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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

564–566

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sellin, Gerhard

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Epheser. Übers. u. erklärt v. G. Sellin.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 494 S. 8° = Meyers kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 8. Lw. EUR 78,90. ISBN 978-3-525-51550-1.

Rezensent:

Petr Pokorny

Eine neue Fassung des Kommentars zum Epheserbrief in einer der ältesten und besten Kommentarreihen (Meyer), die 111 Jahre nach der letzten Bearbeitung (von Erich Haupt) erscheint, ist ein Ereignis. Der letzte Kommentar von Heinrich Schlier, den er für die Meyersche Reihe schrieb (bei International Critical Commentary kam die Neubearbeitung nur um zehn Jahre früher), ist nämlich nach seiner Konversion zum Katholizismus außerhalb im Patmos-Verlag erschienen. Heute hat die Bibelwissenschaft eine so gewichtige Geltung und durch die ökumenische Ausrichtung auch geistige Autonomie, dass so etwas nicht mehr nötig wäre. S. hat, wie er im Vorwort sagt, mehr als 20 Jahre an dem Kommentar gearbeitet – eine Etappe, in der auch mehrere andere anregende Kommentare erschienen.
Die Adresse in dem Präskript wird in Sinne der Handschriften Sinaiticus, Vaticanus und Chester Beatty als universal verstanden, wobei »die an Christus Jesus Glaubenden« durch die Bestimmung »an die Heiligen« expliziert wird. Der Verfasser des Epheserbriefes ist nach S. ein Paulusschüler, der den Kolosserbrief benutzte. Es handelt sich also, wie H. Hübner es nennt, um einen »tritopaulinischen Text« (55 f.). Der Verfasser schreibt eine ermahnende Epistel, in der er die Persönlichkeit (»Figur«) des Paulus zur Konsolidierung der Kirche mit vielen Neophyten benutzt. Sie haben die Mehrheit der vorausgesetzten Adressaten gebildet (62; vgl. 206.230). Theologisch entfaltet der Verfasser das paulinische Erbe im Sinne der philosophisch beeinflussten Theologie weiter, wie sie für die späthellenistische und frühe Zeiten des römischen Prinzipats in Alexandrien belegt ist (Philo, Clemens u. a.).
In diesem Kommentar, der – wie jeder klassischer Kommentar – die sukzessive literarische Oberfläche des Textes verfolgt, wird der erste Teil (1,3–3,21), der um das Thema des Geheimnisses (myste--rion) Christi kreist, nicht in eine direkte Analogie zu dem theologischen Teil der Korpusse der paulinischen Homologumena gesetzt, sondern wird als der epideiktische (demonstrativ bekennende) Teil betrachtet. Die doppelte Stellung Jesu als des Hauptes der Kirche und des Kosmos (1,22–23) wird als der Schritt erkannt, den der Verfasser des Epheser- über die Theologie des Kolosserbriefes hinaus gemacht hat: Die Kirche wird als Fülle Christi definiert (157). Der Verfasser knüpft nachweisbar an die paulinische Theologie (die kombinierte Formel von dem Tod und der Auferstehung, vgl. 387) an, die in Eph 2,15 f. wie in Kol 1,20 spiritualisiert und präsentisch aufgefasst wird. – Der liturgische Teil des zweiten Kapitels (be­sonders 2,14–17a, wo Erst Käsemann das Fragment eines Hymnus sah) wird konsequent aus dem Kontext von 2,11–22 ausgelegt und dem Verfasser zugeschrieben. Es handelt sich S. zufolge um ein Enkomion mit Analogien bei Philo von Alexandrien.
Der zweite Hauptteil (4,1–6,9) ist der Paränese gewidmet, in deren Rahmen die Argumente zur theologischen Begründung der Einheit der Kirche weiter entfaltet werden. Die in 4,5–6 enthaltene und offensichtlich im Kult gebrauchte Formel über den einen Gott und den einen Herrn (und eine Taufe, 4,5) wird in ihrer Grundaussage als Teil einer gottesdienstlichen Aussage anerkannt.
