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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

156-158

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Teppler, Yaakov Y.

Titel/Untertitel:

Birkat haMinim. Jews and Christians in Conflict in the Ancient World. Transl. by S. Weingarten.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. X, 413 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 120. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149350-8.

Rezensent:

Clemens Leonhard

Die Studie ist eine Übersetzung der Dissertation des Vf.s (Tel Aviv 2004). Sie bearbeitet den Ursprung, die Funktion und die frühe Geschichte der Birkat ha-Minim, der 12. Benediktion des Achtzehngebets, die in seiner Version für die Wochentage enthalten ist.
Nach einem Problemaufriss und der Erstellung einer Hypothese über den ältesten philologisch erreichbaren Text (9–132) bildet die Bestimmung der sozialen und religiösen Identität der minim auf der Basis der ältesten rabbinischen Quellen (aus dem – oder über das – 2./3. Jh.) den Kern der Arbeit (133–347). Nach einem Überblick über Spuren der Birkat ha-Minim in christlichen Texten (348–359) folgt die Zusammenfassung der Studie. In zwei Anhängen sind Fassungen der Birkat ha-Minim in Hebräisch beigegeben. Bibliographie und Indizes schließen das Werk ab.
Methodisch steht jede Erörterung der Birkat ha-Minim vor dem Problem, dass die Gebetstexte erst in mittelalterlichen Handschriften überliefert sind und dass sich in der älteren rabbinischen Literatur nur kursorische Hinweise darauf finden. Gerade Darstellungen der frühen Geschichte der Gebete sind daher auf Rekonstruktionen angewiesen. Der Vf. versucht zuerst, durch den Vergleich der mittelalterlichen Versionen möglichst alte Elemente in den überlieferten Texten zu identifizieren und diese danach mit seinen Analysen der rabbinischen Literatur in Beziehung zu setzen. Entlang einer Studie von Bedeutung und Hintergrund der wichtigsten Bezeichnungen für die in der Birkat ha-Minim geschmähten Gruppen ( minim, notsrim et al.) werden Thesen über die Urfassung der Birkat ha-Minim und ihre Entstehung erstellt.
Der Vf. arbeitet mit publizierten Quellen. Die Studie zur Textüberlieferung der Birkat ha-Minim von Uri Ehrlich und Ruth Langer, The Earliest Text of the Birkat Haminim: HUCA 76 (2005), 63–112, erschien zu spät, um Berücksichtigung zu finden. Die Beobachtungen zum Text der Birkat ha-Minim und der Aufteilung der Handschriften auf den palästinischen oder babylonischen Ritus müssen daher nach den Ergebnissen dieses Aufsatzes korrigiert werden. – Bei der Analyse der Frühgeschichte der Birkat ha-Minim fehlt eine Auseinandersetzung mit Ansätzen wie dem von Seth Schwartz (Imperialism and Jewish Society, 2001), die für diese Epoche die vom Vf. angenommene, breite Repräsentativität rabbinscher Quellen in Frage stellen. Der Vf. schließt z. B. aus der Tatsache, dass Justin von einer Verfluchung der Christen durch Juden spricht, aber nicht den Begriff notsrim (der im mittelalterlichen Hebräisch »Christen« meint und in manchen Rezensionen der Birkat ha-Minim vorkommt; 51–53.357–359) erwähnt, dass dieser Begriff nicht in der Urfassung der Birkat ha-Minim enthalten war. Dass es eine Urfassung gegeben hat und dass diese im 2. Jh. praktisch von allen Juden benützt wurde und ihren Gesprächspartnern bestens bekannt war, ist vorausgesetzt.
Im Allgemeinen hätte auch der Umgang mit rabbinischen und liturgischen Texten intensiver mit neueren Ansätzen ins Gespräch gebracht werden können. Die Untersuchung reagiert nicht auf Debatten der jüngeren Vergangenheit über die Frage nach der Entstehung des Achtzehngebets (z. B. Arbeiten von Ruth Langer). Der Vf. geht auch davon aus, dass die Tosefta normalerweise dem Babylonischen Talmud gegenüber sekundären Text überliefert (vgl. 100 f.218–221.235–240.288.302.309.366 f.), dass aber Baraitot altes Material bewahren (z. B. 144 f.167.182.209, Anm. 120; 171 und 260 ansatzweise bezweifelt). Baraitot sind als altes Material bezeichnete Passagen des Talmud. Dass sie älter sind als ihr literarischer Kontext, muss sorgfältig bewiesen werden. Bei der Tosefta wäre nach den Studien von Shamma Friedman und Judith Hauptmann umgekehrt zu verfahren und nachzufragen, ob sie nicht doch sehr altes Material überliefert.
