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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

559–561

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reiprich, Torsten

Titel/Untertitel:

Das Mariageheimnis. Maria von Nazareth und die Bedeutung familiärer Beziehungen im Markusevangelium.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 336 S. m. 1 Abb. gr.8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 223. Geb. EUR 69,90. ISBN 978-3-525-53086-3.

Rezensent:

Christine Gerber

Der Titel verspricht die Lösung eines Rätsels, das bislang kaum als solches bemerkt wurde. Weiß die klassische Markusforschung um ein »Messiasgeheimnis«, so kannte nur die Mariologie ein »Mariengeheimnis«. Das »Mariageheimnis« des Markusevangeliums, so die gleich eingangs des Buches verratene These, ist der in Mk 15,40 versteckte Hinweis darauf, dass mit Maria Magdalena und anderen Frauen auch die Mutter Jesu von Ferne der Kreuzigung zusah und das Grab aufsuchte (15,47; 16,1 ff.). Der Evangelist gebe mit der Identifizierung der zweiten Maria als »Jakobus des Kleinen und Joses Mutter« (15,40) den Hinweis darauf, dass sie die Mutter Jesu sei, denn von dem hieß es in 6,3, dass Jakobus, Joses, Judas und Simon seine Brüder sind. Die Übereinstimmung in den Aufzählungen von Namen der Brüder Jesu und der Söhne der Maria (die freilich nie identisch sind) warf in der Auslegungsgeschichte schon lange die Frage auf, ob am Kreuz die Mutter Jesu genannt sei. Dagegen sprach neben der fehlenden Identifikation der Maria als Mutter Jesu (so erst Joh 19,25), je nach Konfession gewichtet, eher das Problem weiterer Kinder der semper virgo oder die Tatsache, dass sich Maria nach Mk 3,21 deutlich von ihrem Sohn distanziert hatte und ein Gesinnungswandel explizit erst für die nachösterliche Zeit belegt ist (Apg 1,14).
Die hier zu besprechende Untersuchung, die Publikationsfassung einer Greifswalder Dissertation von 2006, argumentiert für die Identität der Mutter Jesu mit der zweiten Maria beim Kreuz, aber interpretiert dies in neuer Weise als Niederschlag des ekklesiologischen Entwurfes des MkEv. Maria werde – darauf verweise die Identifizierung über die Brüder Jesu – beim Kreuz nicht mehr als leibliche Mutter Jesu genannt, sondern paradigmatisch für Menschen, die mit dem Eintritt in die Gemeinden einen Familienwechsel vollziehen, von der Herkunftsfamilie zur familia dei. Hatten die traditionellen Familienwerte Maria gehindert, in Jesus den Gottessohn zu erkennen, wurde sie später Glied der familia dei, zu der nach Jesus die gehören, die den Willen Gottes tun (3,33–35). Äußerungen Jesu, welche die Bedeutung der Familie der religiösen Überzeugung subordinieren, und das dem zweiten Evangelium spezifische Motiv des Familienwechsels (dazu besonders Mk 10,29–31) sowie, dass allein Gott die Rolle des Vaters zukomme, bestimmen nach R. das markinische Modell von Gemeinde. Der Verfasser aktualisiere so für seine Adressatenschaft, die auch als sesshafte Ge­meinde Familienkonflikte im Zusammenhang der Konversion kenne (13,12), die Nachrichten über das afamiliale Leben der »Wanderradikalen«: »Das MkEv nutzt das Motiv de r familia dei bzw. des Familienwechsels, um Nachfolge als den Wechsel in die christliche Gemeinde zu beschreiben und die egalitäre Gemeinschaft in der markinischen Gemeinde darzustellen. Anstelle der alten Familie mit ihrer patriarchalen Hierarchie steht eine Nachfolgegemeinschaft, welche sich in einer neuen Weise als Familie verstehen kann, indem sie die Rolle des pater familias unbesetzt lässt.« (228)
Diese pointierte Deutung der Maria von Mk 15,40 und der markinischen Ekklesiologie erschließt eine interessante und relevante Perspektive auf das MkEv. Dies sei ausdrücklich festgehalten, wenn nun die Durchführung dieser These in dem vorliegenden Buch kritisch vorgestellt wird. Bereits der Aufbau der Untersuchung ist verwirrend.
