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Ausgabe:

September/2009

Spalte:

973–975

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Grunewald, Michel, u. Uwe Puschner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963). Le milieu intellectuell protes­tant en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871–1963). Hrsg. in Zusammenarbeit m. H. M. Bock.

Verlag:

Bern u. a.: Lang 2008. XIV, 609 S. 8° = Convergences, 47. Kart. EUR 78,60. ISBN 978-3-03911-519-8.

Rezensent:

Matthias Heesch

Der Protestantismus als Lebensgestalt war und ist, bei aller Verwiesenheit auf Kirche, dennoch mehr als Kirche. Dieser Anspruch hat in der Geschichte des Protestantismus vielfachen Ausdruck gefunden. Eine dieser Ausdrucksgestalten ist der Typus des evangelischen Intellektuellen. Was macht einen Intellektuellen aus? Nach Auffassung des programmatischen Beitrages von G. Hübinger (25–39) vor allem das Agieren in einer durch geeignete Medien erschlossenen Öffentlichkeit, in der die Belange des Gemeinwesens (relativ) offen thematisiert werden können (28 u. ö.). Diese Offenheit des Diskurses bedingt, dass die von Intellektuellen geführte Diskussion eine Vielfalt der Perspektiven umfasst, die sich nicht auf einen bestimmten fachlichen Diskurs beschränken, z. B. den der Theologie und ihrer akademischen oder kirchlichen Wortführer, sondern dass man sich um eine breiter verankerte Mitarbeiterschaft be­müht (vgl. etwa 31 f., Hübinger; 342 f., H. M. Bock).

Öffentlichkeit bedeutet in einer Epoche, deren Ende sich mit dem Beginn der Ära audiovisueller Medien zwar berührt, von diesen Medien aber auch gegen ihren Schluss hin noch nicht geprägt ist, im Wesentlichen Schriftlichkeit (53–56, R. v. Bruch, u. ö.). Ihre Plattform sind Zeitschriften, die im Rahmen genereller Offenheit anhand bestimmter Interessen mehr oder weniger deutlich herausgehobene Leserkreise – Netzwerke, um den Titel der Aufsatzsammlung zu zitieren – um sich versammeln, so wie etwa Naumanns Hilfe (135–162, insb. 152 f., M. Grunewald) oder die Christliche Welt (348–365, Bock). Die Zeitschriften, von denen in dem zu besprechenden Band die Rede ist, sind demzufolge keine theologischen Fachzeitschriften, sondern Zeitschriften, die sich an ein allgemein interessiertes Publikum wenden und deren Anknüpfungspunkt das gebildete Bewusstsein der Zeit ist, auf das von den Überzeugungen eines überwiegend individuell und kulturoffen verstandenen Protestantismus her eingewirkt werden soll. Das gilt übrigens auch für Zeitschriften unter dem Einfluss der Dialektischen Theologie wie die Junge Kirche, die zwar für sich in Anspruch nehmen, aus genuin theologischer Einsicht heraus zu argumentieren (466 f. u. ö., Gailus), dies aber gleichwohl so tun, dass aus der – für den Protestantismus seit 1933 immer schwieriger werdenden – Zeitsituation eben in diese Situation gesprochen wird (467–471 u. ö., M. Gailus, vgl. auch über die Zeichen der Zeit in der frühen DDR, 559–583, insbesondere 571 f., E. Ueberschär).

Aus dem Profil des evangelischen Intellektuellendiskurses er­gibt sich, dass dieser in besonderer und offensichtlicher Weise Diskussion in der Zeit ist: Die Möglichkeit, sich auf situationsungebundene theologische Überzeugungen zurückzuziehen und von diesen her die jeweilige geschichtliche Lage, sei es zu ignorieren, sei es von außen zu kommentieren, hat für die Autoren der hier vorgestellten Zeitschriften ebenso wenig bestanden wie für die Leserschaft. Deswegen bilden sich die Wege und Irrwege des modernen Protestantismus mit einer gewissen Zuverlässigkeit im Medium der Publizistik ab. Naumanns Hilfe etwa widerspiegelt die Diskussionen (insbesondere die sozial- und außenpolitischen) des Kaiserreichs aus einer grundsätzlich affirmativen Sicht (insbesondere 151–157, Grunewald), was einerseits Zeitdistanz nicht ausschließt, z. B. im Zusammenhang der dezidierten Befürwortung sozialer Anliegen (145 f. u. ö.), andererseits aber zur Übernahme von, in der Rückschau höchst problematischen, politischen Zeittendenzen führt (154–156 u. ö.). Das wird noch deutlicher anhand von Zeitschriften, die, ohne in ihrer Grundhaltung nationalsozialistisch bzw. kommunistisch gewesen zu sein, unter den Bedingungen nationalsozialistischer bzw. kommunistischer Herrschaft erschienen sind: Verschlüsselte Kritik, etwa im Rahmen der Behandlung kirchengeschichtlicher Stoffe, ist in gewissen Grenzen möglich gewesen (334 f., H.-Chr. Kraus über die Zeitschrift Die Furche, die frühe DDR betreffend auch: 566–572, Ueberschär), allerdings nur um den Preis anderweitig zu erbringender Anpassung, die moderat ausfallen mag (330–336, Kraus) oder auch überhand nehmen kann (478 f. u. ö., Gailus). Einige evangelische Publikationen haben in den Diktaturen die wenigen verbleibenden Freiräume relativ konsequent ausgelotet und genutzt (z. B. 334 f., Kraus; 572, Ueberschär).

