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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

639-641

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kranemann, Benedikt, Sternberg, Thomas, u. Walter Zahner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die diakonale Dimension der Liturgie.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Herder 2006. 306 S. 8° = Quaestiones disputatae, 218. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-451-02218-0.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Dieses Buch nimmt sich die diakonale Dimension der Liturgie zum Thema – eine Dimension, die oftmals in den Hintergrund rückt, ja, im Zusammenhang der Liturgie sogar in Vergessenheit zu geraten droht. Dies wird begünstigt, wenn Liturgie als ästhetische Zutat zur Erbauung der Glaubenden begriffen wird, die man sich als Höhepunkt nun deshalb leisten kann, weil für das Leben gesorgt ist, weil alles reibungslos funktioniert und Diakonie nicht vorkommt. Liturgie und Leben und damit auch Diakonie entfernen sich voneinander. So stellt es Andreas Poschmann in seinem Beitrag dar, der das ineinandergreifende Verhältnis von Liturgie und Diakonie am Beispiel des Lebens im Leipziger Oratorium bearbeitet und damit auf die Wurzeln von Klemens Richter verweist. Denn dass man so nicht mit Liturgie umgehen muss, sondern andere Wege gehen kann, ist auch Klemens Richter zu verdanken, dem diese Aufsatzsammlung anlässlich seines 65. Geburtstags und seiner Emeritierung als Liturgiewissenschaftler in Münster gewidmet ist. Richter hat oft auf den Zusammenhang von Diakonie und Liturgie hingewiesen, ist er doch selbst in Leipzig geboren und gehörte dem Leipziger Oratorium an.
Das Buch ist dreigeteilt: Das erste Kapitel befasst sich mit den Grundlagen von Liturgie und Diakonie, das zweite Kapitel macht auf historische Zusammenhänge aufmerksam und das dritte Kapitel widmet sich abschließend den Fragen der Gegenwart.
Erich Zenger (Münster) legt alttestamentliche Verhältnisbestimmungen, meist aus prophetischer Sicht, von Kult und Ethos dar und Martin Ebner (Münster) stellt Perspektiven der Diakonie im neutes­tamentlichen Sinne vor, wobei hier die Apostelgeschichte und auch das Lukasevangelium wichtigste Zeugen sind. Christian Grethlein (Münster) nähert sich aus evangelischer Sicht einem schwierigen Thema, wie er es selbst formuliert, und reflektiert die reformatorischen Impulse zur Diakonie bis auf die Gegenwart. Dorothea Sattler (Münster) beschreibt in ökumenischer Perspektive die diakonale Dimension für die Feiern der Versöhnung, wie sie sich in Biographie­erzählungen widerspiegelt. Martin Klöckener (Fribourg) legt unter der Maßgabe, dass die Liebe zum Nächsten der Prüfstein der Gottesliebe ist, die Verlautbarungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Verhältnis von Liturgie und Diakonie dar.
Nachdem so Grundlegendes aus biblischer, biographiebezogener, reformatorischer und römisch-katholischer Sicht dargestellt wurde, folgen im zweiten Kapitel historische Beispiele, wie sich Liturgie und Diakonie verbunden haben.
Arnold Angenendt (Münster) führt die Kirchenkritik im Zusammenhang der Investiturstreitigkeiten an, weil Kirche nicht nur von Spenden, sondern auch von herrschaftlich verankerten Einkünften lebte bzw. leben wollte, aber nach Meinung der Kirchenkritiker nicht leben sollte. Thomas Sternberg (Münster) untersucht die diakonale Dimension der Liturgie anhand der frühchristlichen Gabenabgabe für die Eucharistiefeier. Hubertus Lutterbach (Essen) stellt das Bild der Heiligen Familie vor, wie es dazu anregte, sich mit vernachlässigten Menschen zu befassen, damit auch sie an einem besseren Leben teilhaben können. Es folgt der schon oben erwähnte Beitrag von Andreas Poschmann (Leipzig), der das beispielgebende Verhältnis von Liturgie und Diakonie am 1930 gegründeten Leipziger Oratorium vorstellt. Das soziale Handeln der Oratorianer im Arbeiterviertel Leipzig-Lindenau wurde mit der Feier der Liturgie verbunden, so dass diese beiden für das Oratorium wichtigen Arbeitsfelder sich zueinander verhielten wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse, die gegenseitig aufeinander einwirken. So erhält der Gottesdienst Alltagsrelevanz und ist für den Gemeindeaufbau wirksam. Josef Pilvousek (Erfurt) geht den Wirkungen