Das Buch stellt nach einem Referat konkurrierender Thesen zunächst in einem ersten Teil in Textanalysen die für R. zentralen Perikopen für die Bedeutung der Familie vor (1,16–20; 3,20 f.31–35; 6,1–6; 10,28–31; 13,12; 15,40 ff., aber auch 7,9–13; 10,2–12.19; 12,18–27), vor allem im Blick auf Struktur, Redaktion und intratextuelle Beziehungen. Ein zweiter Teil behandelt »Themenschwerpunkte« sehr unterschiedlicher Art: Den Ausführungen über die Bedeutung der Familien im damaligen Galiläa und über die Mitglieder der leiblichen Familie Jesu im Sinn der historischen Frage schließt sich die Begründung für die oben skizzierte Deutung der Maria in Mk 15,40 an. Dass diese voraussetzt, dass mit »Jakobus dem Kleinen« (ebd.) der sonst als »Herrenbruder« Firmierende gemeint sei, konzediert allerdings auch R. als nicht ganz lösbares Problem. Die Interpretation, dass Maria die Familie gewechselt habe und nicht mehr »über ihre Rolle als Mutter definiert« würde (285), scheint mir angesichts ihrer Identifizierung über andere leibliche Söhne fraglich. – Eigens wird dann ausführlich die Literatur der Umwelt auf Vergleichbares zur Subordination der Familienbeziehung und auf Familienwechsel durchmustert (ohne Berücksichtigung der Motivik und Literatur zum Elternehregebot). Anschließend wird entfaltet, wie sich am Thema des Familienwechsels und des Hauses die markinische Ekklesiologie zeige. In ritualtheoretischer Perspektive wird dann der Familienwechsel beleuchtet; die familia dei wird als liminale Gemeinschaft beschrieben. Das Buch schließt mit vergleichenden Blicken auf die anderen neutestamentlichen Schriften, einer Zu­sam­men­fassung und Impulsen für ein »protestantisches Marienbild«. Ein Stellenre­gister erschließt den Band. – In sprachlicher Hinsicht stören in der formal akkuraten Arbeit wiederholt Formulierungen, die Objekt- und Metaebene verwischen und so dem Evangelisten erstaunliche performative Akte zu­schreiben, wie et­wa, dass »Markus den Konflikt zwischen Jesus und seiner Familie ... geschürt hat« (74) oder zwei in der Tradition erwähnte Marias »zu einer Frau in V. 15,40 verschmolzen habe« (83).
So werden die Lesenden in Einzelfragen sehr gut informiert – über Auslegungsgeschichte, Fragen des sozialen Zusammenlebens in der Antike, historische Nachrichten über die Familie Jesu, die Bedeutung Marias, Ritualtheorie etc. – und erhalten einen »multiperspektivischen« Zugang, doch das auf Kosten der Stringenz. Die Lesefreude bremst, dass oft Aspekte erst nachträglich beleuchtet werden und die Relevanz vieler Einzelausführungen für die Ge­samtfrage nicht deutlich wird.
Die Unklarheit des Aufbaus beruht m. E. auf dem Fehlen eines übergeordneten methodischen Zugriffs. Die Untersuchung setzt erklärtermaßen redaktionsgeschichtlich an, ohne dies gegen jüngere Kritik am zirkulären Charakter der redaktionsgeschichtlichen Analyse des MkEv und Anfragen an deren Relevanz zu verteidigen. Auch zur heute verbreiteten narratologischen Interpretation des MkEv nimmt R. nicht Stellung. Doch während die kompositionskritischen Analysen bedeutsam sind, bleibt die Scheidung von Tradition und Redaktion in einzelnen Perikopen meist unerheblich. So greift R. punktuell selbst auf ein anderes Paradigma zurück, eine den Leseprozess rekonstruierende Interpretation, wenn er die ungewöhnliche Identifizierung der Maria in 15,40, das »Mariageheimnis«, plausibel als »Leerstelle« (160) deutet, da nicht erzählt wird, wann Maria zur Nachfolgerin Jesu wurde. Auch die neben den Textanalysen unverbunden stehenden, breiten sozialgeschichtlichen und kulturanthropologischen Erhebungen, die dazu dienen, das Verständnis der markinischen Gemeinde zu eruieren, ließen sich im Sinne einer semiotischen Lektüre der Textanalyse einordnen. Unverbunden stehen schließlich auch die ritologischen Perspektiven.
Und schließlich: Viele Entscheidungen zur Textentstehung werden sehr akribisch begründet, doch in ihrer Bedeutung um­strittene Begriffe und Theoreme wie »Messiasgeheimnis«, »theologia crucis« des Evangeliums oder Jesu Bezeichnung als »Gottessohn« werden ohne inhaltliche Klärung verwendet. Auch das Konzept der familia dei, das die Ekklesiologie prägen soll, greift über die Andeutungen des Textes hinaus. Während im MkEv die Gottvater-Metapher selten verwendet wird und »Familie« gar nicht als Gruppe, sondern in binären Beziehungen (Geschwister-, Eltern-Kind-Relation) sichtbar wird, stehen daneben andere ekklesiologische Bilder wie das des Dienstes (10,43–45) und die Metapher der Nachfolge Jesu, die dem Familienkonzept nicht einfach subsumiert werden sollten. In diesen Fragen schlägt sich nieder, dass die Breite der Thematik oft auf Kosten der genauen Wahrnehmung geht: des Wortlauts der Texte, des Zusammenhangs der Ekklesiologie mit der Christologie und wichtiger neuerer Literatur, sowohl zur Frage der Familienrelationen und -metaphern im Neuen Testament wie zur Auslegung des MkEv. Gleichwohl ist die These der Arbeit anregend und wird die Erforschung des zweiten Evangeliums und die Frage nach der Bedeutung von Familien in der Welt des frühen Christentums weiterführen.