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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1402–1404

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Nipkow, Karl Ernst

Titel/Untertitel:

Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. 416 S. 8°. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-579-08016-1.

Rezensent:

Reinhold Mokrosch

»Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik« – welcher Titel könnte K. E. Nipkows historisch und systematisch fundierte religions- und friedenspädagogische Arbeitsweise typischer und eindrucksvoller wiedergeben als diese Formulierung? N. gründet seinen Entwurf einer Theorie der Friedenspädagogik auf die Ge­schichte der Friedenspädagogik. Und er erschließt diese Geschichte mit Hilfe seiner Friedenspädagogik-Theorie. In wechselseitiger Verschränkung und Selbstunterscheidung möchte er Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik aufeinander beziehen.
Das ist ihm in dem zu besprechenden 415 Seiten starken Werk vorzüglich, ja brilliant gelungen. Das Buch liest sich wie ein historischer Roman. Oft fühlte ich mich an G. Theißens Methode erinnert. N. erzählt, wissenschaftlich absolut zuverlässig, die Ge­schichte der Friedens- und Kriegserziehung aus fünf Jahrhunderten. Er präsentiert keine trockene Ideen- und Begriffs-, sondern eine prall gefüllte Personen- und Ereignisgeschichte. – Ich nenne die 18 Stationen dieser Geschichte, um Appetit zu machen.
N. beginnt mit Erasmus (Quaerela pacis 1517). Freilich hätte er auch mit Augustin, Thomas, Duns Scotus oder Marsilius, dem sog. Defensor pacis beginnen können. Aber es macht Sinn, eine implizite Friedenspädagogik erst mit Renaissance und Reformation beginnen zu lassen. An Erasmus interessiert ihn dessen Suche nach anthropologischen Gründen für Kriegslust und Gewaltbegeisterung und dessen Überzeugung, dass Christen keinen Krieg führen dürften; wundert sich aber, dass Kriege gegen Ungläubige, Türken und Juden davon ausgenommen seien. Wie war das möglich? – Bei Luther (Obrigkeitsschrift 1523) entdeckt er Rahmenbedingungen für Krieg und Frieden auf Grund der Unterscheidungen zwischen Reich Gottes und Reich der Welt, Privat- und Amtsperson, innerem und äußerem Menschen und Gesetz und Evangelium. Aber wieso setzt Luther diese Unterscheidungen im Kampf gegen Bauern und Juden teilweise außer Kraft? – An S. Frank (Kriegsbüchlein des Friedens 1539) fasziniert ihn die Hoffnung, dass der Glaube die Lust am Krieg, der »Grundsuppe allen Übels«, ein für alle Mal besiegen könne und dass Krieg gegen Juden nicht gerechtfertigt sei. – Und bei J.A. Comenius (besonders Pampaedia, 1640er Jahre), dem ersten expliziten Friedensethiker, -politiker und -pädagogen findet er eine explizite Friedenserziehung zur Verbesserung und Vervollkommnung der Menschen auf der Grundlage des Glaubens an eine neue Schöpfung und einen eschatologischen Frieden vor. Die drei Grundsätze von Comenius »Alles fließt von selbst«, »Gewalt und Zwang sei allen Dingen fern« und »Kindern zur innigen Freundschaft mit der Welt verhelfen« beeindrucken N. zutiefst.
