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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1036–1038

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kippenberg, Hans G. and Guy G. Stroumsa [Eds.]

Titel/Untertitel:

Secrecy and Concealment. Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. XXIV, 406 S. 10 Abb. gr. 8° = Studies in the History of Religions, 65. Lw. hfl. 175.­. ISBN 90-04-10235-3

Rezensent:

Jörg Rüppke

In einem gewichtigen Band haben die Bremer und Jerusalemer Religionswissenschaftler Kippenberg und Stroumsa die Beiträge einer Tagung zum Thema Geheimnis in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg (1993) der Öffentlichkeit vorgelegt. Diese Beiträge reichen vom alten Ägypten bis in den schiitischen Islam und die Kabbala, konzentrieren sich aber auf die Religionen der griechisch-römischen Antike.

Die Reihe eröffnet Brigitta Nedelmann ("Geheimhaltung, Verheimlichung, Geheimnis ­ einige soziologische Vorüberlegungen", 1-16) mit einer Rekonstruktion der Geheimnistheorie Georg Simmels. Soziologisch relevant ist nicht das absolute, sondern das von anderen geteilte, und so diese als Gruppe konstituierende relative Geheimnis. Solche Geheimhaltung kann, wie spätere Beiträge zeigen, ein Schutzmechanismus sein: Das Faktum des Geheimnisbesitzes wird selbst geheim gehalten. Dieser Besitz eröffnet der Gruppe (oder einzelnen) aber auch "aggressivere" Strategien. Der anderen bekannte Geheimnisbesitz, offene "Verheimlichung" also, stellt eine Form von Macht, eine Differenzierungsstrategie dar, die sich durch Enthüllung auch gegen die eigene Gruppe richten kann und dem Individuum Freiräume und Identität in Abgrenzung von seinen Rollen verschafft.

Der Beleuchtung der Innenseite des Geheimnisses folgt die komplementäre Analyse Burkhard Gladigows ("Struktur der Öffentlichkeit und Bekenntnis in polytheistischen Religionen", 17-35), der die Außenseite, den Öffentlichkeitsbegriff historisiert: Welche religiösen Öffentlichkeiten bestehen in den komplexen antiken Hochkulturen überhaupt? Wo ergeben sich an der Außengrenze solcher (Teil-)Öffentlichkeiten, wo im Inneren Konflikte durch einander ausschließende religiöse Ansprüche? In welchem Maß ist individuelle Wahl akzeptabel ­ in der Außen- wie Innenperspektive? Daß die Verknüpfung mit der Geheimnisperspektive nicht explizit wird, erschwert die Rezeption dieses Aufsatzes, zumal seine Anstöße in den folgenden Beiträgen kaum aufgegriffen werden.

Gleich drei Beiträge (Jan N. Bremmer, "Religious Secrets and Secrecy in Classical Greece", 61-78; Walter Burkert, "Der geheime Reiz des Verborgenen: Antike Mysterienkulte", 79-100; Luther H. Martin, "Secrecy in Hellenistic Religious Communities", 101-121, mit bedenkenswerten forschungskritischen Anmerkungen zur Attraktivität des Themas "Geheimnis") gelten der griechischen Polisreligion. Sie alle zeigen, daß "Geheimnisse" (Pythagoräer, Mysterien) nicht unbekannte (aber wichtige) Inhalte, sondern die Form des Umgangs mit ­ vor allem ­ Ritualen bezeichnen und so verschiedenste soziale Funktionen, insbesondere Selbstaufwertung und Abgrenzung, wahrnehmen können.

Eine wichtige Rolle spielt das Postulieren von geheimen Lehren und Bedeutungen als hermeneutisches Prinzip im Umgang mit schriftlich fixierten Traditionen: Die interpretierende Erschließung der unterstellten Geheimnisse stellt, ob im Platonismus oder Judentum, ein leistungsfähiges, aber durchaus regelgesteuertes Veränderungsinstrument dar (Robert Lamberton, "The apórretos theoría and the Roles of Secrecy in the History of Platonism", 139-152; Moshe Idel, "Secrecy, Binah and Derishah", 311-343). Daß Texte selbst auf eine solche Auslegungsstrategie hin produziert werden, sieht Lamberton schon mit der Orphik gegeben (150); Renate Schlesier ("Maskierte Texte. Religiöse Anspielung und Verheimlichung in der Griechischen Tragödie", 123-138) sieht in den von ihr untersuchten Texten und deren Interpretationsbedarf einen Anspruch auf Deutung der Mysterien und Kritik am philosophischen Mythendiskurs, doch wird das reale Funktionieren als Meta-Öffentlichkeit m. E. nicht schlüssig belegt.

