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Ausgabe:

November/2008

Spalte:

1188–1191

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grindheim, Sigurd

Titel/Untertitel:

The Crux of Election. Paul’s Critique of the Jewish Confidence in the Election of Israel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XI, 282 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 202. Kart. EUR 49,00. ISBN 3-16-148690-0.

Rezensent:

Dieter Sänger

Nicht zuletzt angeregt durch Ed P. Sanders’ einflussreiche Studie »Paul and Palestinian Judaism« (1977) ist die Frage nach Ansatz und Struktur der paulinischen Soteriologie erneut in den Brennpunkt des exegetischen Interesses gerückt. Mit seiner These, analog zu Paulus habe das palästinische Judentum zwischen Ben Sira und der Mischna den Primat der Gnade betont (»Bundesnomismus«) und sie als Heilsprinzip dem Tun der Tora vorgeordnet, ist Sanders zwar auf anhaltenden Widerspruch gestoßen. Aber dass neben dem Vergeltungsprinzip der Erwählungsgedanke ein konstitutives Element jüdischer Soteriologie darstellt, deren Proprium nicht auf den meritorischen Aspekt reduziert werden darf, ist ungeachtet sonstiger Differenzen in der gegenwärtigen Paulusforschung weithin unstrittig. Umso mehr erstaunt, dass Untersuchungen zur Re­zeption, Funktion und Bedeutung des Erwählungsgedankens im Gesamt der paulinischen Theologie eher spärlich gesät sind, ob­wohl er eine zentrale Rolle in der wesentlich von Sanders inspirierten New Perspective on Paul spielt. Diesem Mangel will S. Grindheim abhelfen. In seiner von D. A. Carson betreuten Dissertation – sie lag 2002 der Trinity Evangelical Divinity School in Deerfield, Illinois, vor und wurde für den Druck überarbeitet – fragt er gezielt nach dem »Pauline understanding of divine election as compared to the understanding(s) in contemporary Judaism« (1).
Zunächst beleuchtet G. die unterschiedlich ausgestaltete Vorstellung göttlicher Erwählung in der biblischen (»Election in the Scriptures of Israel« [7–34]) und nachbiblischen Literatur (»Election in Second Temple Judaism« [35–76]). Berücksichtigt werden nur Schriften, die älter sind als die paulinischen Briefe und ein spezifisches Interesse am Thema »Erwählung« haben (35). Bei Sammelwerken oder Makroformen ist jeweils die überlieferte Endgestalt maßgeblich.
Im Alten Testament verschränken sich mehrere Sinnlinien. Erstens: Erwählung impliziert eine Umkehrung der Werte. Gerade das Kleine und Unscheinbare hat Gott erwählt (vgl. Dtn 7,6–11 [Israel], 1Sam 9,21; 16,1 ff. [Saul, David]). Zweitens: Erwählung ist weder verrechenbar noch an Bedingungen ge­knüpft. Sie gründet einzig in der Liebe Gottes und ist für Israel Privileg und Verpflichtung zugleich. Drittens: Der Irrglaube, äußere Gegebenheiten (z. B. Tempel, dynastische Kontinuität) seien sichtbarer Ausdruck für den irreversiblen Status der Erwählung (Jer 7,3–11; Ez 33,24 u. ö.), führt zu Überheblichkeit und Ungehorsam. Viertens: Das Volk wird bestraft (Exil), aber nicht endgültig verworfen. Ein Rest bleibt übrig. Dazu gehören alle, die umkehren. Auch Nichtisraeliten sind in diesen neu definierten Kreis der Erwählten eingeschlossen, sofern sie sich zu Gott bekennen (Jes 56,3–8; Zeph 3,9 f.). Durch diese besonders in nachexilischer Zeit erkennbare Tendenz zur Individualisierung wird der ursprünglich auf eine nationale und religiöse Entität bezogene Erwählungsgedanke aufgeweitet. Er öffnet sich perspektivisch für die Völkerwelt, wenngleich Israel der Primäradressat göttlicher Erwählung bleibt.
