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Ausgabe:

Dezember/2008

Spalte:

1372–1373

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Berwald, Olaf, u. Gregor Thuswaldner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2007. 250 S. gr.8°. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-412-00806-2.

Rezensent:

Georg Langenhorst

Blicke von außen helfen zu einer verschärften Selbstwahrnehmung. Diese allgemeine Einsicht gilt in besonderer Weise für die Eigenwelt der Theotopen, in denen nur noch wenige Eingeweihte einen Eigendiskurs über die Möglichkeiten der Gottesrede pflegen, der gesellschaftlich immer weniger Beachtung findet. Die zu besprechende Aufsatzsammlung ermöglicht gleich dreifach einen derartigen Außenblick auf die Frage nach Gott. Zunächst in der regionalen Perspektive: Hier blicken Geisteswissenschaftler auf den deutschsprachigen Raum, die selbst zum größten Teil in anderen Regionen leben: Die Herausgeber und ein großer Teil der Beiträgerinnen und Beiträger arbeiten in den USA. Dann in medialer Perspektive: Die untersuchten Gegenstände sind nicht theologischer Natur, sondern literarische Texte, in denen sich Religion und Gottesfrage spiegeln. Schließlich im wissenschaftlichen Zugang: Unter Berücksichtigung der Beobachtung, dass sich in Deutschland »seit etwa dreißig Jahren hauptsächlich katholische Theologen« mit dem Grenzgebiet von Theologie und Literatur beschä­f­tigen, wird dieses Feld hier aus »ausschließlich literaturwissenschaftlicher Perspektive untersucht« (3).
Ausgehend von der Feststellung, dass Religion in Europa »wieder ein wichtiger Faktor« (2) geworden sei, verbindet die unterschiedlichen Beiträge die Einsicht, dass »Gott sich hartnäckig im kulturellen Gedächtnis hält« (5). Zum Aufweis dieser ja auch im Titel des Bandes aufgenommenen Behauptung wird der zeitliche wie der thematische Bogen weit gespannt. Zunächst gehen einige Beiträge zurück in die erste Hälfte des 20. Jh.s, beschäftigen sich etwa mit Texten des nur wenig bekannten jüdischen Dichters Abraham Sonne (Avraham Ben Yitzhak), mit Elias Canetti, Ludwig Derleth, Robert Musil, Carl Einstein, Gertrud Kolmar oder Alfred Döblin. Eine zweite Gruppe von Beiträgen schlägt den Bogen hin zur Gegenwart. Hier werden vor allem Autoren behandelt, die einer christlichen Prägung entstammen: Marlen Haushofer etwa, Thomas Bernhard, Botho Strauß, Werner Fritsch oder Christoph Hein. Neben weiteren eher thematisch ausgerichteten Beiträgen etwa zur Verschärfung des Theodizee-Problems in der Literatur des 20. Jh.s oder zur »Entstellung jüdischen Gedenkens im Wien des endenden 20. Jahrhunderts« richtet sich der Blick mit Emine Segvi Özdamars »Das Leben ist eine große Karawanserei« (1992) auch auf die neu beginnende Tradition islamisch-deutscher Literatur.
Wie stets bei solchen Aufsatzsammlungen: Die thematische Klammer umfasst die – in sich sämtlich lesenswerten – Beiträge nur unzureichend. Hier ist von so vielen Texten, Entwürfen, Kontexten die Rede, dass schon der Titel der Sammlung selbst nur bedingt passt. Die nicht mit spezifisch germanistischen Fachfragen suchenden Leser werden am ehesten dort fündig, wo es um Neuland geht, um Texte, die in die Gegenwart weisen. Nichts ge­gen Beiträge über Canetti oder Döblin – aber all das lässt sich auch anderswo nachlesen. Spannend sind dagegen Spuren, die in das deutschsprachige Gegenwartsdrama (Fritsch!) führen oder in die religiösen Dimensionen der Lyrik (Bernhard!) und Prosa (Hein!) der letzten Jahrzehnte. Diese Beiträge greifen Themen und Autoren auf, die im Dialogfeld von Theologie und Literatur noch zu wenig beachtet sind. Insgesamt hätte eine engere Fragestellung, eine klarere Perspektive der zu breit angelegten Sammlung gutgetan. Durchaus konsequent fehlt jeglicher Versuch, die Beiträge systematisch auszuwerten. Ist die einzige versuchte Bündelung schlüssig, dass sich »Gott im kulturellen Gedächtnis hält«, wenn der zeitliche Bogen fast ein Jahrhundert umspannt? Ist es überzeugend und stringent, vor allem jüdische Zeugen für die erste Jahrhun­dert­hälfte, vor allem christlich geprägte Zeugen für die zweite Hälfte aufzurufen?
Eine weitere Nachfrage: Im Vorwort betonen die Herausgeber in aller wünschenswerten Transparenz und bei exemplarischer Nennung theologischer Studien, dezidiert literaturwissenschaftlich an ihr Thema herangehen zu wollen. Die Beiträge lösen dieses Versprechen auch konsequent ein. Die hermeneutische Grundentscheidung erweist sich jedoch als Mangel: Während theologisch-literarische Studien stets extensiv literaturwissenschaftliche Ar­beiten, Verfahren und Erkenntnisse rezipieren, werden umgekehrt theologisch-literarische Arbeiten von Literaturwissenschaftlern konsequent ignoriert. So auch weitgehend hier. So begrüßenswert, herausfordernd und spannend also die Hinwendung zu theolo­gischen, ethischen oder religiösen Fragestellungen von Seiten der Literaturwissenschaftler ist, so enttäuschend bleibt die Fixierung auf den eigenen Binnendiskurs. Wieder eine verpasste Chance zur interdisziplinären Öffnung!