Nach diesen friedenspädagogischen Versuchen der Reformatoren und Nachreformatoren, territoriale Kriege der Kleinstaaten im 16./17. Jh. zu überwinden, sieht N. im 18. Jh. Ansätze zu globalem Denken. J. G. Herder (Humanitätsbriefe nach 1800) habe mit sei-ner pansophischen Humanitätsidee und seiner Kritik an jeglicher Kriegsheldenverehrung den Weg einer weltbürgerlichen, an universaler Ethik orientierten, globalen Friedenserziehung geebnet. – Und I. Kants (Zum ewigen Frieden 1795) Forderungen eines internationalen Gewaltmonopols (später: UNO), eines Föderalismus freier Staaten (Völkerbund), eines internationalen Gerichts (später: Internationaler Gerichtshof) und mitwirkender bürgerlicher Ge­sellschaften (Republiken) basierten auf dessen Idee einer Erziehung zum Be­wusstsein der Gleichheit aller Menschen. Faszinierend stellt N. dieses aufkeimende Weltbürgerbewusstsein im 18. Jh. dar. Aber galt das auch gegenüber den Juden? N. stellt das Verhältnis zwischen Moses Mendelsohn und Kant detailliert dar (ein Kabinettstück!) und kommt zu dem Schluss: Kant hätte die Eingliederung aller Juden in eine allgemeine Vernunftreligion unter Aufgabe des Thora-Glaubens verlangt. Also keine Toleranz für Juden!
Das verschlimmerte sich im 19. Jh., das N. »ein für die Entwick­l­ung einer Friedenserziehung verlorenes Jahrhundert« nennt. Die Idee eines Weltbürgertums ging in J. G. Fichtes (Reden an die deutsche Nation 1806) »völkischem Selbst« und in seiner »rassistisch getönten Ideologie« unter. Fr. Kohlrausch und E. M. Arndt förderten mit ihrer preußischen Kriegspädagogik eine Erziehung zum Franzosen- und Judenhass sowie zur Neger- und Mongolenverspottung. Und Hegel, so N., rechtfertigte Krieg als sittliche Aufgip­felung des Staates und verlieh ihm die philosophische Weihe. Ras­sis­mus, Männlichkeitskult, Sozialdarwinismus und Antijuda­is­mus, ja Antisemitismus hätten die zarten Pflanzen aufkeimender Friedenspädagogik zerstört. Gesellschaft, Schule und öffentliches Bewusstsein seien militarisiert worden.
Erst F. W. Foerster, K. Hahn und H. Röhr hätten im 20. Jh. eine Erziehung zur Anerkennung des Anderen, zur Verabscheuung des Krieges, zu Mitgefühl, Mitleid, Nächstenliebe und internationaler Verständigung neu angebahnt und explizite Friedenserziehungscurricula entworfen. Auf dieser Basis hätten dann Gamm, Priester, Galtung, Vilmar u. a. in den 70er Jahren eine kritische Friedenspädagogik mit den Phänomenen struktureller und kultureller Ge­walt entworfen. Und auf deren Basis wiederum hätten sich die aktuellen Friedensbewegungen, Friedensethiken und Friedenspädagogiken entfaltet.
Alle, wirklich alle beschriebenen Stationen dieser 500-jährigen Geschichte der Friedenspädagogik zieht N. in seinem abschließenden Entwurf einer eigenen Friedenspädagogik heran (353–415). Der Entwurf könnte eine eigene Monographie abgeben. Ein umfangreicher Bezugsrahmen (Friedenserziehung zielt auf Weltbürger-, Demokratie-, Rechts- und Umweltbewusstsein; möchte Teilungs-, Empathie- und Sympathiefähigkeit fördern; setzt innere Freiheit, kognitives und emotionales Lernen und soziale Umwelt voraus und vieles andere) eröffnet die Theorie. Eine ausführliche Analyse möglicher Ursachen von Aggression, Gewalt und Krieg (evolutionspsychologische, ethnische, politische, soziale, sozioökonomische, pädago­gische, so­zial- und kulturpsychologische usw.) folgt. Und friedens­ pädagogische Ziele, Wege und Kompetenzen (globales Lernen anbahnen; Wissen über andere Kulturen vermitteln; friedliche Lern­umwelten modellieren; Menschen- und Grundrechtserziehung; Erziehung zu Selbstunterscheidung und Selbstrevision; maskuline Ideologien abbauen; menschliche Nähe er­möglichen; Gedenkkultur initiieren; Vertrauen aufbauen) werden ausführlich dargelegt.
N. hat ein Werk geschaffen, das die künftige Entwicklung kirchlicher Friedenspolitik, christlicher Friedensethik und religiöser Friedenspädagogik entscheidend prägen wird. Es gehört in jede öffentliche und private Bibliothek.