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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

751–753

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Höffe, Otfried

Titel/Untertitel:

Lebenskunst und Moral. Oder macht Tugend glücklich?

Verlag:

München: Beck 2007. 391 S. 8°. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-406-55745-3.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Seit einigen Jahren zeichnet sich im philosophischen Diskurs zu­nehmend eine Rückbesinnung auf das praktische Interesse der Philosophie ab, womit unter anderem eine neue Wertschätzung der klassischen Frage nach der Lebenskunst verbunden ist. Gleichzeitig – und mit deutlichem Bezug auf Argumentationsmuster der Philosophie – ist auch in der (Praktischen) Theologie die Frage nach dem Leben neu mit der Frage nach dem Leben-Können verbunden worden. (Zu den Hintergründen vgl. einen entsprechenden Leitartikel in ThLZ 129 [2004], 875–896.)
Unter den zahlreichen Publikationen, die in den letzten ca. 15 Jahren zu Fragen der Lebenskunst erschienen sind, sind diejenigen von besonderem Gewicht, die den Blick für das Ganze der Philosophie nicht verlieren und jenseits schnell geschriebener Ratgeberliteratur um einen theoretischen Diskurs über die Praxis (der Le­benskunst) bemüht sind. Dazu gehören z. B. die Arbeiten von Philosophen wie Wilhelm Schmid (Philosophie der Lebenskunst, 1998) und Peter Bieri (Das Handwerk der Freiheit, 2001), die von bestimmten Erfahrungen der menschlichen Existenz ausgehen und sich quasi induktiv zu philosophischen Folgerungen über die Aneignung eines eigenen Willens, über Freiheit, über die Bedeutung von Gewohnheiten usw. vorarbeiten. Einen anderen Weg wählen Autoren wie Otfried Höffe, indem sie die mit neuer Dringlichkeit gestellte Frage nach Lebenskunst und -kompetenz von einem klassischen philosophischen Konzept her bearbeiten. So war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis H., Professor für Philosophie an der Universität Tübingen und besonders durch seine Arbeiten zu Immanuel Kant dem Fachpublikum bekannt (darunter: Kants Kritik der reinen Vernunft, 42004; Immanuel Kant, 72007), den Vorstoß unternahm, auf dem Hintergrund der Kantischen Philosophie eine Fundamentalethik zu entwerfen, die sich anschickt, den gelegentlich unterstellten (Schein-)Widerspruch zwischen Glück und Mo­ral überwinden.
Dieses Projekt ist H. in hohem Maße gelungen. Zwar hegt der Rezensent gewisse Zweifel, ob das Buch in der Tat von all jenen Menschen rezipiert werden kann, denen es zugeeignet ist, von denen nämlich, die ein gewöhnliches Leben führen und sich nicht zu den philosophischen Fachgelehrten zählen (9). Dazu setzt H. (etwa im Unterschied zu den Publikationen von P. Bieri und W. Schmid) zu viel an philosophischer Sprachkompetenz voraus. Wer sich allerdings im Jargon bzw. in der begrifflichen Systematik, den Kategorien und schematischen Einteilungen der Philosophie ein wenig auskennt (oder besser noch: sie sich neu aneignen will), findet hier ein erstklassiges Exerzitium vor. H. geht Schritt um Schritt alle wichtigen klassischen Positionen, Aspekte und Facetten ethischer und moralischer Prinzipien durch und erörtert deren Für und Wider, wobei er darauf achtet, den Leser immer wieder auf die Spannungen zwischen »Glück (Eudaimonia) und Freiheit (Autonomie)« hinzuweisen, deren versöhnliche Verhältnisbestimmung er sich zum Ziel gesetzt hat.
In bester philosophischer Tradition schreitet H. verschiedene Wege ab, die zu bestimmten Konzeptionen von Lebenskunst und Moral geführt haben, und stellt am Ende seiner Betrachtungen wiederum das Glücksprinzip und das Freiheitsprinzip einander gegenüber. Dabei treten sein von Kant her kommendes Argumentieren und die damit verbundenen Prämissen mehr und mehr zu Tage. Insbesondere das Festhalten an der »Antithese von Pflicht und Neigung« nötigt jedoch erst dazu, immer wieder auf die (in diesem Fall natürlich gegebenen bzw. konstruierten) Divergenzen zwischen persönlichem Wohlergehen (Glück) und autonomem, pflichtbewusstem Handeln (Freiheit) hinweisen zu müssen. Die von H. schließlich als Lösung der Probleme ins Spiel gebrachte »anspruchsvollere Konvergenzthese« (341) geht erwartungsgemäß von der »weitgehenden Übereinstimmung« und »Einheit« von Lebenskunst und Moral aus: »Keine Lebenskunst ohne Moral und keine Moral ohne Lebenskunst.« Das Fragezeichen im Titel des Buches kann also getilgt werden.
