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Ausgabe:

Dezember/1996

Spalte:

1120–1123

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Opitz, Peter

Titel/Untertitel:

Calvins theologische Hermeneutik

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1994. X, 303 S. 8°. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7887-1489-1

Rezensent:

Ralf Hoburg

Die Hermeneutik und die Schriftauslegung der Reformatoren zu untersuchen, ist gewissermaßen seit den Arbeiten Gerhard Ebelings ein immer wieder ertragreiches Feld für Untersuchungen. Dies gilt auch für die Arbeit von Opitz über die theologische Hermeneutik Calvins, in deren Zentrum die Entfaltung der Lehre vom Wort Gottes in ihrer trinitarischen Struktur einerseits sowie die Bundestheologie in ihrer hermeneutischen Relevanz andererseits steht. Obwohl Calvins Schriftauslegung wie sein hermeneutischer Ansatz in der Vergangenheit bereits eingehend untersucht wurden, widmet sich der Vf. erneut dem Thema, um anhand der "theologischen Hermeneutik" (2) des Reformators gleichzeitig eine "Einführung in Calvins theologisches Denken zu geben", wie er im Vorwort herausstellt. Der Titel ist somit Programm und der Bogen wird über die Hermeneutik im engeren, d. h. historischen Sinne (4) hin zu einer Darstellung der Theologie Calvins gespannt. Es geht O. um den Zusammenhang von Exegese und Dogmatik, denn "Hermeneutik ist für Calvin Theologie". (2) Die Grundlage seiner Darstellung bildet dabei im Wesentlichen die "Institutio" Calvins, die in ihren verschiedenen Auflagen sowohl als dogmatische wie hermeneutische Schrift verstanden werden will.

Da es der Arbeit in erster Linie um den Begriff des Wortes Gottes geht, widmet sich der Vf. bei aller theologischen Intention zunächst der Verhältnisbestimmung Calvins zum Humanismus, um die Grenze zur reformatorischen Theologie zu markieren. Anhand der Exegesen Calvins zu Ps 19 und Ps 51 geht es O. darum, zunächst auf der Basis der praktischen Schriftauslegung Calvins "hermeneutisches und damit zunächst sein exegetisches Profil zu erheben." (7) Im Vergleich zu Luther und Augustin sowie Sadolet und Melanchthon zeigt sich bei Calvin eine Nähe zu den grammatisch und rhetorisch arbeitenden Humanisten. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Unterscheidung von Sinn und Nutzen der Schrift: Während Calvin zur Aufhellung des Schriftsinnes auf die humanistischen "artes liberales" zurückgreift, steht im Hintergrund der Überlegung nach dem Nutzen der Schrift die Lehre vom Wort Gottes, in die der Gnadenbund als hermeneutische Kategorie integriert wird. (46)

Von daher ist es stringent, wenn der Vf. im dritten Kapitel seiner Arbeit nach Calvins methodischem Gebrauch der humanistischen bonae artes fragt (47 ff.). Calvin ist, so stellt O. fest, im französischen Humanismus, besonders der Exegese Budés verwurzelt, und er rezipiert in erster Linie die Methode der philologischen Arbeit am Text. Hier konstatiert der Vf. lediglich, daß Calvin "´Grammatiker´ im Sinne des Erasmus" (59) war, bleibt aber im Detail den Beweis schuldig. Generell hält O. fest, daß Rhetorik und Grammatik für Calvin im Dienst der Schriftauslegung stehen, die dem Ziel dient, daß "der Mensch über die Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis gelangt" (72). Hierzu sind die "bonae artes" der Humanisten gewissermaßen Mittel zum Zweck. Bereits an dieser Stelle wird von O. der schöpfungstheologische Ansatz Calvins stark profiliert, der von Anfang an soteriologisch ausgerichtet ist und später in die heilsgeschichtliche Dimension des Wortes Gottes mündet. Dies macht für O. dann auch die theologische Qualifizierung der Hermeneutik Calvins aus, die sich als Bewegung "von Gott her auf den Menschen vollzieht". (86)