Der Versuch, aus Annahmen über die Beziehungen der Juden zu ihrer Um­welt auf den Wortlaut bestimmter Gebetstexte der jeweiligen Zeit zu schließen oder überlieferte Fassungen in eine bestimmte Zeit zu datieren, stellt vor methodische Probleme. Einerseits setzt er voraus, dass der Text im Wesentlichen stabil war (131), so dass man Rückschlüsse aus den jungen Quellen ziehen kann. (Rückschlüsse sind nötig, weil es keine alte Überlieferung des Textes gibt.) Andererseits muss damit gerechnet werden, dass sich der Text mit dem Wandel der politischen Situation, auf die er ja angeblich antwortet und die daher einen Datierungshintergrund für ihn abgibt, ändern musste, so dass Rück­schlüsse aus jungen Textfassungen eigentlich unzuverlässig sind. Darüber hinaus muss damit gerechnet werden, dass die Terminologie dieser Texte nicht nur auf Grund der Quellenlage nicht präzise zu rekonstruieren ist, sondern auch schon zu ihrer Entstehungszeit (und nicht erst seit Beginn der Zensur im neuzeitlichen Europa) sehr offen und damit nie präzise gemeint war.
Der Vf. weist gelegentlich auf methodische Unsicherheiten hin, entschließt sich aber oft, dem alten Konsens zu folgen. So erwähnt er z. B. die Möglichkeit, dass in der frühen Geschichte des rabbinischen Gebets Teile desselben improvisiert wurden, stellt fest, dass die Frage nicht entschieden werden kann (71), ist aber in der weiteren Untersuchung der Ansicht, dass nicht improvisiert wurde, was ja die Suche nach einem schriftlich erstellten (vgl. die Kapitelüberschrift, 73 und 131) Urtext voraussetzt. — Die Birkat ha-Minim sei wie das Achtzehngebet »in its full version« (114) von den Gelehrten in Yavne (somit in der Frühzeit der rabbinischen Tradition nach 70) verfasst worden. Die minim seien ursprünglich Christen (70.126 f.). Auch an anderen Stellen, an denen minim erwähnt werden, findet der Vf. Hinweise auf einen christlichen Hintergrund. Das Verfahren arbeitet zum Teil mit sehr komplizierten und unsicheren Thesen: Polemik gegen minim, die beim Gebet wie Jesus bei der Verklärung am Berg Tabor oder wie die »Gerechten« in der Offenbarung weiße Kleider (191 f.) tragen, oder gegen minim, die runde Kapseln der Gebetsriemen (oder die Riemen kreuzförmig, 193–203) tragen, sei ein Hinweis auf christliche Abweichler (228). – Die Birkat ha-Minim ist nach dem Vf. das Instrument des Judentums, um Chris­ten zu identifizieren und aus der neu entstandenen Institution der Synagoge zu entfernen (237 f.). Danach sei der Kampf gegen das Christentum außerhalb des Judentums geführt worden. In einer komplizierten Diskussion (Kapitel 5) über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Gnosis und Christentum bearbeitet der Vf. das Problem der »Zwei Mächte im Himmel«. Das Neue Testament enthalte gnostische Elemente, sei aber nicht gnostisch (321). Die Theorien über die Schechina enthielten wohl einen Hauch des Gnostizismus, es gäbe aber keine direkte Verbindung dazu (328). Behauptungen in dieser Richtung seien ein römisches Missverständnis des jüdischen Monotheismus. Anzeichen des Monotheismus, die sich in den Evangelien fänden, »are there in fact for purposes of propaganda« (Mk 10,17–18; 333). Das nichtmonotheistische Neue Testament soll diesen Umstand zu verschleiern versucht haben. Hier werden gegen den wesentlich differenzierteren Forschungsdiskurs über so etwas wie »Monotheismus« antiker Religionen sehr schematische religiöse Wertungen in die Analyse der Texte hineingetragen.
Der Vf. postuliert Christentum und Judentum als ideologisch und theologisch in der Mitte des 1. Jh.s praktisch abgeschlossene Gruppen, die nur mehr um die Entflechtung ihrer Mitglieder und um Einfluss in der Gesellschaft ringen. Auf dem vorgelegten Material aufbauend ist jedoch trotz aller Entscheidungen, die im 1. Jh. gefallen sind, die Frage zu stellen, wie Menschen in der Auseinandersetzung miteinander ihre Identität und damit die Grenzen der beiden Gruppen erst errungen haben. In einer solchen größeren und möglichst viele heute vorliegende Daten und Ansätze ihrer Deutung einbeziehenden Ursprungserzählung müssten Entstehung, liturgische Funktion und sozialer Hintergrund der Birkat ha-Minim erneut erhoben werden.
Die Studie unternimmt den Versuch einer methodisch konservativen Interpretation der Geschichte des Judentums und des frühen Christentums auf der Basis der rabbinischen Literatur anhand der Geschichte der Birkat ha-Minim. Als Wortmeldung in dieser Richtung sind ihre Argumente nach einer Aktualisierung in den Forschungsdiskurs einzubringen und dort ernst zu nehmen.