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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1374–1375

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Jung-Kaiser, Ute [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Hohelied. Liebeslyrik als Kul­tu­r(en) erschließendes Medium? 4. Interdisziplinäres Symposium der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main 2006.

Verlag:

Bern: Lang 2007. 441 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 79,30. ISBN 978-3-03910-777-3.

Rezensent:

Gerhard Ringshausen

Die Referate der Theologen, Ethnologen, Literatur- und Musik­wissenschaftler, Musikpädagogen, Musiker, Dichter, Bildenden Künstler und Photographen erschließen die vielfältige Wirkungsgeschichte des Hohenliedes, wobei das von der Frankfurter Musikpädagogin gestaltete Symposion besonders auf interkulturelle Zusammenhänge abheben wollte. Dieser Zielsetzung entsprechend bieten mehrere Beiträge keine neuen Forschungen, sondern möchten den aktuellen Stand in den neuen thematischen Zu­sammenhang einbringen.
Die Einführung von Jung-Kaiser und die Beiträge von Thomas Staubli über den altorientalischen Kontext und von Theodor Seidl über die Metaphorik des Hohenliedes besonders im Anschluss an die Kommentare von Othmar Keel und Gillis Gerleman dienen der Orientierung. Die anschließenden Studien lassen sich in drei Teile gliedern. Angesichts der grundlegenden, bis zum 12. Jh. führenden Hohelied-Studien von Friedrich Ohly (1958) bilden die Beiträge zu Spätmittelalter und Früher Neuzeit einen ersten Schwerpunkt. Wie die Auflistung der Vertonungen von Andreas Waczkat (401–429) exemplarisch zeigt, endet das von der allegorischen Deutung bestimmte Interesse im 18. Jh., bis in der 2. Hälfte des 19. Jh.s die profane Deutung neue Möglichkeiten eröffnete. Ihnen gilt von Edvard Grieg bis Hans Zender – mit Uraufführungen von Hohelied-Vertonungen von Dimitri Terzakis und Gerhard Müller-Hornbach – der zweite Teil, der hier trotz der instruktiven interkulturellen Zusammenhänge wie der dritte über die Präsenz des Hohenliedes in Bildmedien und seine Geltung in den Kirchen nicht rezensiert wird.
Für das Mittelalter verfolgen die Beiträge die Frage nach dem Übergang und der Verbindung von allegorischer und profan-erotischer Textdeutung. Die Brautmystik von Mechthild von Magdeburg verwendet nach Gisela Vollmann-Profe das Hohenlied als »Bildreservoir«, wobei »das erotische Element des Ausgangstextes im geistlichen Kontext präsent« bleibt im Sinne einer »spirituellen Sinnlichkeit« (67 f.). Demgegenüber steht die rein weltliche mittelhochdeutsche Liebeslyrik unter dem Einfluss des entsprechend verstandenen Hohenliedes, wie die materialreiche Studie von Jürgen Schulz-Grobert zeigt. Zu klären bleibt allerdings, ob angesichts der herrschenden allegorischen Deutung die Zitate und Allusionen nur als Erweiterung der Sprachmöglichkeiten und als auf Effekt zielende Zitate, also als poetische Mittel zu deuten sind. Dass Salomo als Verfasser des Hohenliedes nicht nur als Minnesklave, sondern von einem Anonymus als biblisch-christliche Autorität für die Liebeslyrik in Anspruch genommen werden konnte, lässt auch für die Textrezeption inhaltliche Motive vermuten. Besonders deutlich werden solche bei Gottfrieds Tristan und seiner »Liebesreligion, welche auf Überwindung des Dualismus von göttlichem und irdischem Eros, hoher und niederer Minne, geistlicher und weltlicher Liebe angelegt ist« (113), wie Ute Jung-Kaiser zeigt. Dabei betont sie die Aufnahme des Pilgerliedes »In gotes namen varen wir« als eine von der Forschung zu wenig beachtete »ungeheuerliche Travestie« (33), ohne allerdings »die