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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

803–805

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hengel, Martin

Titel/Untertitel:

Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XI, 420 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 224. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149663-9.

Rezensent:

Theo K. Heckel

»Es grenzt an ein Wunder, daß die Kirche die vier frühesten uns erhaltenen Evangelien trotz ihrer frappierenden Diskrepanzen, ja Gegensätze erhalten hat und der Versuchung der Harmonisierung beziehungsweise der radikalen Selektion im Sinne eines Marcions widerstand« (183). Diesem Wunder geht die historische Monographie von Martin Hengel nach, die er zwischen seiner großen »Ge­schichte des frühen Christentums« (zusammen mit A. M. Schwemer, Band 1 erschien 2007) und seinen »Kleinen Schriften VI« (WUNT 234, Tübingen 2008) veröffentlichte. Das vorzustellende Werk erweitert deutlich die englische, bereits vor acht Jahren veröffentlichte Version (vgl. meine Rezension in ThLZ 126 [2001], 925–929). Eine Kurzfassung veröffentlichte H. in seinen Kleinen Schriften V (WUNT 211, Tübingen 2007, 664–682).
Das Werk besteht aus einem Hauptteil zum kanonsgeschichtlichen Thema (1–273) und einem Postscriptum zur synoptischen Frage (273–353) sowie Anhängen mit Zeittafeln, Stellen-, Autoren- und Sachregister (354–420).
Kapitel I klärt die Fragestellung (1–13). Kapitel II sichtet die Benützung der Evangelien als Material zur Harmonisierung und als für sich stehende Werke. H. geht von Irenäus aus und kommt nach einem Exkurs zum Petrusevangelium zu Clemens Alexandrinus. Durch eine umfassende und meisterhafte Interpretation der einschlägigen Stellen zeigt H., dass Clemens zwar eine Vielzahl von Jesusüberlieferungen kenne, darunter aber den vier Evangelien, die wir im Neuen Testament haben, eindeutig eine Sonderrolle zumesse (26–34). Umsichtig sind auch die weiteren Bestandsaufnahmen zu Justin, Tatian und Marcion u. a. Die Abfolge der besprochenen Autoren springt in der Chronologie – m. E. ohne Not. Inhaltlich überzeugen die Darstellungen, die auch für Marcion und Justin treffliche Argumente sammeln, dass diese unsere vier Evangelien kennen. In dieser Frage stimmt H. auch ausdrücklich dem Rezenten zu (WUNT 120, Tübingen 1999, dazu U. Schnelle, ThLZ 127 [2002], 757–760).
Kapitel III (64–196), das eigentliche Kernkapitel des Buches, zeichnet mit vielen Details ein Bild davon, wie die Vierevangeliensammlung entstanden sein könnte. Auf grobe Linien vereinfacht geschah nach H. etwa Folgendes: Der Übersetzer des Apostels Petrus verfasst das erste Evangelium kurz nach dem Tod Neros (69 n. Chr.). Zur Veröffentlichung erhält das Werk die Überschrift »Evangelium nach Markus«. Wenige Jahre später (»zwischen 75 und 80«) erweitert Lk dieses Werk und adaptiert die Überschrift. Erst gegen Ende des Jahrhunderts verfasst Mt sein Evangelium im südsyrisch-palästinischen Raum. Der Presbyter Johannes, der in Jerusalem aufwuchs, verfasst schließlich »zwischen 100 und 105 n. Chr.« (182 u. ö.) das JohEv in Ephesus und greift dazu auf Mk und Lk und gelegentlich auch auf das MtEv zurück (337 f.). Joh 21 »weise eher auf eine Edition durch Schüler nach seinem Tode hin« (74, vgl. 182). Die Evangelien werden jeweils schnell verbreitet und zielen bis auf das LkEv auch auf eine weite Leserschaft. Lk verfasste sein Werk »in erster Linie (zumindest zunächst) für den ›hochwohlgeborenen‹ Theophilus und seinen Freundeskreis« (176), wodurch sich nach H. das LkEv auch langsamer durchsetzt als das spätere MtEv. Letztlich war es die Bibliothekspraxis der römischen Gemeinde, so vermutet H., die für die Fixierung auf vier Evangelien verantwortlich ist.
H. verteidigt seit Jahren die These, hinter dem MkEv stehe die Überlieferung des Petrus. Er geht also davon aus, dass die Papias-Notiz zum MkEv, genauer die Notiz des Presbyters, auf den sich Papias stützt, wohl der Presbyter Johannes, erhalten bei Euseb, h. e. 3,39,15, im Wesentlichen historisch zutrifft. Nach H. würdigten Lk und Mt das MkEv besonders, weil sie ihrerseits darin die Autorität des Petrus anerkennen. Für diese Behauptung liefert H. m. E. keine triftigen Belege. Vielmehr kannten weder Mt noch Lk die These einer apostolisch vermittelten Autorität des MkEv. Nur so lässt sich auch erklären, dass sie beide versuchen, das MkEv überflüssig zu machen. Weder Lk noch Mt intendieren Leser/Hörer, die das MkEv kennen. Diese Verdrängungsabsicht ist sowohl bei Lk wie bei Mt erkennbar. Dass das MkEv neben dem LkEv oder neben dem MtEv gelesen wird, versteht sich daher nicht von selbst. Das Nebeneinanderstellen dieser Werke ist m. E. als eigenständige theologisch relevante Entscheidung zu würdigen und als historisch motiviert anzusehen. Die Überschriften sind bei dieser Beweiskette bedeutsam. Dass bereits das MkEv »Evangelium nach Markus« hieß, halte ich für unwahrscheinlich. Diese Bezeichnung ist erst sinnvoll, wenn mehrere Evangelien in einer Sammlung verbunden werden. Bei den Paulusbriefen führt H. die Überschriften auf die Herausgeber der Briefsammlung zurück (94 f., Anm. 278). Ich vermute für die Vierersammlung dasselbe. Da die Überschrift in ihrer ungewöhnlichen Grundstruktur (Evangelium gemäß [Eigenname]) einheitlich überliefert ist, sind vielfältige zufällige Sammlungen als Ausgangspunkt der Vierersammlung unwahrscheinlich. Sie hätten zu unterschiedlichen Überschriften geführt.
Nachdem das JohEv und das MtEv als apostolisch galten, versucht die Erfindung einer Mk-Petrus-Traditionskette, auch für das unter dem Namen des Mk überlieferte Evangelium eine apostolische Autorität zu konstruieren. Die durch Papias erhaltene, wohl vom Presbyter Johannes in frühen Jahren des 2. Jh.s formulierte Notiz setzt bereits die Nebeneinanderstellung von Evangelien voraus, wobei das MkEv an dessen Tradition, also unserem JohEv gemessen wird. Die zweite Evangeliennotiz dieses Presbyters, die zum MtEv, will H. auf eine Vielzahl von Logienüberlieferungen beziehen, die unserem MtEv als Quelle dienten. Doch diese Notiz ist bereits vom Presbyter, genauso wie von Papias selbst, immer auf das kanonische MtEv bezogen gewesen. Hätte Euseb bei Papias einen Hinweis auf eine weitere apokryphe Schrift entdeckt, hätte er dies gemäß seinem Programm vermerkt (h. e. 3,3,3) – wie er es auch für das HebrEv macht, zumal er dem Papias wenig gewogen ist. Für den Verfasser der Notiz ist die Vielzahl der Übersetzungen Vergangenheit. Inhaltlich zum Teil anders, von der Absicht aber ähnlich gelagert, versucht der Kanon Muratori die Vierersammlung zu erklären. Diese Erklärungen sind nicht historisch zuverlässig. Sie zeigen vielmehr, dass die Sammlung ohne weitere Erklärungen rezipiert wurde. D. h. die Sammlung wurde von ihren Autoren gelöst als Literatur im strengen Sinn verwendet. Erst nachdem der Traditionsfaden zu den Autoren gerissen war, versuchten Leute wie der Presbyter die Genese der Sammlung zu erklären.
Das Faktum der Vierersammlung geht diesen Erklärungen voraus und bedarf einer Würdigung als theologisch motivierte eigenständige Textsammlung. H. datiert die Sammlung in die ersten Jahrzehnte des 2. Jh.s. Aber weil die erhaltenen frühen Papyri höchst ungleich unsere Evangelien bezeugen, will er andererseits die Festigung der Sammlung nicht zu früh ansetzen. Der hier aufkommende Widerspruch bedarf einer Lösung.