Damit werden auch die Einflussgrenzen protestantischer Publizistik deutlich: Dem Nationalsozialismus überwiegend (Christliche Welt, 380 f., Bock) oder phasenweise bzw. partiell kritisch gegenüberstehende Publikationen (Junge Kirche, 471–475, Gailus) erreichen keine Diskussionshoheit, die das reklamierte Zeitdeutungsmonopol der nationalsozialistischen Propaganda und der ihr nahestehenden Publizistik öffentlichkeitswirksam hätten in Frage stellen können. In einem anderen Beitrag wird erwähnt, dass der spätere Schriftleiter der Zeitschrift Deutscher Glaube, H. Grabert, als akademischer Schüler von J. W. Hauer, dem Theoretiker einer »germanischen« Religion an der Grenze zwischen Protestantismus und Neuheidentum, zeitweise Redakteur der Christlichen Welt gewesen ist (485, Vollnhals). Solche personellen Kontinuitäten und die Tatsache, dass etwa die, grundsätzlich der Bekennenden Kirche nahestehende, Junge Kirche partiell den Kurs der nationalsozialistischen Publizistik übernommen hat (vgl. die Auszüge aus einem Artikel Zum 50. Geburtstag des Führers: 474, Gailus), verdeutlichen: Die evangelische Publizistik nimmt als auf die Zeit bezogenes Deutungsgeschehen an der Unübersichtlichkeit der Zeit teil. Dass dieses Ergebnis der kirchengeschichtlichen Zeitgeschichtsforschung auch auf die protestantischen Medien zutrifft, verwundert nicht, verdient aber – was der Band auch leistet – hervorgehoben und be­gründet zu werden. Diese den Beiträgen des Bandes gemeinsame Erkenntnis wird durch Überlegungen zu anderen geschichtlichen Zusammenhängen gestützt: Hierzu gehört die Darstellung der Einbindung der protestantischen Publizistik in ereignisgeschichtliche Zusammenhänge der Kaiserzeit wie die Situation in Elsass-Lothringen (73 –94, F. Hartweg). Behandelt werden auch sozialgeschichtliche Prozesse der Nachkriegszeit, etwa die schwierige und nicht ganz gelingende Neuverortung des sich um die Zeitschrift Christ und Welt versammelnden konservativeren Protestantismus in der frühen Bundesrepublik (505–531, K. Große Kracht).

Von sehr vereinzelten Unschärfen abgesehen sind die Beiträge des Bandes, auch die hier nicht ausdrücklich erwähnten, durchweg schlüssig und wegen ihrer Materialfülle hilfreich. Das in den Rahmentexten der Sammlung skizzierte Projekt einer Einordnung des Themas in die Gesamtheit einer Typologie des »Intellektuellen« (25–39, Hübinger; auch 588–593, G. Merlio) ist nicht abwegig, wird aber in seinem theorieförmigen Geltungsanspruch durch die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der referierten Publikationen und Vorgänge relativiert. Die Hinsichtnahme auf die Phänomene ist die Grenze der Theorie. Auch diese Einsicht kann man aus der Lektüre des Bandes gewinnen.

Systematisch-theologisch wird vor allem deutlich, dass Protes­tantismus bedeutet: christlich existieren in der säkularen Welt. Die Publikationen, von denen die Rede ist, stehen inmitten ihrer Zeit und haben, in unterschiedlicher Verteilung, Teil an deren Errungenschaften und Fatalitäten. Da dies in gewisser Weise unterschiedslos der Fall ist (bei allen sonstigen Differenzen, auch Wertdifferenzen), legt sich die Einsicht nahe, dass die Solidarität mit der Welt – nicht im Sinne eines moralisierenden Habitus, sondern im Sinne der Einsicht in die Gebundenheit christlicher Existenz an säkulare Lebensbezüge und deren Gelingen und Scheitern – integraler Bestandteil christlicher Lebensführung ist.