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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

448-450

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kirby, Torrance W. J.

Titel/Untertitel:

The Zurich Connection and Tudor Polit­ical Theology.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. XIV, 283 S. gr.8° = Studies in the History of Christian Traditions, 131. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-15618-0.

Rezensent:

Martin Ohst

In ihrer dominierenden anglokatholischen Selbstdeutung versteht sich die Anglikanische Kirche bekanntlich als eine Größe ganz eigener Art, die, von beiden jeweils die besseren Möglichkeiten realisierend, zwischen der Römisch-katholischen und den Kirchen der Reformation steht. Seit ihren Anfängen im 16. Jh. habe sie unter Anknüpfung an die wertvollsten Überlieferungen der christlichen Antike diesen Kurs (»via media«) eingeschlagen und verfolgt. Hiergegen erhebt Kirby, Professor für Kirchengeschichte an der McGill University in Montreal, temperamentvoll Einspruch: Es handle sich bei dieser Konstruktion um eine Tendenzlegende aus der Oxford-Bewegung des 19. Jh.s (»the old Tractarian canard«, 217, vgl. auch 6).
Anfangs und gemäß den Bestrebungen ihrer maßgeblichen Begründer sei die Anglikanische Kirche nicht nur in der Lehre (39 Articles), sondern auch in ihrer Rechtsgestalt, insbesondere in ihrer Einfügung in die königlich-parlamentarische Herrschaft, schlicht eine Reformationskirche gewesen. Begründet wird diese These in fünf Einzelstudien zu zwei Protagonisten der Oberdeutschen/ Schweizer Reformation, die im Zeitalter der Kinder Heinrichs VIII. in der kirchlichen Entwicklung Englands einflussreich waren: Heinrich Bullinger, als Zürcher Antistes mehr als 40 Jahre lang Zwinglis Nachfolger, bot in seiner Stadt und seinem Hause vielen englischen Glaubensflüchtlingen, insbesondere »Marian Exiles« (1553–58) Aufnahme, und auch deshalb war sein Rat bei den reformatorisch Gesinnten in England höchst begehrt. Petrus Martyr Vermigli, der als Sympathisant der Reformation 1542 aus seiner Heimat Italien hatte weichen müssen, erlebte, durch das Interim aus Straßburg vertrieben, als Oxforder Professor 1547–53 wohl den Zenit seiner wendungsreichen Laufbahn und blieb auch nach seinem Weggang aus England bei Thronbesteigung der katholischen Maria ein begehrter theologischer und kirchenpolitischer Ratgeber.
Im Zentrum der Einzelstudien steht jeweils ein Text dieser Autoren, der zunächst gründlich interpretiert und dann vollständig abgedruckt wird. Bullinger bezeichnet K. als »prophet of the Royal Supremacy« (27), der sich auch schon in den Auseinandersetzungen in der Kurpfalz für die kirchlichen Rechte und Kompetenzen des Landesherren verwandt hatte (»Erastianism«, 37 f.). Von ihm stellt er eine Predigt aus seinen »Sermonum Decades quinque« vor, die, 1552 zuerst gedruckt, 1577 auch auf Englisch erschienen und einen »quasi canonical status« im elisabethanischen England erlangten. Die Predigt »Of the Office of the Magistrate« schärft der weltlichen Obrigkeit die Fürsorgepflicht nicht nur für die weltliche, sondern auch für die geistliche Wohlfahrt der Untertanen ein; Bullinger begründet diese nicht allein durch Exempel aus der Geschichte, sondern auch durch den Verweis auf eine statutarische göttliche Bundesverpflichtung, die in allen geschichtlichen Zeitaltern Gültigkeit hat. In England wirkte der Text als autoritatives Zeugnis eines hoch angesehenen reformatorischen Theologen ge­gen die puritanischen Bestrebungen zur Einführung einer Kirchenverfassung nach Genfer Muster.
