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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1041–1043

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Speyer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Religionsgeschichtliche Studien

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 1995. XIX, 221 S. gr. 8° = Collectanea, 15. Lw. DM 98,­. ISBN 3-487-09993-4

Rezensent:

Christoph Auffarth

Nach dem ersten Band von Aufsätzen, erschienen als "Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld" 1989, erlaubt der nun veröffentlichte Band das schnelle Auffinden und den Überblick über das Lebenswerk des Salzburger Gelehrten. Eine Gesamtbibliographie (197-206) dokumentiert seine Veröffentlichungen. Die jetzt gesammelten Arbeiten sind bis auf zwei nach dem ersten Aufsatzband erschienen. Die Nachdrucke im originalen Satzbild (und doppelter Paginierung) sind teilweise in einem Anhang, auf sieben Seiten, durch neue Anmerkungen aktualisiert. Erfreulicherweise erschließen sich durch ein Personen- und Sachregister Einzelheiten und Querverweise.

Das stupende Wissen, das Speyer in den (bislang 22) Artikeln für das Reallexikon für Antike und Christentum in der Askese des Enzyklopädisten ausgebreitet hat, war begleitet von Aufsätzen, die oft ähnliche Themen in einen größeren Zusammenhang stellen. Eines dieser Themen war das Entdecken, Verstecken und Vernichten von Büchern, die unersetzliches Wissen, Gottes Offenbarung an Menschen zumeist, enthielten. Die Habilitationsschrift "Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike" (1970) und das Handbuch "Literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum" (1971) galten diesem Thema. Es ist auch hier in vier Aufsätzen aufgenommen: Geheimgehaltene Überlieferungen und Schriften der Antike (9-27); Das Buch als magischer Kraftträger im griechischen und römischen Altertum (28-55) und Das Hören einer göttlichen Stimme. Zur Offenbarung und zu Heiligen Schriften im frühen Rom (75-95). Dazu zur romantischen Aufnahme des Motivs Das entdeckte heilige Buch in Novalis´ Gedicht An Tieck (163-171). Man liest erstaunliche Schlußfolgerungen: "Viele rationalistische Aufklärer alter und neuer Zeit können sich Religion nur als absichtsvolles und zweckhaftes Handeln des Menschen vorstellen und sprechen deshalb überall dort von frommem Betrug, pia fraus, wo sich der religiöse Mensch auf die göttliche Autorität beruft." Fiele auch der moderne Diktator darunter, wenn er sich auf die göttliche Vorsehung berief? Doch der verfällt eher dem Verdikt, das Augustus gilt (81): "der geniale Regisseur und Heuchler".

Und wahrscheinlich ist Numa nicht als historische Gestalt zu sehen, sondern sollte als personifizierter Nomos eine umstrittene Gesetzgebung rechtfertigen durch die Fiktion eines uralten und von Gott beauftragten Königs. Der eine war ein "religiöser Mensch", der andere ein "Heuchler": Wer kann das eigentlich bestimmen und nach welchem Kriterium? Der Historiker der Religion wird so zum Weltrichter. Ein Vergleich ("das Weiterwachsen der sakralen Gesetzgebung und sakralen Wissenschaft [sic] ist in Rom und Etrurien ähnlich erfolgt wie im alten Israel, wo die Offenbarung der Zehn-Gebote... an Mose sozusagen den Kern... der gesamten auf Mose zurückgeführten Gesetzgebung bildet" 84 f.), beweist nicht die Wahrheit der Offenbarung der Gesetze an Numa, sondern daß Speyer die alttestamentliche Forschung nicht ernstnimmt; vgl. Frank Crüsemann: Die Tora (1992) oder auch die Diskussion nach Kurt Lattes "Heiligem Recht" (1926) nicht mehr verfolgt hat.

Ein zweites Thema ist in der Gestalt des Heros/Heiligen zu erkennen, deren historische Unterschiede verwischt werden durch eine gemeinsame, überhistorische Kategorie: der numinose Mensch oder gar der "Übermensch" (97 u. ö.). Auch dabei wird deutlich, daß wir es hier nicht mit einer Geschichtswissenschaft, sondern mit einer historisierenden "Theologie" zu tun haben. ­ "Derjenige, der verwundet hat, wird auch heilen." (1-8); Der numinose Mensch als Mittler und Bürge der Lebensordnungen (96-105); Die Verehrung des Heroen, des göttlichen Menschen und des christlichen Heiligen (106-124). Die Frage nach der Grenze von Leben und Tod behandeln die Aufsätze Christliche Ehrfurcht vor dem Leben und antike Scheu vor Leben und Tod Einblicke in die Mysterien von Eleusis (56-74)

Mit der Besprechung der Schöpfungsvorstellung stellt Speyer mit Nietzsche dem teleologischen Denken (in Anm. 3 auf S. 141 schlicht "Inhalt des Alten und Neuen Testaments") das antike Denken von der ewigen Wiederkehr des Gleichen entgegen (so auch S. XVI und Register s. v. "Kreislauf"). Der entschiedene Widerspruch, daß Nietzsches Belege konstruiert sind und keineswegs "das antike Denken" wiedergeben, muß einmal mehr erinnert werden, vgl. Hubert Cancik: Nietzsches Antike (1995), 107-121. Zwei Aufsätze besprechen Kosmische Mächte im Bibelepos des Dracontius (141-151); Die Erschaffung von Meer und Erde Gen. 1,9 f. 13 und Dracontius, De laudibus Dei 1. 149-166 (152-162). Mit bildlichen Darstellungen beschäftigen sich schließlich Murillos Halbfigurenbild der Inmaculada auf der Mondsichel...(172-183); Die drei monotheistischen Weltreligionen im Gespräch. Zu einem unbekannten Bild des Quattrocento (184-188).

Neu für diesen Band hat Speyer eine Einführung geschrieben Die Religion und die geschichtlichen Religionen (XI-XIX). Um die Unterscheidung treffen zu können zwischen dem, was historisch bedingt und was unbedingt, religiös ist, muß er vom Religionshistoriker verlangen, daß er "sich einfühlend versenke" (XVIII), nur das sei sachgemäß. In der Tat: Wenn man Religion so enthistorisiert und subjektiviert, "ist keine verbindliche wissenschaftliche Aussage möglich" (92), weil sie nicht gewollt ist. Trotz aller Gelehrsamkeit, hier findet man "Glaubenswerbung" für die "archaische" Religion, deren moderne Gegenstücke in der "ganzheitlichen Anschauung", in der Anthroposophie (explizit XVI, Anm. 16), bei Goethe und Nietzsche gesehen werden; ihr Prediger findet seine Sicht der Religion in den antiken Religionen wieder, mehr noch: "Die alten Kulturen sind insgesamt, seien sie Ursprungs- oder Hochkulturen, Ausdruck dieser religiösen Haltung" (XVII). Die Antike als ganze wird archaisiert und sakralisiert. Hier werden Religionen nicht analytisch untersucht und in ihrer historischen und sozialen Bedingung beschrieben, hier wird eine Religion betrieben, die es so ­ als historische Religion ­ nicht gab und nicht gibt. Man greift doch besser zu den enzyklopädischen Arbeiten des Vf.s, um sich belehren, nicht verzaubern zu lassen.