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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

983–984

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Holderegger, Adrian, Sitter-Liver, Beat, u. Christian W. Hess [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hirnforschung und Menschenbild. Beiträge zur interdisziplinären Verständigung.

Verlag:

Fribourg: Academic Press; Basel: Schwabe 2007. 467 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 37,00. ISBN 978-3-7278-1571-3 (Academic Press); 978-3-7965-2294-9 (Schwabe).

Rezensent:

Dirk Evers

Der Sammelband dokumentiert ein interdisziplinäres Symposium zum Thema »Hirnforschung und Menschenbild«, das im Oktober 2006 an der Universität Freiburg (Schweiz) stattfand. Dem mit einigen Abbildungen im Anhang schön gestalteten, allerdings leider kein Register aufweisenden Buch in einer kurzen Rezension gerecht zu werden, ist schon deshalb unmöglich, weil in ihm 26 Einzelbeiträge aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Medizin (vor allem Neurologie und Psychiatrie), Biologie, Philosophie, Theologie und Jurisprudenz versammelt sind. Die meisten Beiträge sind auf Deutsch verfasst, einige wenige (vier) auf Englisch und ein Beitrag auf Französisch. Die Theologie ist nur durch einen Aufsatz vertreten, der von dem katholischen Moraltheologen Eberhard Schockenhoff verfasst ist und sich mit der Willensfreiheit beschäftigt. Schockenhoff hat sich wiederholt an anderer Stelle zu ebendieser Thematik geäußert, so dass sich in diesem Band nur wenig Neues an theologischer Reflexion finden lässt. Dennoch sollte das Buch auch die Aufmerksamkeit von an der Hirnforschung interessierten Theologinnen und Theologen finden, denn in diesem Buch ist nicht bloß der philosophischen Reflexion auf die Fragen nach Geist, Bewusstsein und Freiheit Raum gegeben, sondern eine wirklich interdisziplinäre und in dieser Form sonst kaum gewagte Zusammenstellung gelungen, in der aus ganz unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Perspektiven die Fülle der Zugänge und der mit ihnen gegebenen Problemlagen deutlich wird. Das zeigt sich auch an der Einteilung des Bandes in vier Abteilungen: Die erste ist der methodischen Reflexion auf einen neurowissenschaftlichen Reduktionismus gewidmet, die zweite den vorwiegend neurowissenschaftlich orientierten Zugängen zu Bewusstsein, Selbst und Person, die dritte der Freiheitsproblematik aus theologischer, moralphilosophischer und juristischer Perspektive, und die vierte nimmt Therapiemöglichkeiten aus medizinisch-psychiatrischer Sicht in den Blick. Auf einige wichtige Beiträge aus den vier Teilen soll zumindest mit einigen Sätzen hingewiesen werden.

Der Konstanzer Philosoph Gottfried Seebaß macht umsichtig auf die methodischen Schwierigkeiten aufmerksam, die dem naturalistischen Programm einer Korrelation zwischen neuronalen und mentalen Ereignissen und dann einer Reduktion letzterer auf die ersten entgegenstehen. Ihm schließt sich der Philosoph Dominik Perler an, der in der Intentionalität des Geistes ein nicht naturalisierbares Phänomen sieht, das aber für die Interpretation des Inhalts mentaler Überzeugungen unhintergehbar ist. Die intentionale Bedeutung von geistigen Zuständen aber ist nur rekonstruierbar, wenn wir irreduzible intentionale Einstellungen ebenso berücksichtigen wie deren Beziehungen untereinander und ihre soziale Einbettung. Geist ist dann aber nach Perler zu bestimmen als etwas, das »über das ›Private‹ hinausgeht und in einem öffentlichen Raum bestimmte Inhalte hat« (88). Der Beitrag des Neuropsychologen Lutz Jäncke schließt diesen ersten Teil mit einer Darstellung der Möglichkeiten der neueren bildgebenden Verfahren und einer kritischen Reflexion auf ihre derzeitige Reichweite ab.

Der zweite Teil des Bandes ist stärker naturwissenschaftlich be­stimmt. In ihm führt der Tierphysiologe Martin Korte auf an­schauliche Weise in die Frage nach den neurobiologischen Grundlagen von Bewusstsein ein, während der Philosoph Gianfranco Soldati in der Tradition der analytischen Philosophie eine ein­drucksvolle Analyse des geradezu inflationär verwendeten Begriffs der »Repräsentation« vorlegt. Für den dritten Teil sei auf die beiden Beiträge der Juristen Reinhard Merkel und Brigitte Tag hingewiesen, die auf je unterschiedliche Weise das Strafrecht vor einer neurowissenschaftlich argumentierenden Abschaffung in Schutz nehmen. Bei Merkel geschieht dies durch den Hinweis auf die Dualität der Perspektiven von erster und dritter Person sowie auf die gesellschaftliche Aufgabe des Strafrechts, bei Tag dadurch, dass sie einen reicheren Begriff von Handlungsfreiheit zu Grunde legt. Im vierten Teil finden sich für den Theologen eine Fülle von Anregungen aus der medizinischen und therapeutischen Praxis, die grundlegenden philosophischen und theologischen Einsichten an klinischen Phänomenen wie Störungen des Ich-Bewusstseins, Psychosen, gestörten Lernvorgängen, dem Einsatz von Psychopharmaka, Psychochirurgie und Tiefenhirnstimulation zu überprüfen. In den dabei nur angedeuteten Fragen zeigen sich die konkreten Herausforderungen, denen sich eine theologische Neuro-Ethik zu stellen hätte.
Dieser insgesamt eine unaufgeregte und sympathisch anti-reduktionistische Tendenz aufweisende Sammelband zu Hirnforschung und Menschenbild ist eine anregende Lektüre für jeden, der sich jenseits von populärwissenschaftlichen Parolen eingehender mit dieser Thematik beschäftigen möchte.