H.s Arbeit ist eine gelungene zeitgenössische Reformulierung des Kantischen Tugendbegriffs und dessen systematische Integration in die Bearbeitung der Frage nach der Kunst des Lebens. Insofern gehört das Buch zu den wenigen Titeln auf dem Markt, die eine Theorie der Lebenskunst in angemessener, produktiver Weise ›erschweren‹. Andererseits partizipiert die Arbeit auch an den inhaltlichen, konzeptionellen, um nicht zu sagen »kategorialen« Grenzen der Kantischen Philosophie: Das Auseinanderklaffen von Neigung und Pflicht ist nur innerhalb der Kantischen Philosophie und dem ihr eigenen Freiheits-, Pflicht- und Handlungsbegriff zwingend – und natürlich in der protestantischen Tradition von hoher Plausibilität. Das sich darin auftuende Problem der Diskontinuität zwischen dem, was ein Mensch sich zutiefst wünscht, wofür er sich (liebend gern) entscheidet, dem er die Kraft seines Wollens gibt und das er schließlich in die Tat umsetzt, wird m. E. von H. nicht hinreichend gewürdigt. Der Begriff einer Handlung setzt weit mehr Kontinuität zwischen der Wünschbarkeit (also bereits der Neigung zu) einer Handlung und ihrem aus freiem Willen vorgenommenen Vollzug voraus, als H.s Konvergenzmodell dies vorzusehen scheint.
Besonders erwähnt sei der Exkurs mit den Einwänden H.s gegen einzelne, sich philosophischer Themen annehmender Vorstöße aus dem Bereich der Neurophysiologie (246–261). Einzelne Hirnforscher glauben den Nachweis führen zu können, dass nicht ein freier Wille, sondern bestimmte, nicht willentlich beeinflussbare Prozesse im Gehirn über das Tun und Lassen (und damit über die »Moral«) eines Menschen entschieden. Diese Thesen werden in der Philosophie seit einigen Jahren intensiv diskutiert – und erwartungsgemäß bestritten. H. bringt jedoch besonders zentrale Argumente ins Spiel, die vor allem mit Korrekturen an einem missverstandenen (quasi unbedingten) Freiheitsbegriff verbunden sind und auf die spezifische Art der Abhängigkeit der Willensfreiheit von Gründen verweisen.
H.s Argumentation ähnelt in wichtigen Punkten den Thesen Peter Bieris über die Merkmale einer »bedingten Freiheit« und dessen Idee von einer Handlung; sie entspricht übrigens auch in starkem Maße dem »organischen« Modell der Willensfreiheit bei Oskar Pfister, der schon vor mehr als einem Jahrhundert die falsche Alternative zwischen naturalistischem Determinismus und radikalem Indeterminismus überwunden und ein »organisches Modell« der Willensfreiheit entwickelt hat (Die Willensfreiheit, 1904).
Gewiss kann und muss man in einem solchen Lebenskunstbuch nicht auf alle möglichen Modelle des Handelns oder der Willensfreiheit Bezug nehmen, zumal, wenn sie (wie im Falle von O. Pfis­ter) nicht von philosophischen Lehrstuhlinhabern stammen und nicht gerade aktuell sind. Es ist jedoch schade, dass H. kaum die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen praktisch-philosophischen Entwürfen zur Lebenskunst sucht, ja dass entsprechende Werke auch einer größeren Öffentlichkeit bekannter Kollegen wie W. Schmid oder P. Bieri nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt werden. Über P. Bieri z. B. weiß H. nur zu sagen, dass dieser »den Königsberger Philosophen nicht hinreichend ernst« nehme (242), womit sich anscheinend jede weitere Auseinandersetzung erübrigt. Nicht nur den Geisteswissenschaftler, auch den von H. selbst ins Feld geführten, philosophisch interessierten ›normalen‹ Leser mit einem »gewöhnlichen Leben« (s. o.) dürfte es interessieren, was die anderen so falsch machen, wenn sie doch zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen.