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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

995–997

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Robertson-von Trotha, Caroline Y. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft.
Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung.
Hrsg. unter Mitarbeit v. Ch. Mielke.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos 2008. 286 S. 8° = Kulturwissenschaft interdisziplinär, 3.
Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-8329-3171-1.

Rezensent:

Heike Springhart

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schneider-Flume, Gunda: Alter – Schicksal oder Gnade?
Theo­logische Überlegungen zum demographischen Wandel und zum Alter(n).
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 157 S. 8°.
Kart. EUR 17,90.
ISBN 978-3-525-62404-3.


Der demographische Wandel und die Veränderungen im Umgang mit Sterben und Tod sind jüngerer Zeit vermehrt Gegenstand theologischer und kulturwissenschaftlicher Publikationen geworden. Aber erst langsam entdeckt innerhalb der Systematischen Theologie auch die Dogmatik das Thema. Eine theologische Perspektive auf das Alter bringt jedoch Gunda Schneider-Flume mit ihrem Band in die Diskussion ein. Ihr Ziel ist es dabei nicht, eine spezifische »Altersanthropologie« zu entwickeln. Vielmehr verfolgt Schnei­der-Flume die Intention, vom Lebensverständnis des christlichen Glaubens her eine neue Sicht auf das Alter zu entwickeln, die einen kritischen Akzent gegenüber wirkmächtigen Grundannahmen über das Leben setzt. Die Kritik an einer reduktionistischen Perspektive auf Produktivität und Leistung bildet einen Grundzug. Die reformatorische Rechtfertigungstheologie spiegelt sich auch in einer kritischer Sicht auf die defizitorientierte Terminologie in der Rede von der Generation des »Nicht-Mehr«.

Auf der Linie ihres 2002 erschienenen Werkes »Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens« entfaltet Schneider-Flume eine Anthropologie, die sich stärker an einer sich dynamisch verändernden Lebensgeschichte als an einem fixierbaren Menschenbild orientiert. Konstitutiv ist dabei die Relektüre der Überlegungen Henning Luthers zur Fragmentarizität des Lebens. Dies impliziert auch eine konzeptionelle Skepsis gegenüber Vorstellungen von Vollendung der Persönlichkeit im Sterben. Stattdessen plädiert Schneider-Flume für die theologische Perspektive der Erwartung und Hoffnung, die die individuelle, fragmentarische Lebensgeschichte in den größeren Horizont der Geschichte Gottes stellt.
Dabei soll das Alter im Zusammenhang der gesamten Lebensgeschichte von Menschen aus der Perspektive des Lebensverständnisses der theologischen Anthropologie als kostbare Lebensphase verstanden werden mit dem Ziel einer altersintegrierten Gesellschaft, die weder das 3. noch das 4. Lebensalter marginalisiert oder gar ausschließt. Dies impliziert auch die Kritik an jeglicher einseitigen Anthropologie, die sich allein an der Autonomie des Subjekts orientiert. Grundlegend sind dafür die im ersten Kapitel entfalteten Grundbegriffe Schicksal und Gnade. Im zweiten Kapitel fragt Schneider-Flume dann nach den für eine theologische Perspektive auf das Alter relevanten anthropologischen Aspekten. Dabei be­trachtet sie angesichts der Herausforderungen des Alters bestimmte anthropologische Elemente neu und legt dabei den Fokus auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Chancen und Grenzen von Selbstverwirklichung. Das dritte Kapitel bietet eine Auseinandersetzung mit dem Alter im Gespräch mit den Thesen des Schirrmacherschen »Methusalem-Komplotts«. Ab dem vierten Ka­pitel entfaltet Schneider-Flume dann ihre theologischen Überlegungen zu Herausforderungen des Alters. Die Problemlagen von Produktivität und Fragmentarität werden dabei unter der rechtfertigungstheologisch basierten Entfaltung von Erbarmen und Ge­denken kritisch gegengelesen, ergänzt durch ein eigenes explizit rechtfertigungstheologisches Kapitel zu Gerechtigkeit und Stellvertretung.

Ein weiterer kritischer Impuls gegen eine reduktionistische »Nicht-Mehr«-Perspektive ist das Kapitel über Lebensfreude und Leiden am Leben, in dem in Aufnahme des augustinischen Duals von uti und frui sowohl der Lebensfreude als auch einer Ermutigung zur Klage angesichts von Leid Raum gegeben wird. Überlegungen zu Sterben und Tod, die sich kritisch gegenüber Vorstellungen von »gemachtem« Sterben äußern, sowie eine Auseinandersetzung damit, was es heißt, menschenwürdig zu sterben, und abschließende Überlegungen zu Zeit und Ewigkeit unter der Perspektive des Harrens stehen am Ende des Bandes. Ein Spezifikum des allgemein verständlich verfassten Buches sind Meditationen am Ende jedes Kapitels.

Auch wenn eine theologisch konstruktive Theologie des Alters mit diesem Band schon auf Grund des schmalen Umfangs allenfalls angedacht ist und die Position eher in Fragen und Kritik an problematischen Konzepten als in einer ausdifferenziert elaborierten Position begegnet, bildet der Band doch in seinem kritischen Impuls gegen die subkutan wirkmächtigen Modelle in der Anthropologie einen wichtigen Beitrag hin zu einer theologischen Anthropologie, die für die Brüche des Lebens sensibel ist und sich diesen auch dogmatisch stellt. In dieser Hinsicht stellt der Band von Schneider-Flume einen wichtigen Beitrag für eine in der Systematischen Theologie bislang eher unterbelichtete Thematik dar und trägt zu einer realistischen Theologie des Lebens bei.

