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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

694–696

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Josef

Titel/Untertitel:

Gesetzesfreie Heilsverkündigung im Evangelium nach Matthäus. Das Apostelkonzil (Apg 15) als historischer und theologischer Bezugspunkt für die Theologie des Matthäusevangeliums.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. 501 S. gr. 8° = For­schung zur Bibel, 113. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-429-02919-7.

Rezensent:

Jürgen Wehnert

Mit dieser Arbeit wurde Josef Schmidt 2006 an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom promoviert. Gutachter waren Massimo Grilli und Donath Hercsik. Die in jeder Beziehung merkwürdige Studie widmet sich der (Theologie-)Geschichte des frühesten Chris­tentums, das sich laut S. nicht als Teil des antiken Judentums verstanden habe, sondern als »eine Neuschöpfung Gottes, in welcher die vorher getrennten Teile – die Nahen und die Fernen – wieder zu­sammenfinden … sollten« (17). Da das jüdische Ritualgesetz in diesem Prozess ein Hindernis darstellte, wie Paulus und Petrus »in hellsichtiger Klarheit« erkannten, musste diese »Last« beseitigt werden. Das geschah während des Apostelkonzils, wo »die gesetzesfreie Verkündigung des Evangeliums verbindlich beschlossen« wurde (18–20). Die damals von der Gesamtkirche gefundene theologische Position sei das Fundament des »ausgesprochen ›petrinischen‹« Matthäusevangeliums (20–23).
Diese in der »Einführung« vorgeführte Sicht der Dinge findet im weiteren Verlauf der Studie die zu erwartende minutiöse Bestätigung: Teil 1 widmet sich dem (theologie-)geschichtlichen Standort des Mt; Teil 2 behandelt das »Apostelkonzil« und das angeblich darauf Bezug nehmende Kapitel Mt 18; Teil 3 entfaltet die matthäische Soteriologie und Ekklesiologie: Der Tod Jesu werde von Mt »als Ende des jüdischen Ritualgesetzes« verstanden, die Kirche als »Stadt auf dem Berg« (Mt 5,14), »die allen Völkern eine geistig-religiöse Heimat anbietet« (24).
Dass S. zunächst seinen angeblich selbstevidenten Hypothesenturm und dann die ihn angeblich stützenden Argumente präsentiert, nährt den sich mit fortschreitender Lektüre bestätigenden Verdacht, dass diese Mammutarbeit eine gewaltige Petitio principii darstellt, die eine kritische Begleitung und Urteilsbildung auf Seiten des Lesers nahezu unmöglich macht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Hauptteile des Buches mit einer oft atemberaubenden, nirgends begründeten Methodik operieren, um die Hypothesen von S. mit einem Wust angeblich stichhaltiger Argumente zu unterfüttern. Mit ausgefeilter Rhetorik und einer erstaunlichen Un­beküm­mert­heit, der jeder Selbstzweifel fremd ist, gelingt es S., so ungefähr alles auf den Kopf zu stellen, was historisch-kritische Forschung über die Geschichte des frühen Christentums und die Entstehung der Evangelien (speziell des Mt) herausgearbeitet hat. Dieses Urteil soll an­hand einiger Spitzenthesen von S. näher illustriert werden:
Teil 1 will, in knapper Auseinandersetzung mit einigen neueren Forschungsarbeiten, den heidenchristlichen Standort des Mt begründen, der dann offenkundig sei, wenn die Mt-Gemeinde das jüdische Ritualgesetz nicht beachtet und »in programmatischer Weise« Heidenmission betrieben habe (49) – zwei Voraussetzungen, die sogleich als gültige »rhetorische Strategie« des Mt auf Grund von vier angeblich selbstevidenten Textbefunden eingeschärft werden (50 f.), noch bevor irgendeine exegetische Bemühung S.s stattgefunden hat. Anschließend wird abermals das »Ziel der Untersuchung« formuliert, das darin besteht, S.s Präsuppositionen durch eine Bestimmung des kirchengeschichtlichen Ortes des Mt abzusichern (51–53). Wieder wird der Leser zunächst auf das »Ergebnis« dieser Bestimmung, die vor allem auf Mt 18 und 23 basieren soll, eingeschworen. So steht, noch immer vor jeder Textbehandlung, fest: 1. Mt orientiere sich in seiner Haltung zur Tora exakt an den Beschlüssen des »Apostelkonzils« und kenne »folglich« (!) keine Geltung des jüdischen Ritualgesetzes mehr; 2. die Gemeinde des Mt betreibe seit dem Apostelkonzil eine erfolgreiche Heidenmission; 3. Mt 23 sei eine Abrechnung mit der römischen Justiz, die sich auf die Gefangenschaft des Paulus in Cäsarea beziehe (51).
Mit Punkt 1 und dem mysteriösen Punkt 3 dieses »Ergebnisses« beschäftigt sich S. in seinem zweiten Hauptteil. Zunächst geht es, am Schluss von Teil 1, um die »heidenmissionarische Perspektive« des Mt, die auf den Widerstand judenchristlicher Zauderer gestoßen sei (Mt 28,17: »etliche [die nicht identisch mit den elf Jüngern sind] aber zweifelten«). Deren »Anführer«, der Herrenbruder und Petrus-Antipode Jakobus (83), werde mittels des Missionsbefehls eingeladen, »sich der welt- und kulturumgreifenden Sendung des auferstandenen Herrn nicht zu verweigern« (81). Mit dieser Auslegung von Mt 28,17–20 hat S. den Boden bereitet, um nun das »Apostelkonzil« und dessen (angeblichen) Resultate in das MtEv einzulesen.
Clou der Ausführungen zum Jerusalemer Konvent, bei dem es sich tatsächlich um ein gesamtkirchliches »Konzil« gehandelt habe (137–139), ist die von S. getroffene Unterscheidung zwischen einem »Apostelabkommen« (anlässlich der zweiten Jerusalemreise des Paulus), das in Gal 2,1–10 und in Apg 11,27–30, der angeblichen Parallele dazu, reflektiert werde, und den Beschlüssen des späteren »Apostelkonzils« (Apg 15). Ersteres habe das gesetzesfreie Missionskonzept des Paulus bestätigt (bei den »Säulen« [Gal 2,9] handele es sich um Petrus und die Zebedaiden) – gegen den Widerstand von judaistischen ›Falschbrüdern‹, deren »Anführer« der Herrenbruder Jakobus gewesen sei (108). Letzterer habe anschließend die galatische Krise vom Zaun gebrochen, weshalb er während des Jerusalemer Konzils von Petrus der Häresie bezichtigt worden sei. Darüber schockiert, sei er vor der Versammlung reumütig auf die rechtgläubige Linie eingeschwenkt, womit der Konflikt ausgestanden und die Einheit der Kirche gerettet war (131–137). Die dann beschlossenen Klauseln des sog. Aposteldekrets beträfen lediglich »praktische Rücksichtnahmen« für »ein harmonisches Zusammenleben« (136), offenbar von so untergeordneter Bedeutung, dass sich S. erlauben kann, diese – seine Gesamtargumentation erschütternde – früh­christliche Aktualisierung der reinheitsgesetzlichen Bestimmungen von Lev 17 f. mit Stillschweigen zu übergehen.
Diese romanhafte Rekonstruktion der Ereignisse stützt sich vor allem auf eine Lesart der Apg, die unterstellt, dass Lukas den skizzierten Verlauf der Ereignisse genau gekannt, ihn aber um der Schonung der Protagonisten willen nur behutsam kommentierend geschildert habe. S. ist jedoch intuitiv in der Lage, hinter dem von Lukas Gesagten das Gemeinte exakt zu erfassen und infolgedessen die ›wahre‹ Geschichte rekonstruieren zu können. Sein Hauptbeweis dafür ist offenbar, dass das bisher verkannte MtEv als präzises Spiegelbild der von S. aus Lk/Apg herausgelesenen Ge­schichte des frühen Christentums zu deuten sei.