Die folgenden drei Texte, die K. vorstellt, stammen von Vermigli: Eine Scholie aus dessen Kommentar über die Samuelisbücher (lateinisch 1564, englisch 1583) verficht ebenfalls die Einheit des weltlichen und des kirchlichen Regiments im Fürsten, tut dies jedoch in einer anderen Stoßrichtung: Im Rückgriff auf die Staatslehre des Aristoteles und auf die augustinische Unterscheidung von Gottesreich und Weltreich argumentiert er gegen die Zwei-Schwerter-Lehre und ihre Überordnung der geistlichen über die weltliche Gewalt. Besonders interessant ist K.s Verweis auf eine Passage aus R. Hookers »Laws of Ecclesiastical Polity«, die sich so liest, als habe dieser Vermiglis Text vor Augen gehabt (69 mit Anm. 39).
In einen ganz anderen Zusammenhang führt der nächste Text: Es handelt sich um eine Abhandlung Vermiglis, welche dann Thomas Cranmer, wie K. nachweist, wörtlich als Predigt übernommen hat, als 1549 in Devon einen Bauernaufstand losgebrochen war, der sich zugleich gegen die kirchlichen Reformmaßnahmen und gegen die bauernfeindlichen Machenschaften der Grundbesitzer (»enclosures« – Nutzung von Allmenden als Weideland für Schafe) gerichtet hatte. Der Gattung nach handelt es sich um eine Buß­predigt, die primär den Herrschenden, insbesondere dem Herzog von Somerset als dem Vormund des minderjährigen Königs Ed­ward VII., ihre Versäumnisse aufrückt: Die kirchlichen Reformmaßnahmen sind seitens der Krone nur zu langsam und zu halbherzig erfolgt, denn sie trägt dafür die Verantwortung, dass die öffentliche Religion im Lande den biblischen Vorgaben gemäß gestaltet wird, und somit auch dafür, dass die Untertanen gehorchen und der Adel sich in den Schranken seiner Rechte hält.
1558 bestieg Elisabeth I. nach dem Tode ihrer katholischen Schwester Maria den Thron, und aus Zürich wandte sich Vermigli mit einem Huldigungsbrief an die Monarchin. Die Wechselfälle im Schicksal der Tochter der hingerichteten Anne Boleyn deutet er theologisch nach dem Muster von Tod und Auferstehung Jesu Christi. Ihre Erhebung auf den Thron nach den Demütigungen der Gefangenschaft hält er der Monarchin als Verpflichtung gerade auf ihre geistlichen Aufgaben vor Augen: Wer, wenn nicht die Monarchin, soll Abhilfe schaffen, wenn die Geistlichen ihre Pflichten nicht erfüllen und stattdessen ein nutzloses Zeremonienwesen konservieren? David hat hier eingegriffen, indem er selber zugriff und die Bundeslade trug, und er kann und muss damit jedem Herrscher Vorbild sein. Reiche, deren Herrscher sich von Gottes Willen, wie er im Gesetz kodifiziert ist, leiten lassen, gedeihen auch militärisch, politisch und wirtschaftlich – diese deuteronomistische Logik der innerweltlichen Lohnerwartung für gesetzeskonformes Handeln durchzieht als Roter Faden alle Texte, die K. präsentiert und interpretiert, und hierher gehört auch der Gedanke, dass das englische Volk in besonderer Weise von Gott zu seinem religiös-politischen Beruf in der Welt erwählt ist. Mit dem Geheimnis der göttlichen Gnadenwahl hat dieser ganze Gedankengang, das sei nebenher bemerkt, gar nichts zu tun, denn er fasst den Einzelnen, darin ganz alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit verhaftet, allein als Glied der historisch-biologischen Einheit »Volk« ins Auge.
Der letzte Text stammt wieder aus der Feder Bullingers – ein offener Brief an einige englische Bischöfe über die umstrittene Frage der Zulässigkeit der vom königlichen Kirchenregiment angeordneten traditionellen liturgischen Gewänder und Riten (»Vestarian Controversy«). Bullinger lässt auf der einen Seite keinen Zweifel daran, dass er von alledem gar nichts hält. Aber er stuft diese Dinge als Adiaphora ein, und deswegen fordert er seine englischen Le­ser auf, sich in der Hoffnung auf spätere Besserung den einschlägigen königlichen Anordnungen zu fügen – diese Äußerlichkeiten sind es nicht wert, dass man um ihretwillen den Dienst in einem dogmatisch in der Wurzel gesunden Kirchentum verweigert.