Ein Beispiel für den interdisziplinär geführten Diskurs über Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft bildet der von Caroline Y. Robertson-von Trotha in der Reihe »Kulturwissenschaft in­terdisziplinär« herausgegebene Sammelband, der zu einer Enttabuisierung des Themas beitragen will. Dem widmen sich neben soziologischen Beiträgen auch solche aus den Bereichen Jura, Evangelische und Katholische Theologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft sowie Kulturgeschichte, Kulturwissenschaft und Medizin.

Vor die drei Hauptteile des Bandes ist ein programmatischer Beitrag des Philosophen Jürgen Mittelstraß gestellt zur Frage: Wem gehört das Sterben? Dabei kritisiert Mittelstraß ähnlich wie Schneider-Flume jede reduktionistisch auf Verfall und Verlust beschränkte Rede von Alter und Sterben. Zugleich plädiert er für eine neue Philosophie der Gelassenheit, die auch dem Gedanken der Unverfügbarkeit wieder neu Raum zu schaffen vermag.

Die Beiträge des ersten Teiles legen den Fokus auf gesellschaftliche Institutionen. Sie tragen damit der Beobachtung einer Institutionalisierung des Sterbens Rechnung und machen deutlich, dass das individuelle Sterben auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension hat. Dies wird derzeit vor allem in den Diskussionen über Sterbehilfe konkret. Den diskursiven Spannungsbogen zwischen einem selbstbestimmten Sterben und ärztlicher Verantwortung zeichnen soziologische und juristische Beiträge, die sich mit dem Euthanasieverbot in der deutschen Gesellschaft befassen. Diese werden um die europäische Perspektive erweitert durch Beispiele aus den Niederlanden und der Schweiz mit einem Beitrag des Generalsekretärs der schweizerischen Organisation »Dignitas« Ludwig Minelli. Der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff entfaltet Überlegungen zum Auftrag des medizinischen Sterbebeistands aus ethischer Sicht und präsentiert dabei die weithin gängige Argumentation der Hospizbewegung, die in der Forderung, dass Menschen nicht durch die Hand eines Menschen, sondern an der Hand eines Menschen sterben sollen, ihre Pointe hat. Welche poimenischen Konsequenzen dies impliziert, entfaltet der evangelische Praktische Theologe Wolfgang Drechsel in seinen seelsorglichen Perspektiven zum Umgang mit Sterbenden am Beispiel der Krankenhausseelsorge. Auch Drechsel wendet sich gegen eine reduktionistische Sicht, die Sterbende nicht mehr primär als Lebende wahrnimmt. Dagegen plädiert er für ein Verständnis von Seelsorge, das sich grundsätzlich an lebende Menschen mit ihren Fragen und ihrer Geschichte wendet, auch dann, wenn das Ende des Lebens zu erwarten ist. Die Wahrnehmung jedes Menschen in seiner Würde vor Gott impliziert auch eine Kritik an impliziten Normativitäten. Sterbende, aber auch alte Menschen erfordern eine Seelsorge auch jenseits des Gesprächs, die nonverbale Kommunikation ebenso wiederentdeckt wie Symbole und Rituale.

Die Beiträge des zweiten Teils thematisieren die »gesellschaftliche Sinnfindung«. Sie widmen sich sowohl den Fragen nach dem Sinn des Todes vor dem Hintergrund gegenwärtiger und vergangener Jenseitsvorstellungen als auch den historischen Einflüssen der Tötung von Tieren auf Bilder und Metaphern des Todes und der Perspektivverschiebungen der Mediengesellschaft. Einen eigenen Schwerpunkt bilden die Beiträge von Karen Joisten und Christine Mielke, die sich weniger mit dem Sterben als vielmehr mit der Trauer, und zwar der individuellen wie der kollektiven, befassen. Der Beitrag des Soziologen Peter Gross über Endlichkeit beschließt den Abschnitt über die Sinnfindung und benennt die Ambivalenzen von befreiender und bedrohlicher Endlichkeit.

Im abschließenden dritten Teil werden zwei Fallbeispiele aus dem interkulturellen Kontext dargestellt.

Die Beiträge spannen einen großen Bogen in der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Die nicht nur für die theologische Anthropologie relevante Frage nach Alter, Sterben und Endlichkeit bedarf des interdisziplinären Gespräches, um angemessen entfaltet zu werden. Dazu ist der Sammelband eine fruchtbare Fundgrube, der zu Differenzierung statt Simplifizierung einlädt. Allerdings bleibt der Zusammenhang der einzelnen Beiträge etwas opak. Hier hätte eine deutlichere Fokussierung auf eine spezifische Fragestellung aus dem umfassenden Fragekomplex möglicherweise dem Band schärfere Kontur verliehen.

Zusammenfassend liegt die Stärke beider Bände im kritischen Impuls gegenüber den im gegenwärtigen Diskurs wirkmächtigen Normativitäten von Autonomie, gelingendem Leben und Sterben sowie der Betonung der Fragmentarizität des Lebens und der Unverfügbarkeit des Sterbens. Nicht alle hier begegnenden Überlegungen sind gänzlich neu, dennoch stellen sich die Autorinnen und Autoren der aktuellen Debatte und leisten spezifische klärende Beiträge dazu. Eine weitergehende Entfaltung und theologische Auseinandersetzung in diesen Fragen ist eine bleibende Aufgabe, aber anregende Anfänge sind mit beiden 2008 erschienenen Bänden gemacht.