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Ausgabe:

Juni/2009

Spalte:

691–692

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reese, Ruth Anne

Titel/Untertitel:

2 Peter and Jude.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. X, 234 S. gr.8° = The Two Horizons New Testament Commentary. Kart. US$ 20,00. ISBN 978-0-8028-2570-4.

Rezensent:

Jörg Frey

Über den Sinn und Unsinn ständig neuer Kommentarreihen und -bände lässt sich streiten. Die vielen Kommentare ›for teachers and preachers‹ im angelsächsischen Raum dokumentieren das dort nach wie vor breite allgemeine Interesse an der Bibelauslegung, doch bringen sie wissenschaftlich selten Neues. Das ambitionierte ›Two Horizons‹ Kommentarprojekt will darin eine Ausnahme bilden, dass hier der notwendige Brückenschlag zwischen biblischer und systematischer Theologie vorgenommen und Exegese im engen Gespräch mit theologischen Fragestellungen betrieben werden soll. Eine dezidiert theologische Auslegung soll den vielen nur historischen zur Seite treten. Der Band zu Jud und 2Petr kann als Testfall dafür dienen, was diese Zielsetzung bibelwissenschaftlich und theologisch austrägt. Die Autorin, die am methodistischen Ashbury-Seminary lehrt, ist zuvor durch eine stark rezeptionsästhetisch orientierte Monographie zum Judasbrief (Writing Jude. The Reader, the Text, and the Author in Constructs of Power and Desire. Leiden: Brill 2000) hervorgetreten.
Die Einführung beschreibt den Auslegungsprozess in blumigen Metaphern als »interpretive dance«, in dem sich Exegese, Theologie und Gemeinden verbinden, »joining hands in a dancing circle around the Trinity« (2). Der Kommentar intendiert »to build a dance pavillon« (2), d. h. den Raum und Rahmen für den lebendigen und kommunikativen Prozess zu bieten. Dahinter stehen ein modernes Bewusstsein der Kontextualität und Positionalität aller Auslegungen und das Ziel, die Texte im Horizont ihrer kanonischen Wirkungsgeschichte und der theologischen Gegenwartsfragen zu lesen, deren Auswahl wieder vom Kontext abhängt.
Die Auslegung gliedert sich klassisch in eine Einleitung, einen durchlaufenden Kommentar und einen ungefähr ebenso langen Teil zu den theologischen Fragestellungen des jeweiligen Briefes (einzelne Themen, die Theologie des Jud/2Petr im kanonischen Kontext sowie – nur für Jud – die Theologie im gegenwärtigen Kontext). In diesem Teil liegt das Proprium der vorliegenden Auslegung. Doch kann man zur Rekonstruktion der Theologie und ihrer biblisch-theologischen Profilierung nur durch sorgfältige und präzise historische Arbeit gelangen. Und hier beginnen die Probleme:
Denn die Einleitungen und die Behandlung der klassischen Einleitungsfragen sind der am wenigsten befriedigende Teil des Werks. Zum historischen Kontext des Jud bleibt R. völlig vage und stellt nur die Unsicherheit aller Urteile heraus, so dass letztlich für die Leser alle Katzen grau bleiben und die Möglichkeit der Authentizität bzw. einer relativ frühen Datierung zwischen 70 und 90 offen bleibt (19). Auch zu 2Petr bleibt die Auskunft unklar. Zwar scheint R. hier der Pseudonymität zuzuneigen, legt das aber nicht wirklich offen und flüchtet sich in die Auskunft: »whether this is an epistle written in some manner by Peter or whether written by a follower, the introduction to the letter places it firmly within the Petrine corpus« (119). Historisch gesehen, sind schon die Alternativen unzutreffend: Sicher ist der Autor nicht Petrus selbst. Aber der pseudonyme Autor, der ein Testament des Petrus verfasst und Jud benutzt, ist sicher auch nicht mehr ein Schüler oder unmittelbarer ›follower‹ des Apostels, und ein zusammenhängendes Corpus Petrinum, in das der Brief eingefügt werden könnte, gibt es weder im Neuen Testament noch im 2. Jh., da die diversen Petrus-Schriften sehr verschiedenartig sind.
