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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1397–1399

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz, Ralph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Begleitung im Alter. Religion als Thema der Gerontologie.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2007. 366 S. 8°. Kart. EUR 26,00. ISBN 978-3-290-17433-0.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Das Alter ist zu einem vieldiskutierten Zukunftsthema avanciert. Der gerontologische Diskurs ist gewichtiger geworden, auch in seiner Rolle als Advokat für gutes Altern. Obwohl wichtige Fragen der Anthropologie und der Ethik berührt werden und die Rolle der Religion nicht vernachlässigt werden kann, geschah dies meist ohne Bezug zu den theologischen Disziplinen. Umgekehrt muss auch von einem gerontologischen Defizit innerhalb von Ethik und Theologie selbst gesprochen werden. Angesichts dieser Defizitsituation fand im Sommer 2006 eine Tagung in Zürich-Neumünster statt, die sich der interdisziplinären Herausforderung stellen wollte – in der konkreten Zuwendung zum Praxisfeld der religiösen Begleitung im Alter. Darauf geht der vorliegende Band zurück.
Wie R. Kunz in seiner Einleitung deutlich macht, wurde die grundsätzliche Frage nach den Chancen und Grenzen eines interdisziplinären gerontologischen Arbeitens mit Ernsthaftigkeit und Nüchternheit angegangen. Aus dem gemeinsamen Gespräch ergab sich zumindest eine reflektierte Problemstrukturierung, deren Skizze schon deshalb nicht geringzuschätzen ist, weil sich die nachfolgenden Beiträge recht unverbunden darstellen.
In gerontologischer Perspektive nehmen die Aufsätze von M. Allemand/M. Martin und von U. Sperling die Erträge der in den USA mittlerweile etablierten religiösen Gerontologie auf. Religion erscheint als Ressource, welche zur Lebensbewältigung, zur psychischen und auch zur physischen Gesundheit beitragen kann. Dem Gebet und dem Gottvertrauen vermag etwa eine Bewältigungsfunktion zugeschrieben werden; Religiosität kann der Auseinan­dersetzung mit der eigenen Fragilität und Endlichkeit und damit einer wichtigen Entwicklungsaufgabe dienlich sein. Auch die Bedeutung der sozialen Unterstützung in religiösen Gemeinschaften ist beachtlich. Insgesamt zeigt der empirische Befund allerdings nicht nur positive, sondern auch negative gesundheitliche Effekte. Sperling tritt für eine Lebenslaufperspektive ein und bündelt die Beziehung von Religiosität und Wohlbefinden bzw. Ge­sundheit in einem Modell, das weniger von direkten als vielmehr von durch Mediatoren vermittelten und Moderatoren beeinfluss­ten Zusammenhängen ausgeht. Bei ihm findet sich auch eine kritische Reflexion einer von Inhaltlichkeit absehenden funktionalen Betrachtung und einer undifferenzierten Ausrichtung auf Wohlbefinden bzw. Gesundheit.
Zur Fundierung eines funktionalen Zugangs schlägt S. Huber einen religionsphänomenologischen vor, welcher den Glauben als spirituellen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erfahrungsraum zu erfassen erlaubt. Dazu greift er allerdings nicht auf symbol­theoretische oder hermeneutische Ansätze zurück, sondern auf das nicht unumstrittene Dimensionen-Modell von Ch. Glock, um mit ihm die Befunde einer Zufallsstichprobe in einer westdeutschen »Durchschnittsstadt« zu erhellen.
B. Boothe zeigt anhand erzählanalytisch ausgewerteter Interviews die psychisch integrierende und reorganisierende Funktion des Erzählens. Sichtbar wird hierbei, dass sich gutes Leben für die Interviewpartner nicht jenseits des Leidens ereignet. K. Wilkening skizziert unter Heranziehung vieler empirischer Untersuchungen die vielfältigen gegenwärtigen Herausforderungen einer ars moriendi und einer Pflege am Lebensende. Die Notwendigkeit eines entsprechenden Menschenbilds und eines entsprechenden Gesundheitsbegriffs kommt in den Blick.
