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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

61-63

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boring, M. Eugene

Titel/Untertitel:

Mark. A Commentary.

Verlag:

Louisville-London: Westminster John Knox Press 2006. XXXVII, 482 S. 8° = The New Testament Library. Lw. £ 27,99. ISBN 978-0-664-22107-2.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

In die von dem emeritierten Professor für Neues Testament an der Brite Divinity School (Christian University, Fort Worth, Texas) vorgelegte Kommentierung des zweiten Evangeliums ist die Breite und Fülle des exegetischen Lebenswerkes des Vf.s eingegangen, der nicht allein zahlreiche wissenschaftliche Kommentare zu neutes­tamentlichen Schriften vorgelegt hat, sondern dem die neutestamentliche Wissenschaft darüber hinaus eine beeindruckende Vielzahl eigenständiger Untersuchungen und Anstöße verdankt. – Im Rahmen der Reihe »The New Testament Library« richtet sich dieser Kommentar an die Adresse von Studierenden. Der Vf. sieht sich so zugleich frei von dem Druck exegetischer Innovation (XI).
In üblicher Manier gliedert sich der Kommentar nach Vorwort, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis in eine Einleitung (1–25), das Korpus der Auslegung (bis Mk 16,1–8 als ursprünglichem Textschluss: 29–449; zu den »Alternative Endings«: 451–453) sowie ein Stellen- und Sachregister. Exkurse unterschiedlicher Länge (Weg-Motiv; Königsherrschaft Gottes; Gruppen der Jesusnachfolge; Wundergeschichten; Jesus als Lehrer in Kontroverse mit den Schriftgelehrten; Christologie; Messiasgeheimnis und Schriftverständnis) sowie zwei Diagramme (168 zu den Gruppen, die Jesus umgeben; 247 zur erzählten Welt des Mk als »apocalyptic history« [aus: Burton L. Mack, A Myth of Innocence, 1988, 329]) sind integriert.
Die Frage, ob »Markus« (vgl. 9–12) innerhalb der Wirren des Jüdischen Krieges kurz vor oder kurz nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels schreibt, hält der Vf. offen (vgl. zur stereotypen Sprache in Mk 13,2: 354). Geographisch distanziert der Vf. das zweite Evangelium von Rom, theologisch von Paulus (18 f.). Durchgängig rechnet er damit, dass sich Mk – unbeschadet des Fehlens einer entsprechenden konkreten »Adressaten«-Angabe – an eine konkrete Gemeinde richte, die nach jüdischen und paganen Anteilen ge­mischt und einem »lower socioeconomic stratum« zuzuweisen sei (vgl. 15 f.). Der Verfasser sei »Lehrer« als Mitglied seiner Gemeinde (20 f.: »teaching document«), die kritische Erfahrungen durchlaufe (vgl. 146 zur Aktualisierung der Sturmstillung). Der Schwierigkeit dieses Ansatzes ist der Vf. sich bewusst: Wer sind z. B. die Advokaten einer »Ephiphany Christology« (258), wo wären sie sonst im Frühchristentum greifbar (vgl. 270), wie gestalten sich die Verfolgungssituation bzw. das Leiden, von denen der Vf. für die mk Kirche ausgeht (285.368 u. a.)?
In der Strukturanalyse werden zwei Hauptteile unterschieden (1,1–8,21; 11,1–16,8 – der Vf. stellt dabei selbst fest, dass 8,21/8,22 keine klare Zäsur markiert), die in der Funktionsbestimmung auf die Begriffe theologia gloriae und theologia crucis gebracht werden können (vgl. 4 f.193.231). Mit Recht wird immer wieder betont, dass Wundergeschichten im ersten Teil bei Mk ein positives Integral der Christologie bilden. Voraussetzungs- und folgenreich für die Einzelinterpretation ist die Beurteilung der Gattungsfrage: Ohne sich intensiver auf die jüngere Diskussion einzulassen, die die Bezüge der synoptischen Evangelien zur antiken Bios-Literatur sowie auch zur hellenistischen Historiographie mit beachtlichen Gründen zur Geltung bringt, insistiert der Vf. darauf, dass Mk als »narrative Christology« (8) »distinctive from existing genres« sei (7: »a quantum leap, a mutation …«; 8: »something radically new«).