Eine nähere Bestimmung der jeweiligen Gegner bzw. der (in beiden Briefen unterschiedlichen) je akuten Streitfragen erfolgt nicht, allgemeine Hinweise zu ›honor and shame‹ oder ›patronage‹ im Anschluss an Malina etc. helfen wenig weiter und führen, historisch gesehen, auf falsche Fährten.
Die Exegesen zeichnen den Text und einige seiner Hintergründe sensibel nach, ohne letzte Präzision zu erreichen. Eingestreut sind kleine Exkurse zu einzelnen theologischen Fragen, deren Auswahl gelegentlich zufällig erscheint. So veranlasst δοῦλος in Jud 1,1 zum Vergleich mit neuzeitlicher Sklaverei, προγεγραμ­μένοι in 1,4 zur Reflexion über Freiheit und Prädestination, wobei R. hier ohne textliche Gründe den (in Jud sicher intendierten) Bezug auf ein vorher, d. h. in der Schrift, über die Gottlosen festgeschriebenes Gericht ablehnt und den Brief stattdessen selbstreferentiell verstehen möchte (38). Die Gerichtsdrohung ist dann für die Gegner nur der ›Eventualfall‹, was die Schärfe der Aussagen deutlich reduziert.
In den theologischen Fragen von Prädestination und Freiheit, Gerichtsdrohung und Umkehr liegt ein Leitinteresse der Interpretation, nachdrücklich wird für Jud die Entscheidungsfreiheit festgehalten (82) und auch für die Gegner die Möglichkeit der Umkehr betont (83). Aber ist das wirklich textgemäß oder nur dem Wunsch nach einer ›erträglichen‹ Deutung geschuldet? In Jud 22 f. ist nur von einem Bemühen um die Angefochtenen die Rede, die ›Gottlosen‹ sind weder Gesprächspartner noch Gegenstand seelsorgerlicher Bemühung. Die Theologie des Jud ist doch schroffer, als R. es in ihrem Bemühen um eine Vermittlung der Rede vom Gericht wahrhaben will. Und ob man die (extrem strittige) Lesart Ἰησοῦς V. 5 dahingehend wenden darf, dass Jesus als Gottesknecht (nach DtJes) die Gerechtigkeit heraufführt (97), ist m. E. sehr fraglich. In die biblisch-theologische Linie des Recht schaffenden Gerichtshandelns Gottes (und des Parusiechristus) lässt sich Jud nur mit Mühe einfügen. Wäre es nicht theologisch aufrichtiger, den schroff-dualistischen Befund zu benennen, um ihm dann mit klarerer Kritik zu begegnen, anstatt ihn biblizistisch zu entschärfen? Eine ernst­hafte systematisch-theologische Reflexion müsste mit den innerkanonischen Ärgernissen kritischer umgehen, auch wenn dies Teilen einer frommen Leserschaft anstößig sein dürfte.
Insgesamt bleibt die vorliegene Auslegung zu unkritisch. So akzeptiert R. das von den Gegnern gezeichnete Bild weithin, obwohl dies im Jud wie im 2Petr voll von polemischen Stereotypen ist und den Gegnern jede Form von Amoralität zuschreibt. In Jud 8 übernimmt R. zwar die Deutung der δόξαι V. 8 auf Engelmächte (48), aber kann daraus nicht zu einer Präzisierung des Gegnerprofils gelangen, sondern deutet diese nur im Rahmen des Vorwurfs, dass die Gegner »fail to act in accordance with their position« (49). So bleibt unerkannt, worum es den Autoren im Kern ging, und unentdeckt, wo sie ihre Gegner lediglich diffamieren. Auch im 2Petr wird die mit dem Liebesgebot unvereinbare reine Diffamierung der Gegner als ›animalischer‹ Gestalten (bevor deren Argumente in 3,3–4 überhaupt erwähnt werden) ohne Kritik nachgesprochen, so dass der in 2Petr vorliegende Fokus auf der Frage der Parusieerwartung verundeutlicht wird. 2Petr erscheint damit letztlich als »a call to ethical living« (220). Der Mangel an Präzision in den historischen und semantischen Fragen führt somit zu einer insgesamt zu unkritischen Lektüre der beiden Briefe, deren Defizite dann auch in der im Ansatz lobenswerten kanonisch-systematischen Reflexion nicht eingeholt werden.
Das notwendige Gespräch zwischen Systematik und Exegese und der Dialog zwischen den Horizonten der Gegenwart und der Vergangenheit kann nur gelingen, wenn sich die Exegese auch den historischen Fragen mit der hinreichenden Präzision und kritischer Aufrichtigkeit stellt. Dies ist in diesem Band der ›Two Horizons‹-Reihe leider noch nicht wirklich gelungen.