des Leipziger Oratoriums und den karitativen Aktivitäten der römisch-katholischen Kirche in der DDR nach. Damit sind die historischen Erörterungen schon fast in der Gegenwart angekommen, die das dritte Kapitel in zahlreichen Beiträgen thematisiert. Martin Stuflesser (Münster) erörtert das Verhältnis von Liturgie und Leben, wie es in der Taufe begründet und im Taufgedächtnis beachtet werden kann, wobei er sich maßgeblich auf die Taufliturgie Luthers bezieht. Benedikt Kranemann (Erfurt) untersucht die diakonale Dimension des Wortgottesdienstes und beschreibt, wie Liturgie zum Handeln anstiften kann. Dass auch gewichtige diakonische Aspekte bei der Sterbe- und Begräbnisliturgie ihren Ort haben, so dass es zu einem Ineinander von geistlichen und diakonalen Diensten kommt, hebt Manfred Probst (Vallendar) hervor. Reiner Kaczynski (München) befasst sich mit dem dreistufigen Amt (Diakon, Presbyter, Bischof), insbesondere mit dem Amt des Diakons, wie es in den neueren kirchlichen Verlautbarungen beschrieben und aufgefasst wird. Er zeigt, wie schwierig es ist, das Diakonenamt als ein selbständiges Amt zu verstehen und zu gestalten und es nicht als eine Vorstufe zum Priesteramt misszuverstehen, denn dadurch nimmt auch die diakonale Dimension der Liturgie Schaden. Zu diesem Themenbereich schreibt auch Herbert Vorgrimler (Münster) und würdigt die Erneuerung des Diakonats durch das Zweite Vatikanische Konzil, für die er sich vor und während des Konzils eingesetzt hat und nun als letzter Überlebender berichtet. Dass Diakonie und Kirchengebäude eine Verbindung eingehen können, die auf den ersten Blick nicht selbstverständlich ist, legt Albert Gerhards (Bonn) dar. Kirchengebäude können sich für diakonische, gesellschaftliche Anliegen öffnen, wenn ihnen dabei der Sakralcharakter nicht abhanden kommt. Das gilt nicht nur für explizit erkennbares diakonisches Handeln, sondern auch für Kunst und Kirchenmusik, ja sogar für die Umnutzung von Kirchengebäuden. Walter Zahner (Regensburg) setzt Ästhetik und Diakonie in ein Verhältnis, da der Ort des Wortes ein Initiationsort für diakonisches Handeln ist, und untersucht dies an drei unterschiedlichen Gestaltungen des Ambo. Paul Michael Zulehner (Wien) erläutert den neu in die Diskussion eingebrachten Begriff Ritendiakonie. Er schildert die tatsächlichen Arbeitsfelder von Diakonen und stellt heraus, dass die eher Kirchenfernen von ihren Lebenserfahrungen her nach Riten fragen, während die Kirchennahen eher von den Er­fah­rungen mit den liturgischen Feiern her argumentieren, was zu erheblichen Spannungen in der Volkskirche führt. Karl-Heinrich Bieritz (Ihlow) fragt an, ob Rituale auch den kirchlich Fernstehenden eine Lebenshilfe sein können, ohne dass dabei Voraussetzungen und Verpflichtungen (z. B. bei der Taufe) geltend gemacht werden müssen, oder ob nicht Ritualen vielmehr eine Kraft innewohnt, die die Person gänzlich erfassen und verändern kann. Das gelte insbesondere für die rituelle Inszenierung des Christusgeheimnisses.
Der Überblick zeigt, wie viele Aspekte die Verbindung von Liturgie und Diakonie hervorbringt und wie viele unterschiedliche Ansätze zum Verstehen beider Dimensionen vorgetragen werden. Das kann, wie im Beitrag von Stuflesser, so weit gehen, dass das Leben thematisiert wird und der Begriff Diakonie gar nicht vorkommt. Ihm geht es um die ethischen Implikationen, die sich aus der Taufe ergeben, da ja mit der Taufe der alte Adam ersäuft werden und der neue aus der Taufe hervorkommen soll. Manche Aspekte bleiben in dieser Aufsatzsammlung unerwähnt, z. B. fehlt eine Ab­handlung über die Geldkollekte, obwohl das Einsammeln von Geldgaben während des Gottesdienstes allgemein üblich ist und auch für diakonale Dienste erbeten wird und sich dadurch nicht nur die diakonale Dimension der Liturgie, sondern auch das Verständnis des christlichen Lebens als Gottesdienst im Alltag konkretisiert.
Trotz der vielen und reichhaltigen Beiträge dieser verdienstlichen Sammlung bleiben noch genügend Aspekte offen, die zu bedenken und zu erforschen sind. Das Thema – wenn auch oft eher am Rande behandelt – hat noch erhebliches Potential. Das dürfte im Sinne von Klemens Richter sein, der dazu beigetragen hat, dass es um die diakonale Dimension der Liturgie nicht stille geworden ist und nicht still werden soll.