Dem entspricht H. Rüegger, wenn er kenntnisreich die gegenwärtigen gesellschaftlichen und gerontologischen Leitvorstellungen im Spannungsfeld von Anti-Aging auf der einen Seite und ›erfolgreichem Altern‹ auf der anderen Seite erhebt und evaluiert. In ethischer Perspektive kritisiert er die Verdrängung des Alterns als eines konstitutiven Wesenszugs des Menschen ebenso wie die Dominanz des homo faber über den homo patiens. Positiv entfaltet werden sodann Leitlinien einer dem Menschen gemäßen Lebenskunst des Alterns, wozu gerontologische, philosophische und theologische Impulse aufgenommen werden: Generativität, Freiheit zum Fragment, Offenheit für Passivität, Werden zu sich selbst, Gerotranszendenz etc. Daran werden Aufgabenbestimmungen einer lebensweltlichen Begleitung älterer Menschen angeschlossen.
Dass und inwiefern normative Projektions- und Vereinnahmungsmechanismen ein Grundproblem des Umgangs mit älteren Menschen in der Seelsorge (und darüber hinaus!) darstellen, thematisiert W. Drechsel. Wird hingegen die Lebenswelt älterer Menschen in ihrer Eigenständigkeit und Fremdheit wahrgenommen, können daraus wichtige Anfragen und Anstöße für die Seelsorge und für die jüngere Generation überhaupt erwachsen, die Drechsel auch theologisch und gesellschaftskritisch aufzunehmen versteht.
C. Gennerich verbindet theologische Analyse und sozialpsychologische Werteforschung, indem er die theologischen Motivtypen der Vorsehung den empirisch fassbaren Wertorientierungen von Menschen zuordnet. Dadurch gewinnt er eine Landkarte religiösen Trosts, die für die Seelsorge an älteren Menschen von hoher Bedeutung sein kann: Personen, die sich an Werten orientieren, die von Selbsttranszendenz geprägt sind, präferieren Deutungsmotive, denen zufolge man sich Gott im Leiden anvertrauen kann, während an Selbststeigerung orientierte Personen eher Deutungen im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs vorziehen.
Die fünf letzten Beiträge wenden sich konkreten Anwendungskontexten der Altenseelsorge zu: Um die Lebenswelt der älteren Menschen ernst zu nehmen – samt der unbedingten Würde, die in der Fragmentarität und Hilfsbedürftigkeit sichtbar werde –, fordert W. Lüssi, die seelsorgerliche Defizitperspektive zu überwinden. Er tritt für eine »Seelsorge-Spitex« in Analogie zum ambulanten Pflege- und Betreuungsdienst ein. M. Heymel entwickelt ein Seelsorgekonzept, das alten Menschen die Begegnung mit dem Heiligen erlauben soll. F. Muntanjohl wendet sich der Herausforderung des Umzugs ins Pflegeheim, T. Roser der Herausforderung der Demenz zu. Ch. Schneider-Harpprecht entfaltet ein umfassendes und theologisch durchdrungenes Konzept von Seelsorge als systemischer Praxis. In ihrer diakonischen Ausrichtung ermögliche diese es, den unterschiedlichen Lebenslagen und -phasen älterer Menschen gerecht zu werden. So könne etwa die seelsorgerliche Verantwortung der Kirche für eine altersgerechte Kultur des Wohnens in den Blick kommen.
Der Band ist somit auch für die praktisch in der Altersarbeit Tätigen empfehlenswert. Er belegt, in welcher Weise sich nicht nur in der katholischen Altenpastoral, sondern nunmehr auch in der evangelischen Altenseelsorge ein Perspektivwechsel abzuzeichnen beginnt, um sich den neuen Herausforderungen des Alterns zu stellen. Zukunftsweisend für Theologie und Ethik überhaupt sind im ersten Teil die interdisziplinären Sondierungen einer Religionsgerontologie. Wie R. Kunz zu Recht bemerkt, können sie nur einen ersten Schritt darstellen. Hier tun sich methodische Fragen auf, auch die alte Frage nach der empirischen Erfassung der Religion. Liest man die Beiträge quer, erhellen sich diesbezüglich bereits Mindestbedingungen, etwa die Beachtung der paradoxalen Struktur des Glaubens (Erfahrung des Guten im Leiden; Gesundheit in Krankheit; Zunahme in Abnahme; Selbstfindung in Selbsttranszendenz). Nicht zuletzt verweist der Band auf die Dringlichkeit einer ethischen und theologisch-anthropologischen Reflexion des Alterns für den interdisziplinären Diskurs. Denn dieser bedarf gerade angesichts der Gefahr funktionaler Verkürzungen beides in seiner Unterschiedenheit: eine für die Dimension der Religion aufgeschlossene Gerontologie und eine gerontologisch gesprächsfä­hige Theologie.