In den Ausführungen zu Mt 18 (148–227) und 23 (228–282) ist S. jedes argumentative Mittel recht, um diesen Beweis anzutreten. Methodisch spielt dabei ein Verfahren eine Rolle, wie man es ähnlich bisher nur aus Publikationen à la »Cracking the Bible Code« kannte: Aus einzelnen Wörter des Mt-Textes werden Buchstaben(gruppen) herausgezogen und zu neuen Wörtern kombiniert, die S. für seine Hypothesengewinde benötigt. Neben solche Rabulistik tritt eine phantasievolle Allegorese. Wenn es Mt 18,34 heißt: »In seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten«, bedeute dies, dass Petrus im Zuge des von ihm geleiteten Jerusalemer Konzils dem üblen Herrenbruder Jakobus zu­nächst die Exkommunikation (Mt 22,13) und dann »eine ›Erzwingungshaft‹« verordnet habe, die diesen zur Einsicht und das Konzil insgesamt zum vollen Erfolg geführt habe (225 f.). Seine Auslegung von Mt 18 bestätigt also die von S. fabulierte Geschichte des »Apostelkonzils« vollkommen und vermag ihr sogar noch weitere phantastische Details hinzuzufügen.
Die Behandlung von Kapitel 23 leitet über zur Entfaltung der universalistischen Ekklesiologie des Mt im 3. Teil. Die Weherufe gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer wendeten sich keineswegs gegen jüdische Gruppen, sondern gegen die römischen Beamten, die den Apostel Paulus zu Unrecht in Haft hielten (Apg 23–25). Das liege auf der Hand, weil sich aus den Wörtern grammateis und pharisaioi fast alle Buchstaben des Wortes rōmaioi (Römer) herausziehen lassen (241). So entpuppt sich z. B. das Unheilswort Mt 23,34–36 als »Heilsangebot an die Römer«, nämlich als Aufforderung, Paulus aus der Haft in Cäsarea zu entlassen. Nebenbei gelingt S. auch die Klärung aller Einleitungsfragen: »Das Mt-Ev fand noch kurz vor Ablauf der Amtszeit des Felix (um 58 n. Chr.) den Weg zu den historischen Adressaten.« (264) Geschrieben worden sei es in Cäsarea, dem Amtssitz des Präfekten, und zwar von dem dort (s. Apg 21,8) ansässigen »Hellenisten und Diakon Philippus« (265).
Dass es S. im Schlussteil seiner Arbeit mit solchen eisegetischen Verfahren mühelos gelingt, das »Ende des Ritualgesetzes« als Herzstück der matthäischen Theologie zu erweisen und den im Acker verborgenen Schatz (Mt 13,44) als »die um Petrus versammelte ekklesia« (343), dürfte sich von selbst verstehen und weitere Kommentare erübrigen.
Der implizite Anspruch von S., dass seine unübersehbare Pe­trusfrömmigkeit einen über die gängigen exegetischen Verfahren hinausführenden privilegierten Textzugang eröffne, ist nicht akzeptabel. Auch eine rein intuitive Lektüre des biblischen Textes muss sich um eine kommunikable Hermeneutik bemühen, wenn sie ernst genommen werden will. Dass die beiden Gutachter an S.s Arbeitsweise keinen Anstoß genommen haben, ist erstaunlich, um nicht zu sagen: erschütternd. Auch wenn sich postmoderne Exegese durch eine blühende Methodenvielfalt profilieren möchte, ist dadurch die Frage nach der Wahrscheinlichkeit ihrer Resultate nicht obsolet geworden. Phantasievolle Bilder von der Frühzeit des Christentums, wie naiv auch immer, mag jeder hegen, wie er will, sofern er nicht darauf besteht, sie mit der wirklichen Geschichte zu verwechseln.