Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

614-616

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kremer, Markus, u. Hans-Richard Reuter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Macht und Moral. Politisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 365 S. gr.8° = Theologie und Frieden, 31. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-019695-7.

Rezensent:

Klaus-Gert Lutterbeck

Das Hamburger Institut für Theologie und Frieden, in dessen gleichnamiger Reihe der zu besprechende Band erschienen ist, wird durch das katholische Militärbischofsamt getragen. Diese Trägerschaft verpflichtet nicht zuletzt zur »Aufarbeitung historisch-politischer und sozialwissenschaftlicher Themen«. Dieser Zielsetzung kommen die durch Markus Kremer –Gymnasiallehrer im elsässischen Croetwiller – und den Theologen Hans-Richard Reuter – Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Müns­ter – vereinigten Studien in umfangreicher Weise nach. Sie versammeln nicht weniger als 18 Texte zum Thema (Titel), wobei exemplarisch die Verknüpfung von »Ideengeschichte« und »politischer Geschichte« hergestellt werden soll. Konkret zielen die Herausgeber dabei darauf, den »dialektischen Zusammenhang zwischen Veränderungen der staatlichen Systeme und der Denkrichtungen« mit Blick auf ›friedensfördernde Ordnungsprinzipien‹ hervortreten zu lassen.
Wenn es den Herausgebern auch um die Frage nach den »normativen Wechselwirkungen« zwischen »Theorie und Praxis internationaler Ordnungspolitik« geht, so legen sie doch den Schwerpunkt nicht auf eine Klärung des zeitlichen (und kausalen) Verhältnisses beider. Das Thema wird also nicht (oder jedenfalls nicht primär) in wirkungsgeschichtlichem Interesse angegangen. Vielmehr liegt die eigentliche Absicht darin, »eine Ordnung theoretisch zu begründen, in der der politische Friede (ganz aristotelisch) als Ausdruck entsprechender innerer Einstellungen und Überzeugungen aufgefasst wird.« Es ist diese Zielbestimmung, durch die sich die »friedensethische Forschung« als normativ erweist, wobei ihre Methode als eine historisch gestützte, »philosophisch-systematische Hermeneutik des Friedens« hervortritt (Vorwort, 7 f.). Damit wird ein anspruchsvolles Unternehmen eingeläutet, dem die Sammlung in historischer Perspektive nachkommt. Im ersten Teil des Bandes (»Grundlagen«) werden »Historische Rahmenbedingungen« (a), »Philosophische Vergewisserungen (b) und »Politische Wirkungen« (c) diskutiert. Teil 2 ist Einzelstudien zu Autoren (und Akteuren) des 17. und 18. Jh.s ge­widmet.
Es geht also um eine »Ideengeschichte des Friedens«, die nicht isoliert als reine Geistesgeschichte konzipiert wird, sondern an die politische Geschichte angebunden ist. Dabei wird der Bezug zur politischen Geschichte keineswegs nur indirekt im Zusammenhang mit der Untersuchung einzelner Autoren hergestellt. Die politische Geschichte wird vielmehr auch direkt – beispielsweise durch Klaus Malettke (»Das europäische Staatensystem im 17. und 19. Jahrhundert«) und Heinz Duchhardt (»Friedensinstrumente der europäischen Außenpolitik nach 1648«) – instruktiv thema­tisiert. Das ist sehr zu begrüßen. Insofern ist der Band sicherlich richtungsweisend.
Der Reigen der Beiträge wird eröffnet durch die Untersuchung des Doyen der neueren Suárez-Forschung, Salvador Castellote (»Der Beitrag der spanischen Spätscholastik zur Geschichte Europas«). Castellote fördert neben einer aufschlussreichen historischen Einbettung der Schule von Salamanca überraschende ideengeschichtliche Bezüge zwischen Spätscholastik und europäischer Aufklärung zu Tage. Diese Perspektive erweist sich als sehr ertragreich, wie die Texte von Gerhard Krieger (»Freiheit und Gleichheit – Die Idee sittlicher Selbstbestimmung in Spätmittelalter und Neuzeit«), Alfred Habichler (»Reich-Gottes-Theologie und philosophische Aufklärung«) und die glänzende Studie von Peter Schallenberg (»Ewiger Frieden aus Liebe zum Ewigen? Fénelon und seine Mystik als Inspiration ethisch-politischen Handelns«) eindrucksvoll deutlich machen. Krieger zeigt, dass sittliche Selbstbestimmung und die Annahme natürlicher Sozialität des Menschen über Buridan und Cusanus hinaus auch in