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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

501-502

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Witschen, Dieter

Titel/Untertitel:

Mehr als die Pflicht. Studien zu supererogatorischen Handlungen und ethischen Idealen.

Verlag:

Freiburg: Freiburg Academic Press; Freiburg-Wien: Herder 2006. 216 S. gr.8° = Studien zur Theologischen Ethik, 114. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7278-1547-8 (Freiburg Academic Press); 978-3-451-29159-3 (Herder).

Rezensent:

Stephan Schleissing

Eine Person spendet zu Lebzeiten einem ihr unbekannten Dialysepatienten eine Niere. Der Ordensmann Maximilian Kolbe opfert im Konzentrationslager Auschwitz sein Leben für das Leben eines Familienvaters. Menschen, die sich so verhalten, verdienen unser Lob vor allem deshalb, weil sie etwas tun, das nicht von ihnen gefordert werden kann. In der moraltheologischen Tradition hat sich dafür im Anschluss an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter der Begriff der supererogatorischen Handlung eingebürgert. Supererogatorisch handelt, wer aus eigener Initiative mehr (und anderes) als seine moralische Pflicht tut. Seit der reformatorischen Kritik an der Unterscheidung zwischen Geboten und Räten fand dieser Handlungstyp außerhalb der katholischen Moraltheologie kaum mehr Beachtung. Das hat sich in der neueren Ethik, insbesondere analytischer Provenienz, geändert. Seit J. O. Urmsons bahnbrechendem Artikel »Saints and Heroes« (1958) erlebt das Thema der supererogatorischen Handlungen eine Renaissance gerade auch in der säkularen Ethik.
Dieter Witschen, seit 1986 Mitarbeiter beim Bischöflichen Offizialat Osnabrück, macht es sich in seiner jüngsten Buchpublikation zur Aufgabe, supererogatorische Handlungen »als eine normativ-ethische Kategorie sui generis« (29) zu erweisen. »Mehr als die Pflicht« ist eine Sammlung von Artikeln, die zwischen 1999 und 2006 veröffentlicht worden sind. W. unterteilt sie in solche, die sich mit Grundsatzfragen der Supererogation beschäftigen, und hebt davon exemplarische Veranschaulichungen (barmherzig handeln; verzeihen; zu Lebzeiten ein Organ spenden; die Menschenrechte verteidigen; Gewaltlosigkeit) ab. Abgerundet wird das Buch mit zwei historischen Studien zu Thomas von Aquin und Immanuel Kant. Das Buch bietet einen guten Überblick über ein Spezialgebiet der neueren tugendethischen Diskussion, die sich mit dem Phänomen des »hochethischen Handelns« beschäftigt.
W. bestreitet, dass die übliche Dreiteilung der ethischen Modalitäten geboten/verboten/erlaubt das Phänomen der »moralischen Größe« (40) von Menschen wie Mutter Theresa oder Janusz Korczak zutreffend beschreiben können. Als Merkmale supererogatorischer Handlungen führt er an, dass diese 1. als Geratene nicht geboten, sondern optional sind, 2. ihre Durchführung Lob verdient, ihre Unterlassung aber keinen Tadel begründet, 3. sie das moralisch Pflichtgemäße transzendieren, 4. zugleich gravierende persönliche Nachteile bzw. Opfer mit sich bringen, 5. freiwillig und insofern nur individuell möglich sind, und 6. zumeist in einem persönlichen Ideal begründet sind. In der Figur des Heiligen hat ein Mensch, der supererogatorisch handelt, nach W. seine Personifi­zierung gefunden. Als Kern der gegenwärtigen Kontroverse identifiziert er die Frage, »ob derartige Handlungsweisen nur geraten werden können, weil sie den Bereich moralischer Verpflichtung übersteigen, sodass ihre Unterlassung auch nicht zu tadeln ist, oder ob sie trotz ihrer signifikanten Merkmale als moralisch geboten zu betrachten sind.« (22) Zentral für die Beantwortung dieser Frage ist nach W. die Akteur-Beobachter-Differenz, mit der er faktisch das scholastische Modell der Zwei-Stufen-Ethik perspektivisch umformuliert. Anhand der Logik der Vorzugswahl macht er deutlich, dass supererogatorische Handlungen nur aus der Perspektive des Beobachters gegeben sind. Aus der Akteursperspektive erscheinen sie immer als unbedingt verpflichtend. Aber ist es dann nicht ausreichend, sie im Rahmen einer differenzierten Pflichtenlehre zu kategorisieren, wofür sich etwa die kantische Kategorie der Tu­gendpflichten bzw. die der unvollkommenen Pflichten anböte? Nach W. übersieht eine derartige Einordnung, dass supererogatorische Handlungen im Unterschied zu Tugendpflichten dadurch definiert sind, dass ihr Adressat darauf keinen Anspruch hat. Auch wenn die Übergänge zumeist nur graduell sind und die Merkmale der Supererogation nur kumulativ, situativ und höchst individuell zu bestimmen sind, ist es für derartige Handlungen konstitutiv, dass ihre Verbindlichkeit sich rein aus einem Ideal, etwa der unbedingten Achtung des Mitmenschen, herleitet.
W. ist zuzustimmen, wenn er hervorhebt, dass die Qualifizierung moralischen Handelns allein entlang des Pflichtbegriffs die ihnen zu Grunde liegenden moralischen Intuitionen verkürzt. Offen bleibt jedoch, ob seine rekonstruktive Methode innerhalb einer normativen Ethik tatsächlich einen eigenständigen Handlungstypus zu begründen vermag. Auf Grund der von ihm eingeführten Akteur-Beobachter-Differenz erweitert er diese faktisch um eine deskriptive und hermeneutische Dimension. In dieser Sicht geht es dann aber vor allem um das Verstehen der situationsbedingten Handlungssicht des Akteurs und sein ihn leitendes Handlungsideal, dessen Verbindlichkeit nicht einfach mit den Kategorien der Moral angemessen erfasst und normiert werden kann. In deutlicher Absetzung von bloß normativen Ansprüchen thematisiert die theologische Unterscheidung zwischen Glauben und Handeln hier eine genuin freiheitsermöglichende Dimension, weil sie die normative Ethik auf dasjenige begrenzt, was jedem zur Pflicht gemacht werden kann.