegend reflektierte Seelenbegriff nur verkürzt rezipiert wird, ergeben sich in Folge Desiderate des auch für den Kontext Schule relevanten Seelsorgeverständnisses. Wenn – klassisch gesehen – wieder nur das ›Gespräch‹, in dem der »Deutehorizont des Glaubens zur Sprache zu kommen hat« (19), seelsorgetheoretisch grundgelegt wird, erstaunt nicht, dass Perspektiven impliziter Seelsorge im offenen Miteinander (wie etwa die von Hauschildt beschriebene Alltagsseelsorge eines ›Tür- und-Angel-Gesprächs‹) einer zunehmend nicht mehr kirchlich sozialisierten Schüler- und Lehrer(innen)schaft allzu leicht aus dem Blick geraten. Des Weiteren würden auf der Basis einer Seelsorgetheorie, die den Seelenbegriff im biblischen Sinn einer unauflösbaren psychophysischen Einheit versteht, auch deutlicher geschlechtsspezifische Bedingungen von Schulseelsorge in den Vordergrund treten. Auffallend häufig wird die Seelsorgebeziehung nur in männlicher Sprachform (der Schüler/der Lehrer) benannt. Damit werden geschlechtsspezifisch bestimmte Probleme und Krisen – insbesondere für das deutlich im Vordergrund stehende Jugendalter – marginalisiert. Die Evidenz der Geschlechterkonstellation sollte für die schulseelsorgerlichen Beziehungen nicht außer Acht gelassen werden. Be­sonders im Blick auf den Brennpunkt ›Gewalt‹ als dringliches Thema der Schule und damit auch der Schulseelsorge verwundert die Nichtthematisierung der Genderfrage doch sehr.

Neben diesen kritischen Anmerkungen zur poimenischen Fundierung überzeugt das Handbuch Schulseelsorge jedoch insbe­sondere darin, die Komplexität der für den schulischen Kontext relevanten seelsorgerlichen Beziehungen und Dimensionen in überzeugender Systematisierung und anschaulicher Lesbarkeit vor Augen zu führen. Elementare Strukturen der Schulseelsorge (II.) werden sowohl rechtlich, lebensgeschichtlich (für Kindheit und Jugendalter), rollenspezifisch (Seelsorge an Unterrichtenden, Schüler als Seelsorger), funktional (Kompetenzen von Pfarrern und Lehrkräften) wie auch systemisch (Seelsorge an Eltern) in den Blick genommen. Deutlich zeigt sich in dieser Öffnung des Spektrums ›Schulseelsorge‹ die Fülle der Notwendigkeiten und Möglichkeiten lebensbegleitender, beratender und unterstützender Dimensionen und Kompetenzen, die im Schulalltag von Schülerinnen und Schülern wie auch Lehrenden weniger als außergewöhnlich und be­sonders, sondern vielmehr als konstitutiv und alltäglich anzunehmen sind. Insofern stellt sich die Frage, ob die seelsorgerlichen ›Handlungsräume‹ (III.) wirklich nur in Schulandachten, Schulgottesdiensten, Tagen religiöser Orientierung, Schülercafés, Internetseelsorge oder Räumen der Stille zu finden sind oder nicht vielmehr der Unterricht selbst, aber auch die Begegnungen im Pausenhof oder Lehrerzimmer als genuine Orte der Schulseelsorge reflektiert werden sollten.

Die inhaltliche wie didaktische Frage seelsorgerlicher Dimensionen im Religionsunterricht (aber selbstverständlich nicht nur dort) ist angesichts der alltäglichen Notwendigkeit seelsorgerlichen Handelns in der Schule dezidiert in den Vordergrund zu stellen und in ihren Chancen, aber auch Grenzen abzuwägen. Dies auch und gerade angesichts der überzeugend dargelegten Vielfältigkeit von Krisensituationen (IV. Seelsorge in Konfliktfällen), die insbesondere aus der Perspektive der Schüler und Schülerinnen (wie etwa Trennung oder Scheidung der Eltern, Gewalt, Kindesmissbrauch, Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität, Drogenkonsum, Suizid, Okkultismus, Krankheiten, Ängs­ten oder der Leistungsdruck über die Notengebung) gegeben sind. Dass hierbei ein konstruktiver Austausch mit Praxismodellen und Erfahrungsfeldern (V.) richtungsweisend sein kann und für die jeweiligen Schulformen, aber auch kontextuell (im Sozialraum Stadt wie in der Diaspora) zu suchen ist, rundet das Handbuch konkret und lebensnah mit anschaulichen Beispielen aus der Praxis ab. Es ergibt sich unweigerlich der Eindruck, dass hier ein weiterer Austausch und eine schulart- und schulstufenspezifische Diskussion mittels empirischer Forschung, aber auch grundlegend poimenischer wie (religions)pädagogischer Reflexion nötig sind, um dieses Handlungsfeld Schulseelsorge als Ort der (Selbst)Bildung in den Blick zu nehmen.

Der Gewinn dieser zum Standardwerk avancierenden Publikation liegt nicht zuletzt in dem für das Genre ›Handbuch‹ typischen einführenden Charakter der kurz gehaltenen Beiträge, die mit Verweis auf weiterführende Literatur Anreize geben, Schule als Ort des Lebens und damit auch der Seelsorge zu entdecken. Dies gelingt in der Verdeutlichung, dass Schule Beziehungsstrukturen zur Familie, zu Peergroups, zu Lehrkräften wie auch zur Gesellschaft verdichtet und dass damit die seelsorgerliche Wahrnehmung und Unterstützung von lernenden und lehrenden Subjekten als zu­kunftsweisende Herausforderung aller an Bildung Beteiligten ernst zu nehmen ist.