In der ägyptischen Kultur spielt Geheimhaltung keine große Rolle. Hans-Dieter Betz ("Secrecy in the Greek Magical Papyri", 153-175) zeigt, wie es erst über die Rezeption hellenistischer Vorstellungen von der Macht der Götter bzw. des Göttlichen zur Aufnahme von und zunehmender Konzentration auf geheime göttliche Namen in den Zauberpapyri kommt ­ ein Prozeß, der mit einer Professionalisierung der zuständigen Spezialisten einhergeht. Dagegen bleiben in dem Beitrag von Jan Assmann ("Unio liturgica. Die kultische Einstimmung in götterweltlichen Lobpreis als Grundmotiv", 37-60) die Motive für eine Beschränkung "esoterischer" Tendenzen (dieser und andere Begriffe bleiben hier vage) auf wenige Sonnenhymnen unklar; Assmanns an unio mystica anknüpfender Begriff unio liturgica verdeckt mit seinen Assoziationen gerade die entscheidenden kommunikativen Strategien der sich unter die Götter rechnenden Beter.

In einem sehr knappen, ganz historisch orientierten Beitrag macht Hubert Cancik ("Occulte adhuc colunt. Repression und Metamorphose der römischen Religion in der Spätantike", 191-201) auf das Phänomen der erzwungenen Heimlichkeit aufmerksam. Etan Kohlberg ("Taqiyya in Shi´i Theology and Religion", 345-380) zeigt die Konsequenzen auf, die eine politisch erzwungene Verheimlichung der eigenen religiösen Option langfristig haben kann: Die notwendige Legitimierung solchen Verhaltens kann es zu einem Ziel an sich, zu einem inneren Differenzierungskriterium werden lassen ­ die ständig schrumpfende Öffentlichkeit hat die Proliferation neuer Geheimnisse kaum noch im Griff.

Von verschiedenen Seiten her beleuchtet die letzte Gruppe von Beiträgen die ambivalente Situation des frühen Christentums. Schon für das früheste Evangelium macht Gerd Theißen ("Die pragmatische Bedeutung der Geheimnismotive im Markusevangelium. Ein wissenssoziologischer Versuch", 225-245) eine Geheimhaltungsparänese wahrscheinlich, die einer Verheimlichung gegenüber der nichtchristlichen Öffentlichkeit das Wort redet, aber zugleich deren Scheitern einkalkuliert und auf die daraus erwachsenden Gefahren vorbereitet. Daß zu offenes Bekennen nur den römischen Ermittlungsinstanzen in die Arme arbeitete, die nach Verschwörungsnetzen, nicht einzelnen "Häretikern" suchten, zeigt Dieter Georgi ("Das Problem des Martyriums bei Basilides: Vermeiden oder Verbergen?", 247-264), geht aber doch zu weit, wenn er systematische Widersprüche im Werk des Basilides (bzw. dessen Rekonstruktion) auf das Motiv, die "Polizei" verwirren zu wollen, zurückführt (immerhin ist Kurt Rudolphs These schlüssig, daß das Irreführen der Öffentlichkeit in dualistischen Systemen leichter zu rechtfertigen ist ["Geheimnis und Geheimhaltung in der antiken Gnosis und im Manichäismus", 265-287]). Wie differenziert die Situation gerade vor einem jüdischen Hintergrund betrachtet werden muß, der einerseits esoterische Traditionen kennt, andererseits das öffentliche Leben nach den väterlichen Gesetzen als erkämpfenswertes Rechtsgut betrachtet, zeigen zwei weitere Beiträge (Guy G. Stroumsa, "From Esotericism to Mysticism in Early Christianity", 289-309; Hans G. Kippenberg, "Erstrebenswertes Prestige oder falscher Schein? Das öffentliche Ansehen des Gerechten in jüdisch-frühchristlichen Auseinandersetzungen", 203-224).

Moshe Barasch erweitert im letzten Beitrag den Horizont auf die Ikonographie ("How the Hidden Becomes Visible", 381-402), kann aber in seiner Interpretation von Erhebungsgesten den Unterschied zwischen bloßer Emphase und Entheimlichung, Offenbarung, nicht sichern.

Der Band als ganzes versammelt eine große Zahl guter Fallstudien zu einem fruchtbaren Thema. Systematisch fehlt etwas Impetus; die Gliederung der Beiträge in Poly- und Monotheismus ist oberflächlich, sie wird in der Einleitung nicht hinreichend begründet. Das hat auch mit der Form der Beiträge zu tun, die sich auf das Tagungsthema und nicht aufeinander oder eine gemeinsame Systematik beziehen ­ die eine abschließende Einleitung der Hgg. nicht nachträglich herstellen kann. Daß ein alle Beiträge gemeinsam erschließendes Sachregister fehlt, ist so nur konsequent ­ aber dennoch schade.