Ein Kennzeichen der frühjüdischen Schriften ist der innere Konnex von Erwählung und Weisheit, die wiederum mit der Tora identifiziert werden kann (Sir, Bar, SapSal, 1QH). Das Halten der Gebote gewinnt nun kriteriologische Funktion und charakterisiert die Erwählten. Abraham gilt als das Exemplum schlechthin (Sir). Wie Jub und äthHen versteht Philo die bereits dem in Gen 12,1–3 angeredeten Erzvater zugeschriebene Gerechtigkeit als Grund seiner Erwählung. Vielfach steht Abraham hier pars pro toto. Gerechtigkeit wird so zum entscheidenden Bedingungsfaktor für das Er­wähltsein. Hingegen grenzen die Qumranschriften den Kreis der Erwählten auf die Mitglieder des yachad ein. Philo stimmt mit ihnen insofern überein, als auch er in erwählungstheologischer Hinsicht zwischen dem Gott sehenden »Israel [Jakob]« (Migr 201) und der Gesamtheit des jüdischen Volkes unterscheidet (Post 13–21 u. ö.). Wo der Erwählungsgedanke prädestinatianisch grundiert erscheint (Sir, äthHen, Qumran), verdrängt dieser Zug nicht den anderen, der Mensch sei frei, zwischen Gut und Böse zu wählen (PsSal). Beide Optionen laufen zum Teil parallel, ohne dass ihr Spannungsverhältnis aufgelöst wird.
Beide Kapitel stehen relativ unverbunden nebeneinander. Eine vergleichende Auswertung der Textbefunde fehlt. Sie hätte nicht nur Konvergenzen, Akzentverschiebungen und Differenzen deutlicher, als es jetzt der Fall ist, hervortreten lassen, sondern auch Raum geboten, nach den theologischen und/oder geschichtlichen Gründen zu fragen, die zu konzeptionellen Änderungen geführt haben.
Das Corpus Paulinum ist mit je einem Abschnitt aus dem 2Kor (»Boasting according to the Flesh: 2 Corinthians 11:16–12:10« [77–109]), dem Phil (»Confidence in the Flesh: Philippians 3:1–11« [110–135]) und Röm (»Election Validated through Judgement: Rom 9–11« [136–168]) vertreten, wobei die literarische Integrität des 2Kor und Phil vorausgesetzt wird (77 f.110 f.). Im 6. Kapitel (»Election and Reversal of Values in the Pauline Letters« [169–194]) erweitert G. die Textbasis um 1Kor, Gal und 1Thess. Hinzu kommen noch Kol, Eph, 2Thess sowie die Past, da er bei ihnen allen eine paulinische Verfasserschaft für möglich hält. Aus Raumgründen beschränke ich mich auf die als signifikant herausgestellten Punkte.
Die sog. Narrenrede 2Kor 11,16–12,10 parodiert den von judenchristlichen Fremdmissionaren erhobenen Anspruch, ihr beeindruckendes Auftreten re­flek­tiere ihre Herkunft aus dem erwählten Gottesvolk (11,22) und qualifiziere sie im Unterschied zum »schwachen« Paulus (10,10) als Diener Christi (11,23). Indem Paulus sich seiner Schwachheit rühmt (11,30; 12,9 f.), kehrt er die in Korinth akzeptierte Werteskala seiner Konkurrenten um und führt sie ad absurdum. Bestimmendes Kennzeichen des Dienstes, zu dem er sich berufen weiß, ist die Konformität der eigenen apostolischen Existenz mit dem Gekreuzigten. Gerade in ihrer Schwachheit erweist sich sub contrario die Kraft des Auferstandenen als mächtig. Weil die »Falschapostel« (11,13) ihren Dienst nicht am Vorbild des gekreuzigten Christus ausrichten, sondern sich ihrer Erwählung rühmen und meinen, sie werde durch »an impressive display of power and spir­ituality« (88) sichtbar zur Anschauung gebracht, rühmen sie sich »nach dem Fleisch« (11,18) und diskreditieren ihren Anspruch, Diener Christi zu sein.
In Phil 3,1–11 kontrastiert Paulus seine vorkonversionellen »cre­dentials« (V. 2–6), deren bleibende Gültigkeit toraobservante Judenchristen energisch einfordern (V. 2), mit seiner neuen Glaubensorientierung (V. 7–11), der ein Leben »ac­cord­ing to the pattern of Christ« (vgl. 2,5–11) entspricht (133). Die gemeinsame Teilhabe am Christusevangelium – für G. das übergreifende Thema des Briefs (118) – impliziert einen soteriologischen Paradigmenwechsel. Im Geltungsbereich der Tora ist Gerechtigkeit ebenso wenig zu erlangen, wie die Zugehörigkeit zum erwählten Volk heilsrelevante Bedeutung hat. Statt dem Beispiel Christi zu folgen, der auf seinen gottgleichen Status verzichtete, sich erniedrigte und den Kreuzestod starb, suchen die Judaisten »to enhance their own status, by their jewish privileges« (133). Aus paulinischer Sicht setzten sie ihr »Vertrauen auf das Fleisch« (V. 4) und erweisen sich damit »as false worshipers of God« (135).