aufregende Fahrt zum ›erotisierten‹ irdisch-himmlischen Jerusalem« (die Gleichsetzung mit »Kreuzzug« ist unbegründet) auch für die Symbolik der »Minnen hus« als Grab Christi und Grabeskirche fruchtbar zu machen. Im Anschluss an Friedrich Ranke versteht sie die Minnegrotte als säkularisierte gotische Kathedrale. Bei deren Interpretation folgt sie Hans Sedlmayr, ohne die Diskussion seit Erwin Panofskys »Gothic Architecture and Scholasticism« (1951) zu beachten (zu Unrecht gilt der gotische Kathedralbau als »Folge der Kreuzzüge, der gregorianischen Reform«, 104). Ihr nächster Beitrag widmet sich mit der Christus-Johannes-Gruppe einer schon vielfach er­forschten Gestaltwerdung von Hohelied-Motiven in alemannischen Frauenklöstern unter dem Einfluss der Deutschen Mystik. Dass allerdings durch eine »natürliche Hohelied-Auslegung« nicht die gläubige Seele, sondern »die Nonne selber … die liebende Umarmung des Herrn sucht und findet« (115) als »sinnlich-ästhetische Erfahrung« (116), wird der stufenweisen Identifikation im Zuge der Kontemplation kaum gerecht, die erst in der unio die Differenz aufhebt. Dass dieses Konzept von Ernst Barlach auf dem Weg von der Sigmaringer Gruppe zu den »Lesenden Mönchen« nicht übernommen, sondern durch die Konzentration auf das Buch ersetzt wurde, entspricht seiner protestantischen Prägung. Allerdings gestaltet er keine »Gleichwertigkeit vor Gott« (129), da die linke Figur (Christus-Typus) dominierend das Buch hält, während die rechte mit betenden Händen mitliest.
Aber nicht nur im Katholizismus (Peter Ackermann zu Palestrinas Vertonungen; Andreas Waczkat zu Liedvertonungen des 16. und 17. Jh.s; Linda Maria Kolbe zu Chiara Margarita Cozzolani), sondern auch im Altprotestantismus war die allegorisch-mystische Deutung verbreitet, wie Ansgar Franz für das Kirchenlied von Philipp Nicolai bis Angelus Silesius und Martin Petzoldt für Johann Sebastian Bach zeigt. Während Petzoldt auf Grund seiner einschlägigen Arbeiten methodisch differenziert den Befund in Bachs Vokalwerken vorstellt, konzentriert sich Franz auf die wenigen Lieder, die »deutlich und durchgehend in der Tradition jener Brautmystik« des Hohenliedes stehen (163). Dabei hätte eine breitere Erschließung gerade hier im Sinne des Symposion-Titels einen interkulturellen Zusammenhang aufzeigen können, da sowohl Nicolais Morgenstern-Lied (nicht nur die Akrostichon-Widmung an Wilhelm Ernst Graf von Waldeck spricht wie beim Wächterlied gegen die landläufige, von Franz wiederholte Datierung während der Pest in Unna) als auch Arndts (Pseudo-)Bernhard-Rezeption in den frömmigkeitsgeschichtlichen Prozess des interkonfessionellen Austauschs bei gleichzeitiger kontroverstheologischer Abgrenzung gehören. Die Abgenzung schloss eine mariologische Deutung wie im katholischen Marienlied aus, so dass Nicolai im Morgensternlied mariologische Motive christologisch deutet. Die interkonfessionelle Gemeinsamkeit zeigt aber noch Johann Schefler nach seiner Konversion 1653 durch seine von Franz zu Recht betonte Nähe zu Arndts Paradiesgärtlein in dem Lied »Ich will dich lieben meine Stärke«. Dabei ist das für die Zeit typische Ich nicht subjektiv, sondern als fromme Seele zu verstehen, so dass sich die Hohelied-Rezeption in einen großen Zusam­menhang einfügt, während es das neue Kirchenlied der Niederlande als Sammlung von weltlichen Liebesliedern in einen geistlichen Zusammenhang stellt.
Der Band bietet eine Fülle von Aspekten der Rezeption des Ho­henliedes und vielfältige Anregungen zu seiner mehrperspektivischen Lektüre, wenn auch einzelne Beiträge dem Tagungsziel nicht ganz gerecht werden und andere zu weiteren Fragen Anlass geben.