Die Vorstellung vom Abstieg Jesu Christi als des himmlischen Menschen auf die Erde und seinem Aufstieg in den Himmel (4,8 –10), die schon in Phil 2,6–11 vorkommt, drückt Universalität und Ausschließlichkeit des Heilswerkes Jesu auf der einen und seine Mittlerstellung auf der anderen Seite aus. Sie wird durch die neu gedeutete Septuaginta-Version von Ps 68,19 (LXX 67,19) modifiziert .– In der Analyse der Dienste der Einheit (4,11–16) spielen die Apostel die Rolle der fundamentalen »Urämter«, wobei der Verfasser wahrscheinlich zum Stand der »Lehrer« gehörte. – »Wie in 2,15 der ›eine neue Mensch‹ ein Kollektiv meint (die Kirche), so ist entsprechend anēr teleios hier (4,13) Metapher für diese neue Gemeinschaft.« (344) Die textimmanente Lösung des exegetischen Problems wird also der religionsgeschichtlichen (der »vollkommene Mensch« als mythische Gestalt) vorgezogen. Die Kirche, entstanden aus ehemaligen Heiden, wird als Erbe Israels betrachtet, ihre Mitglieder sind die fr üher durch Unwissenheit (4,18) Entfremdeten (vgl. 2,12). Dadurch werden die Heiden im Vergleich zu Kol 1,21 eindeutiger entschuldigt.
Die Ethik wird summarisch (und gewagt) als »Nachahmung Gottes« gefasst, wobei die Mimesis Gottes mit Hilfe des Weges Chris ti erklärt wird (5,1–2). Der Weckruf in 5,14 drückt durch komplexe Metaphorik (Taufe, geistiges Aufwachen) die imitatio dei aus. Sie besteht letzten Endes in einer neuen ethischen Einstellung. Eigentlich handelt es sich um eine theologische und rhetorische Entfaltung von 1Thess 5,1 –11. Die Haustafel von 5,21–6,9 adaptiert die Vorlage von Kol 3,18–4,1, und in die Frau-Mann-Mahnung wird mit Hilfe des Zitats aus Gen 2,24 (LXX) ein spezifischer Hinweis auf die Inkarnation eingef ügt (Christus und die Kirche als Geheimnis, 5,31).
Ein Kommentar zum Epherserbrief mit knapp 500 Seiten steht gerade an der Grenze dessen, was noch übersichtlich und für einen breiteren Leserkreis wie Pfarrer und Vertreter anderer Fächer nützlich ist. Das Literaturverzeichnis mit 37 Seiten belegt den Umfang des Materials, das heute ber ücksichtigt werden muss. S., der dem Epheserbrief schon mehrere exegetische Studien widmete, hat in dieser Hinsicht seine Arbeit meisterhaft bew ältigt. Der Kommentar liest sich flüssig und vermittelt gute Einblicke in die Exegese und ihre Probleme. Auch die gro ße philologische Tradition des Meyerschen Kommentars wird nicht verlassen.
Dass eine Übersicht zur Wirkungsgeschichte fehlt, ist kein Nachteil, weil der Meyersche Kommentar grunds ätzlich auf dieses Gebiet der Interpretation verzichtet. Dem Leser fehlt eher eine Ortung des Epheserbriefes innerhalb der christlichen Literatur vom Ende des 1. Jh.s: Wie verh ält sich der Epheserbrief zum Kolosserbrief? Wird er als genuin paulinisch betrachtet (U. Luz)? Und wie beziehen sich die Pastoralbriefe auf ihn? S. lehnt mit Recht die Ableitung der kosmisch-spiritualistischen Tendenzen von einer älteren mythischen Tradition ab. Aber er geht nicht der interessanten Frage nach, ob solche Traditionen ein autonomes Element der Fr ömmigkeit einiger kleinasiatischer christlicher Gemeinden waren oder ob sie der Verfasser und andere Paulussch üler radikal umgedeutet haben. – Vielleicht hat dies mit der programmatischen Relativierung der diachronen Analyse des Textes zu tun. – Gefragt werden könnte auch: Wie hängt die betonte Rolle der »Mächte und Gewalten« mit den sozialen und religiös kulturellen Problemen der paulinischen Gemeinden zusammen?
Diese kritischen Bemerkungen sollen die bewundernswerte exegetische Leistung von S. nicht verschleiern.