Die Ausführungen in Röm 9–11 erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich. Zunächst bekräftigt Paulus die Vorzüge Israels (9,4 f.), um sie anschließend zu dekonstruieren (9,6–29). Kritisiert wird jedoch nicht ein hy­pertrophes Erwählungsbewusstsein, sondern das Bestreben, die Gerechtigkeit an Christus vorbei dort zu suchen, wo sie nicht zu finden ist: im Gesetz (9,30–10,21). Das aus dem unvermittelten Nebeneinander beider Aussagen resultierende Spannungsmoment wird in Kapitel 11 gelöst. Gott vollzieht das Gericht über Israel, verwirft es aber nicht endgültig. Er rettet sein Volk durch das Gericht hindurch (11,25–32). Dessen »kreative Funktion« besteht paradoxerweise darin, »[to] validate the election of Israel« (168). Obwohl die Konstellation in Röm 9–11 eine andere ist als im 2Kor und Phil, verfolgt Paulus jeweils das gleiche Ziel. Hier wie dort wehrt er dem Missverständnis, »that election can ... be identified with anything visible and palpable« (196). In christologischer Perspektive erschließt sich ihm, was bereits im Alten Testament vorgebildet ist: »God’s choice embraces the opposite and manifests a reversal of values« (168). Auch der Kol, Eph, 2Thess und die Past spiegeln diese Überzeugung wider, gleichviel, ob sie von Paulus stammen oder nicht.
Im vorletzten Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung – vgl. 33 f.75 f.109.134 f.168.193 f. – noch einmal konzentriert gebündelt (»Conclusion« [195–197]) und anschließend in das Gespräch mit der New Perspective on Paul, dem eigentlichen Dialogpartner von G., eingebracht (198–200).
Mit seiner gedanklich klar strukturierten Studie positioniert sich G. innerhalb des Spektrums der Paulusforschung als ein Vertreter des reformatorisch geprägten Interpretationsansatzes, ohne ihn jedoch zu verabsolutieren. Die von Seiten der »neuen Paulus­perspektive« erhobenen Einwände werden ernst genommen und im Kontext der eigenen Argumentation immer wieder auf ihre Validität geprüft (51.70 f.133.156–158 [implizit] u. ö.). Bisweilen entsteht freilich der Eindruck, als würden die analysierten Texte selbst dann erwählungstheologisch aufgeladen, wenn eindeutige Indizien fehlen. Erlaubt z. B. 2Kor 11,12 wirklich den Schluss, die als »Falschapostel« Titulierten hätten auf ihre Erwählung gepocht und sie in die Waagschale geworfen, um sich gegen Paulus zu profilieren? Dass er wie sie ein geborener Jude war, darf man als in der korinthischen Gemeinde bekannt voraussetzen. Auch sollte zu denken geben, dass weder in 2Kor 10–13 noch in Phil 3,1–11 von »Erwählung« expressis verbis die Rede ist, obwohl ihr divergentes Verständnis, folgt man G., doch zum Streitfall geworden ist. Ferner halte ich es für problematisch, beim gegenwärtigen Stand der exegetischen Diskussion ohne Weiteres von der literarischen Integrität des 2Kor und Phil auszugehen. Angesichts der zu beobachtenden Inkohäsionen (semantische, sprachliche, thematische, situative) die Plausibilität der eigenen Thesen von der unterstellten Ko­härenz beider Textkomplexe abhängig zu machen, erscheint methodisch zweifelhaft und belastet den Gesamtertrag mit einer schwer kalkulierbaren Hypothek.
Dennoch, das Buch bereichert die kontrovers geführte Debatte um den Ansatz der paulinischen Soteriologie. Es mahnt zur Vorsicht, in Bezug auf Paulus mit den von Sanders etablierten Kate­gorien des »getting in« und »staying in« zu operieren und das Stichwort »Erwählung« unbesehen dem »Hineinkommen« zuzuordnen. Zumindest an diesem Punkt hat G. gezeigt, dass die Frage nach der differentia specifica in Paulus’ theologischem Denken keineswegs überflüssig, sondern sinnvoll und nötig ist – gerade auch im Blick auf den Erwählungsgedanken und seine Rezeption im frühen Judentum. Dafür ist ihm zu danken.