In seinem Postskript unterstreicht H. zunächst die Mk-Priorität, problematisiert dann aber die Annahme einer Logienquelle Q. Sicher zu Recht mahnt H., wie wenig Gesichertes wir über diese erschlossene Quelle sagen können. Manche Arbeiten zu Q tun so, als ob wir eine stratigraphisch präzise Ausgrabungsstelle auswerten könnten. Auch die minor agreements sind ein Stachel im Fleisch aller allzu selbstsicheren Verfechter der Theorie – H. bespricht diese Agreements ausführlich (301–320). Nach H. verwendete Mt das LkEv; so erklären sich die meisten sonst Q zugeschriebenen großen Übereinstimmungen. Statt einer Logienquelle nimmt H. mehrere Quellchen an, die munter zu Lk und Mt sprudeln. Gerade die Kindheitsgeschichte spreche allzu eindeutig dafür, dass Mt das LkEv nicht kannte. H.s andersgeartete Erklärungen überzeugen an dieser Stelle kaum (304 f.342). Wenn dagegen, wie sonst meist angenommen, Mt und Lk unabhängig voneinander das MkEv benützen und beide diese Vorlage ersetzen wollen, ist die Nebeneinanderstellung dieser Evangelien keine natürliche Entwicklung. Sie bedarf einer eigenständigen Absicht und Herkunft. Ein Bücherschrank in Rom mit mehreren Evangelien ist Folge, nicht Ursache einer solchen Sammlung. Die wesentlichen Anliegen für eine solche eigenständige Absicht vermute ich weiterhin in der Spätgeschichte der johanneischen Überlieferung.

H. hat das bereits bekannte und einschlägige Material in seinem gelehrten Werk eingearbeitet und eine kluge Rekonstruktion geboten. Das Wunder der Vierersammlung bleibt vielleicht immer un­geklärt, hier allerdings liegen in dichter Zusammenstellung die relevanten Quellen vor, die dieses Wunder bezeugen.

Corrigenda: S. 12: 2. Satz doppelt; S. 47, Anm. 140: das Diatessaron-Fragment stammt aus dem frühen 3., nicht dem frühen 2. Jh.; S. 49, Anm. 148: die angekündigte Rezension von R. Deines erschien in ThLZ 133 [2008], 1342–1345, nicht in der »Theologischen Literaturzeitschrift«; S. 63, Anm. 177 fin lies: »Gal 3,28« statt »Gal 2,28«; S. 302, Anm. 883 lies: »S. o. Anm. 161.«; S. 315, Anm. 939 lies: »52002« statt »31992«.