Die vom Vf. genannten Differenzmerkmale bedürften dabei im Einzelnen (dass Reden von Protagonisten sich nicht nur an Figuren innerhalb der erzählten Welt richten, sondern sich zugleich zur Leserschaft hin öffnen, ist z. B. keine exklusive Besonderheit der Evangelien; vgl. anders 7 – dagegen nur die vitae parallelae des Plutarch) wie insgesamt (Frage: Ist das parabolische Erzählen, das der Vf. für Mk so stark herausstellt [8: Mk als »an extended parable«; vgl. zum Ansatz »the Gospel as parable«: Mack, Myth of Innocence, 332–339], jenseits inhaltlicher Bestimmungen ein suffizientes Unterscheidungsinstrument?) der Überprüfung.
Die Einzelauslegung weiß sich einer Dreidimensionalität historischer, literarischer und theologischer Interpretation verpflichtet (24; zuletzt gehe es um das Hören der »theological message in all its strangeness and terror« [25]). Mk 1,1 gilt als »the author’s title« über dem gesamten Evangelium (29). »Anfang« (archē) wird zugleich im Sinn von »Norm« interpretiert und auf den Gesamttext des zweiten Evangeliums bezogen; indem die mk Jesuserzählung lediglich den Anfang des Evangeliums abbilde, werde – in Verbindung mit dem (dem Vf. nach) »offenen Ende« Mk 16,8 (vgl. 449: »incomplete narrative«) – die normative Grundlage für die Kontinuierung der Evangeliumsverkündigung in der mk Gegenwart fixiert (vgl. 30–32). Die Einzeldurchführung der Auslegung ist hier aus Raumgründen in keiner Weise zu würdigen. Lediglich drei Grundentscheide seien angesprochen, die kontinuierlich zur Geltung kommen:
1. Das mk Evangelium sei von einer »Dialektik« von »humanity and divinity« gekennzeichnet. Nur »dialektisch« sei auch die (in jüngster Zeit in der Mk-Forschung verschiedentlich thematisierte) Frage der Präsenz bzw. Absenz Jesu zwischen Auferstehung und Parusie zu beantworten (vgl. 190.210.281). Narratologisch schlage sich dies in einem doppelbödigen Erzählen nieder, welches für die »here-and-now experience« der Leserschaft transparent werde (160; vgl. 165.176.206 u. a.). Letzteres Urteil entspricht inzwischen dem common sense der Mk-Forschung.
2. Den »Plot« der mk Jesusgeschichte sieht der Vf. durchgängig von einem »apocalyptical framework« bestimmt (vgl. 151.169: »Mark thinks in the categories of apocalyptic dualism«, 172.297.311. 341.357 u. v. a. m.). Der Vf. begründet dies vor allem von Mk 13,5–57 als demjenigen (zugleich längsten) Redeabschnitt im Evangelium her, in dem die Erzählung direkt mit ihrer Leserschaft kommuniziere (vgl. 356–378).
Die Kommentierung des gesamten Evangeliums durch den Vf. zeigt jedoch in gewisser Spannung hierzu, dass über weite Strecken eine entsprechende apokalyptische Wirklichkeitssicht bzw. die im Vergleich zu frühjüdischen apokalyptischen Texten entsprechend zu erwartenden Sprachformen und Motive nicht gleichmäßig repräsentiert sind. Mk ist kein apokalyptisches Buch. Hier wünschte man sich im Kommentar deutlichere Auskunft, was der Vf. unter »Apokalyptik« versteht, soll diese sich nicht auf dualistische Unterscheidungen (von Zeit- und Weltentwürfen) bzw. die vage Angabe von »reversal and paradox« (vgl. 3) reduzieren (vgl. der Vf. selbst: 356, Anm. 44).