Nachdem O. die Nähe Calvins und zugleich seine Abgrenzung zur humanistischen Hermeneutik präzisiert hat, ist nun der Weg geebnet für die Darstellung der Lehre vom Wort Gottes als Antwort auf die Frage nach dem Nutzen der Schrift. Als Quellengrundlage dient dem Vf. wiederum die Institutio. Es ist Gottes "akkomodierendes" und "erwählendes" Wort und gleichzeitig als "Lehre seines Wortes" die doctrina (110), wodurch er seinen Willen bekanntmacht ("promissio"). Mit der Beschreibung der Lehre vom Wort Gottes zeichnet O. in detaillierten Zügen die theologischen Hauptgedanken der Institutio Calvins kenntnisreich nach, wobei er immer das Programm einer "theologischen Hermeneutik" im Sinne der Gottes- und Selbsterkenntnis auf dem Weg zur wahren Frömmigkeit im Auge behält. Diese "´Bildung´ des Menschen ist für Calvin eine entscheidende Wirkung des Wortes Gottes als doctrina" (116). Bei der inhaltlichen Konkretisierung des Wortes Gottes stößt O. auf die Christologie. In der Entfaltung der von Calvin hoch geschätzten Ämterlehre wird dabei von O. in kompakter Form die gesamte Soteriologie entfaltet (122 ff.), wobei auch die Unterschiede zu Luther im Blick sind. Es wird deutlich, daß die Lehre vom dreifachen Amt die Klammer der gesamten Christologie bildet und das Mittler- und Erlöseramt Christi im Zentrum steht. Calvins Christologie hat damit in ihrer heilsgeschichtlichen und zugleich bundestheologischen Ausrichtung ein eigenes Gepräge, und mir fiel beim Lesen auf, daß hier sehr enge Berührungspunkte etwa zur Christologie Zwinglis bestehen. Es geht um das Heil des Menschen, das zu erkennen der Mensch die Heilige Schrift zur Grundlage erhält (157). Gerade in diesem zentralen Kapitel gerät die Arbeit von O. in der Tat zu einer dogmatischen Gesamtdarstellung calvinischer Theologie. Das macht es nicht ganz leicht, die hermeneutische Zielvorstellung des Vf.s. immer im Auge zu behalten, hat aber den Vorteil, daß mit der Arbeit von O. eine, wie ich finde, gelungene Gesamtdarstellung der Dogmatik Calvins, wie sie sich in der Institutio in ihren verschiedenen Auflagen präsentiert, vorliegt. In hermeneutischer Hinsicht läßt sich das Ziel wie folgt präzisieren: Für O. geht es Calvin darum, daß die Schrift Gott als zwischen Schöpfung und Erlösung barmherzig Handelnden beschreibt, der in seinem Wort vom Menschen gesucht werden will (161). Die Schrift als Wort Gottes bildet dabei die Erkenntnisperspektive für den Menschen.

Die Erkenntnisperspektive als Nutzen der Schrift steht daher im Zentrum der Erörterungen des Vf.s im vorletzten Kapitel. Hierbei geht es O. um die Darstellung des Gnadenbundes als hermeneutischer Kategorie (181). Das Kriterium und die Erkenntnisquelle für den rechten Zusammenhang von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis stellt das Wort Gottes dar. Die heilsgeschichtliche Anlage der Theologie Calvins bedingt in diesem Fall den noetischen Vorrang der Gotteserkenntnis und es gilt eine "hermeneutische Kategorie zu finden, welche die ganze biblisch erzählte Heilsgeschichte als Spiegel für die Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis ernstnimmt" (201). Calvin findet sie in dem Gnadenbund, der dazu dient, "die spannungsreiche Geschichte Gottes mit dem Menschen... wirklich als Geschichte zu verstehen" (202). Er ist eine heilsökonomische Kategorie, um sowohl die Verheißung an Abraham wie das Evangelium in Christus als Einheit zu fassen mit dem hermeneutischen Ziel, dem Menschen einen "Weg ins ´Reich der Freiheit´" zu zeigen (206). O. gelingt es in der Nachzeichnung dieser theologischen Figur die innere Geschlossenheit im Denken Calvins aufzuzeigen, das sich durch die Bundestheologie geschichtlich als reformierter Ansatz profiliert hat und sich eben an dieser Stelle durch die Betonung der Einheit der Testamente von Luther unterscheidet.

Das letzte Kapitel ist im Rahmen der Gesamtdarstellung der analogia fidei als Form und Möglichkeit menschlicher Entsprechung gewidmet. Erst im Glauben kommt, so O., für Calvin das Wort Gottes als doctrina zum Ziel (228). Die Schriftauslegung läßt sich von diesem Prinzip der analogia fidei leiten. Dabei markiert der Glaube die Erkenntnis des göttlichen Willens gegenüber dem Menschen, der zur Gewißheit des Glaubens gelangt, die einmündet in die "Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens" (234). Das Mittel zu dieser Erkenntnis ist die Schrift, deren Auslegung einer inneren Lernbereitschaft bedarf und sich als Erziehung zur wahren Frömmigkeit begreift. Damit ist die Verbindung zum Humanismus hergestellt. Indem O. am Ende seiner Arbeit das Programm einer praktischen Schriftauslegung skizziert, die sich im wesentlichen als "prophetische Aufgabe im Horizont des Gnadenbundes" (273 ff.) versteht, öffnet sich die Hermeneutik der Aktualität und eröffnet sich eine Perspektive, an Calvins Überlegungen im heutigen theologischen Diskurs anzuknüpfen.

Abschließend möchte ich festhalten: Es kommt O. das Verdienst zu, anhand der Institutio dieDogmatik Calvins von der Kategorie des Wortes Gottes aus erschlossen und in seiner theologischen Breite dargestellt zu haben.Gerade durch die Gewichtung von Wort Gottes und Bund profiliert sich damit erneut der reformierte Ansatz reformatorischer Theologie, und es wäre interessant, an dieser Stelle einer"theologischen Hermeneutik" etwa der inneren Kohärenz zwischen Zwingli und Calvin nachzugehen.