der Neuzeit – entgegen der Hobbesschen Kritik – bei Kant und Hegel als notwendige Korrelate gedacht werden konnten. Demgegenüber verfolgt Habichler die Rezeption der Reich-Gottes-Idee von der biblischen Basis unter Einbeziehung der voraufklärerischen Theologie über Leibniz, Kant und Hegel bis hin zur Aufnahme der durch die Aufklärung transformierten Idee in der zeitgenössischen Theologie. Anhand von Schallenbergs Un­tersuchung wird nicht zuletzt die Bedeutsamkeit des Fénelonschen Begriffs des amor purus als amour désintéressé über die Friedensthematik hinaus für die Konstitution des (in Freiheit gegründeten) neuzeitlichen Moralitätsbegriffs ersichtlich. Insgesamt wird – ungeachtet der Differenzen (zu einigen ihrer Folgen: Matthias J. Fritsch, »Naturrecht und katholische Aufklärung im 18. Jahrhundert«) – deutlich, wie wenig gerechtfertigt eine Trennung von theologischem Denken und säkularer Aufklärung ist.
Prominent wird zudem die Rechtsgeschichte behandelt. Zu­nächst ist hier Norbert Brieskorns Aufsatz über Friedrich Spee (»Recht und Gewalt bei Friedrich Spee SJ«) zu nennen, der seinen Ausführungen über diesen einen hochinteressanten Abriss über »Hexenprozesse und -prozessrecht« voranstellt. Erstaunlich für den Nichtspezialisten ist die Feststellung, dass das Kirchenrecht bis zum 12. Jh. den Glauben an Hexerei verurteilte (191). Darüber hinaus nimmt der Band eine völkerrechtsgeschichtliche Perspektive ein. Georg Cavallar behandelt das Fremdenrecht (»Zwischen Integration und Abgrenzung: Das Fremdenrecht als Teil der Europa-Ideen«), Dieter Janssen stellt einen englischen Pionier des säkularen (sowie positiven) Völkerrechts und Zeitgenossen Hobbes’ vor (»Richard Zouch und die Entstehung des klassischen Völkerrechts«). Karl-Heinz Ziegler lässt die Bedeutung Vattels im Kontext hervortreten (Karl-Heinz Ziegler, »Emer de Vattel und die Entwicklung des Völkerrechts im 18. Jahrhundert«). Betsy Baker schließlich öffnet den Band in dieser Blickrichtung zum 19. Jh. (»The ›Civilised Nation‹ in the work of Johann Caspar Bluntschli«, hier fehlt leider beinahe vollständig eine Gliederung). Damit trägt der Band dem wieder zunehmenden Interesse am Völkerrecht im Prozess inter- und transnationaler Integration vor dem Hintergrund einer gescheiterten völkerrechtsfremden »pax americana« nachdrücklich Rechnung.
Auch hinsichtlich eines Bandes, der eine so überwältigende – hier keineswegs vollständig präsentierte – Fülle von Material liefert wie der besprochene, lassen sich Desiderate anführen. Diesbezüglich sind hier weniger Einzelthemen zu nennen. Gedacht ist vielmehr an eine methodische Erweiterung. Sicherlich könnte das Potential, dem sich diese Ideengeschichte des Friedens durch die Einbeziehung der Praxis öffnet, noch weiter aufgeschlossen werden, denn sie versteht sich zwar als auf die Praxis bezogene, nicht aber als eine, die sich zuweilen auch maßgeblich als solche in der Praxis konstituierte. Dass ein derartiger Zugang fruchtbar sein kann, hätte ein eigener Beitrag zur Friedensordnung des Alten Reichs nach 1648 vermutlich zeigen können, auf den man wohl zu Gunsten der überwiegend – aber keineswegs durchgängig – vorgenommenen Begrenzung der Praxisdimension auf die Perspektive des klassischen Völkerrechts (nämlich auf das Außenverhältnis souveräner Machtstaaten) verzichtet hat. Nicht nur wäre hiermit ein ohnehin lohnenswerter Gegenstand aufzuzeigen gewesen, sondern womöglich auch ein Beispiel für die Ausbildung einer Friedensidee in der Praxis, mithin ein Element einer Ideengeschichte des Friedens der Praxis. In dieser bisher allgemein kaum genutzten Perspektive könnte eine »Hermeneutik des Friedens« unter Einbeziehung objektiver Bedingungsfaktoren sicherlich in Richtung auf »einen vernünftig begründbaren Ordnungsbegriff politischer Praxis« (8) gewinnen.
Das ideengeschichtliche Potential der politischen Geschichte wird im Band deutlich: etwa bei Joseph Bergin (»Church and State in Seventeenth-century France«), der das Edikt von Nantes Heinrichs IV. von 1598 als Indikator für die »›autonomisation‹ of politics« (61, vgl. 64.66) herausstellt – auch wenn Bodin bereits 1576 seine »Six livres de la République« geschrieben hatte.