3. Der Vf. schließt sich jüngeren Untersuchungen an, die die Bedeutung des Jesajabuches für das zweite Evangelium herausgearbeitet haben. Mk schreibe – von Mk 1,2 her – »an Isaian story« (36; vgl. 108.150.242.253 u. v. a. m.). So fruchtbar sich dieser Ansatz von Mk 1,2–15 als Erzählprolog her erweist (vgl. 33–53), sind ihm angesichts der limitierten Zahl sicher identifizierbarer Jesaja-Referenzen (vgl. 404 f.; vgl. zu Jes 53 und Mk 10,45: 253.277) jedoch auch Grenzen gesetzt. Wie naheliegend ist es z. B., die Erzählnotiz in Mk 8,23, nach der Jesus den Blinden bei der Hand nimmt und aus dem Dorf führt, unter Verweis auf Jes 42,6 f. auf den (eschatologischen) Exodus zu beziehen (so 233)? Ist es richtig, dass Mk – wenngleich in transformierter Weise – »accepts the Isaian pattern of the holy war in which Yahweh triumphs …« (406)? Unter dem Aspekt der besonderen Zielsetzung des Vf.s, Studierende an den Text heranzuführen, wären weitere Fragen anzusprechen, die notorische Probleme exegetischer Kommentare berühren.
Wäre ein exemplarisches, dann aber in der Anwendung äußerer und innerer Kriterien auch wirklich eigenständig nachvollziehbares Procedere textkritischer Entscheidung nicht der bessere Weg im Vergleich zu den diesbezüglichen Sammelabschnitten im Kommentar, die aus Raumgründen eigene Urteilsfähigkeit kaum fördern können (vgl. z. B. zu Mk 1,1; 15,39)? – Über weite Strecken überlässt der Kommentar es der Leserschaft, die im Einzelnen aktivierte Methodik zu verstehen und nachzuvollziehen. Gerade für Studierende wären hier mehr Klarheit und Rechenschaft sinnvoll, zumal die einzelnen vom Vf. gewählten methodischen Perspektiven in der Anwendung changieren.
Der Vf. nimmt in der Kommentierung immer wieder knapp auf theologie- und ökumenegeschichtliche Probleme Bezug. Dies ist für Theologiestudierende sinnvoll und wichtig, wird allerdings im Kommentar nicht im Gleichmaß verfolgt. So fragt man sich, warum bei Mk 10,13–16 ein Hinweis auf die spätere Diskussion um die Legitimität der Säuglingstaufe erfolgt (vgl. 289 mit Anm. 65; vgl. zur christologischen Lehrbildung auch 398, Anm. 91), dagegen bei der Behandlung von Mk 14,22–25 die (auch hier natürlich: spätere) Problematik der eucharistischen Interpretation der Einsetzungsworte abschattiert wird (390–392; zudem lässt sich der Vf. hier entgehen, dass das Demonstrativum im Brotwort auf Grund des neutrischen Kasus auch bei Mk nicht auf das Brot [allein] zu beziehen ist, welches im Griechischen maskulin ist).
Der Kommentar setzt einerseits Propädeuten voraus, andererseits finden sich in ihm jedoch immer wieder sehr voraussetzungsreiche Urteile, die auch Fortgeschrittenen bzw. »modernen Lesern« (auf diese rekurriert der Vf. häufig; z. B. 95.116.152.157.297.139: »modern Westerners«) schwer verständlich bleiben dürften (vgl. z. B. die Rede von »Kenosis Christology«: 196.258.270; oder den Hinweis auf die Einsichten des »old liberalism«: 357). Es deprimiert, wenn der Vf. mit Studierenden zu rechnen scheint, die außer dem »text of the Bible itself« nur auf »few resources« zurückzugreifen vermögen (XI). Für diese vermisst man die ausdrückliche Empfehlung weiterführender Literatur zu den einzelnen Abschnitten des mk Textes (die deutschsprachige Markusforschung der letzten 20 Jahre findet man beim Vf. nur sehr selektiv).
Insgesamt ist dem Vf. ein übersichtlicher und hilfreicher Kommentar gelungen, dessen Konsultation nicht allein (auch deutschsprachigen) Studierenden zu empfehlen ist.