So weit der kurze Überblick über den materialen Gehalt von K.s ungewöhnlich interessantem und lesenswertem Buch. Das Be­weisziel sei noch einmal in Erinnerung gerufen: Es soll gezeigt werden, dass die Anglikanische Kirche, wie sie nach stockenden Ansätzen unter Heinrich VIII. und Eduard VII. unter Elisabeth I. ihre erste Gestalt fand, wesentlich protestantisch war. Gezeigt hat K. so viel: Zwei in England und auf dem Kontinent höchst einflussreiche Theologen haben die in diesen Jahren befestigte Herrschaft von Krone und Parlament in der englischen Kirche gebilligt und, soviel an ihnen war, publizistisch gefördert. Dass sie dafür gerade aus der besonders prekären schweizerischen bzw. oberdeutschen Situation heraus auch zwingende politisch-pragmatische Gründe hatten, bleibt unberücksichtigt. Wichtiger ist aber Folgendes: Gerade in England war die straffe Einordnung der kirchlichen Institutionen in die Herrschaft von König und Parlament keine reformatorische Erfindung, sondern ein kontinuierlicher Prozess seit der normannischen Eroberung: Die gregorianische Idee der Kirchenfreiheit hatte zwar in England mit Thomas Beckett einen ihrer berühmtes­ten Märtyrer, aber sonst keine Erfolge. Der Widerstand, den Heinrich VIII. fand, als er die letzten Reste institutioneller kirchlicher Eigenrechte kassierte, war bekanntlich erstaunlich gering. Und als seine älteste Tochter Maria versuchte, gewaltsam das Rad zurück­zudrehen, machte sie keinerlei Anstalten, die Herrschaft über die Kirche, die sie von ihrem Vater und ihrem Halbbruder geerbt hatte, wieder aus den Händen zu geben: Reginald Pole war »ihr« Erzbischof von Canterbury, wie Cranmer der Heinrichs und Eduards gewesen war. Schon bei den frühen englischen Protagonisten der Reformation hätten Bullinger und Vermigli mit ihrem Beharren auf das Recht des Monarchen in der Kirche offene Türen eingerannt: Die Ausführungen William Tyndales in »The Obedience of a Christian Man« (1527/28) verweisen auf die Bibel und den Monarchen als die beiden Instanzen, die in der Kirche die Herrschaft üben sollen – genau wie später Bullinger und Vermigli. Und es bleiben hier wie später dieselben Fragen offen, welche dann seit dem Streit um die liturgischen Kleider virulent wurden und in dessen Folge dazu führten, dass der bischöflichen Kirchenverfassung das Programm der presbyterial-synodalen gegenübertrat. Und auch deren Gegner, die sich bis zur Behauptung des göttlichen Rechts der bischöflichen Kirchenverfassung verstiegen, hielten an der Herrschaft der Krone in der Kirche unbeugsam fest (William Laud).
Kurz: K. weist nach, dass Bullinger und Vermigli eine gerade in England breit und tief verwurzelte Tendenz, die im Entstehen der Anglikanischen Kirche wirksam war, effektiv unterstützt haben. Andere Strömungen und Tendenzen bleiben außer Betracht – so der humanistische Konservativismus eines Cranmer oder auch eines John Jewel, der in K.s Buch immer nur als treuer Epigone der Zürcher vorkommt, nicht jedoch als beredter, an der christlichen Spätantike sich orientierender Apologet gerade der bischöflich verfassten Kirche in königlicher Regie. Bezieht man all das mit ein, dann wird deutlich, dass die Rede von der anglikanischen »via media« wohl doch mehr ist als eine bloße alte »Zeitungsente«.